Jenseits von Ost und West
Text 1: Witold Kula: Uwagi o przewrocie przemysłowym w krajach Europy Wschodniej
[Anmerkungen zur industriellen Revolution in den Ländern Osteuropas], in: Ders.: Historia, zacofanie rozwój [Geschichte-Rückständigkeit-Entwicklung], Warszawa 1983, in Auszügen, hier S. 64-75.
Text 2: Witold Kula: Historia wobec wielości cywilizacyjnej
[Die Geschichte angesichts der zivilisatorischen Vielfalt], in: Ders.: Problemy i metody historii gospodarczej [Probleme und Methoden der Wirtschaftsgeschichte], Warszawa 21983, S. 685-696.
Die seit Jahrhunderten praktizierte Vorherrschaft des westeuropäischen Diskurses in der Interpretation der gesamteuropäischen Geschichte ist eine Tatsache, die den Zusammenbruch des Ostblocks unerschüttert überlebt hat. Modernität wird dabei vorwiegend als Produkt der Diffusion westlicher Ideen und Institutionen begriffen und dargestellt. Dieses essentialistische Denkmodell prägt bis heute die Wahrnehmung Osteuropas in Deutschland. Zum 100. Geburtstag des polnischen Wirtschaftshistorikers Wiltold Kula soll an sein historisches Konzept erinnert werden, das gerade jenen singulär begriffenen Modernisierungsprozess kritisiert und den dezentralen Charakter der europäischen Verflechtungen hervorhebt.
Wir bedanken uns für die freundliche Abdruckgenehmigung der Beiträge bei Marcin Kula, Warschau.
Einleitende Bemerkungen
Witold Kula (1916–1988) zählt zu den theoretisch innovativsten und vielseitigsten Wirtschaftshistorikern Europas. Grund genug, um zu seinem 100. Geburtstag kurze Auszüge aus seinen zwei Werken zu veröffentlichen. Während in der italienischen und französischen Historiografie Kulas Forschung weitgehend rezipiert wurde, blieb (und bleibt) er in Deutschland ein „Geheimtipp“ für wenige Spezialisten. In deutscher Übersetzung ist bislang nur ein einziger Aufsatz von ihm erschienen. Hier wird einmal mehr ein fundamentales Problem deutlich: Die Wahrnehmung der osteuropäischen Ansätze in der deutschen Geschichtsschreibung ist eine Seltenheit oder immer noch der Osteuropaforschung allein überlassen. Diese anhaltende Marginalisierung der osteuropäischen – oder wie im Fall von Kula polnischen – Historiografie wird gerne auf die Irrelevanz Ost- bzw. Ostmitteluropas für den europäischen Modernisierungsverlauf zurückgeführt. Dabei bietet die vorherrschende Annahme, dass Osteuropa lediglich ein Empfänger der Errungenschaften der westeuropäischen Zivilisation sei, genug Anlass, um den längst überfälligen Paradigmenwechsel in der Darstellung der gesamteuropäischen Geschichte anzuregen.
Darauf, wie eine solche, vom Essentialismus des westlichen Diskurses, befreite (Wirtschafts-)Geschichte aussehen kann, hat Witold Kula bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts am Beispiel des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Polen aufgezeigt. Seit dem 18. Jahrhundert fand nach Kula eine starke Kumulation der jahrhundertelang andauernden Veränderungen statt, die unbedeutend erschienen, solange das feudale System intakt funktionierte, die aber in der Zeit seiner Transformation in den Kapitalismus eine entscheidende Rolle spielten. Es geht dabei u.a. um fortschreitende Industrialisierung, Senkung der Zinsen bei der Geldanleihe, Anstieg der Bevölkerungsmobilität oder die Bemühung der handeltreibenden Bauer um die Verbindung mit dem inneren Markt. Der Übergang von der feudalistischen in die kapitalistische Bewegungsweise der gesellschaftlichen Struktur im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts, der die historischen Entwicklungstheorien bis heute prägt, verläuft für Kula allerdings nicht fließend. „Ohne Zweifel“, konstatiert er, „verändern sich manche Elemente schnell oder sehr schnell, während die anderen als langsam, sehr langsam oder sogar als unveränderlich betrachtet werden können.“
Die Betonung der Ungleichzeitigkeit der Veränderung hängt mit Kulas These von den unterschiedlichen Adaptionsmöglichkeiten der jeweiligen Systeme an neue Bedingungen zusammen. Diese wiederum zeugen von der „Elastizität“ des feudalen Systems, die es ihm trotz der vollzogenen Veränderungen erlaubt, seinen Charakter zu bewahren. Dabei unterteilt Kula die Adaptionsprozesse, denen das feudale System unterliegt, in abwendbare und unabwendbare Veränderungen. Letztere haben für ihn auch eine kumulative Prägung, wodurch sie den Übergang einer Struktur in die andere herbeiführen oder die Elastizitätsgrenze des feudalen Systems sprengen, um sie dann durch eine neue zu ersetzen. Mit anderen Worten: In der langfristigen Dynamik unterscheidet Kula zwischen „anhaltenden und wiederholbaren Erscheinungen, die durch ihre Kumulation zu strukturellen Umformungen“ seit Mitte des 18. Jahrhunderts führten. Demnach ist der Kapitalismus in Europa nicht aus der feudalen Wirtschaft hervorgegangen oder infolge allmählich vollzogener innerer Veränderungen zur Hegemonie gelangt, sondern er hat sich über ihr als ein autonomes System aufgebaut. „Feudalismus ging mit dem Kapitalismus schwanger“, schreibt Kula an einer Stelle. England ausgenommen folgte für ihn die Industrialisierung Europas aus dem „Druck“ des bereits existierenden Kapitalismus. Das ist ein zentraler Gedanke für Kulas Entwicklungsthese. Seiner Ansicht nach verläuft der historische Modernisierungsprozess zweigleisig: Er entwickelt sich in eine bestimmte Richtung und in mehreren Richtungen gleichzeitig. Diesen Erklärungsversuch nennt er „dialektische Theorie der Einheitlichkeit und der Vielfalt für den Zeitablauf und den Wandel“. Aus diesem Grund schlägt Kula auch vor, von einer Mehrgleisigkeit der Modernisierung auszugehen und ihre Dynamik als eine breite Einheit vergleichbarer Veränderungen zu betrachten. Damit wendet er seine Argumentation explizit gegen evolutionistische Modelle, die mit einem nicht-linearen Entwicklungsverlauf rechnen und stets eine Grenze zwischen Fortschritt und Rückständigkeit konstruieren.
Der dominierende historische Diskurs mit seinem stets gepflegten Gegensatz: Osten gleich Rückständigkeit bzw. Westen gleich Fortschritt hat eine längere Tradition und reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück. In der Zeit der Aufklärung setzte sich seine Hegemonie endgültig durch: Das aufklärerische Modell erklärte die Vergangenheit und Gegenwart des Westens zur Zukunft des Ostens. Die Denkfigur des „Fortschritts“ etablierte eine Werteskala, die bis heute die westeuropäische Wahrnehmung Osteuropas prägt und eine Peripheriesierung und damit zusammenhängende Homogenisierung dieser Region impliziert. Kulas Modernitätsverständnis stellt die Rückständigkeit Osteuropas – insbesondere Polen-Litauens, allerdings nicht in Frage. Er weist aber darauf hin, dass dieser wirtschaftliche Rückstand einen Eigencharakter besaß und dass die Versuche seiner Überwindung ebenfalls – je nach Region und Verwaltung – ganz unterschiedliche Formen angenommen haben. Damit entkommt Kula der gängigen Praxis, Modernisierungsgeschichten in Europa an dem westlichen Idealtypus von Fortschritt zu messen und zeigt auf, wie die universellen Herausforderungen der Moderne auf je unterschiedlichen Wegen bewältigt wurden. Die Moderne wird in seinem Sinne als eine globale Arena verstanden, in der ständig Bezug aufeinander genommen wird und die nicht automatisch zu konvergenten Entwicklungen und Ergebnissen führt.
Nur zur Erinnerung: Diesen Ruf nach einer vergleichenden Globalgeschichte formulierte Kula bereits Ende der 1950er Jahre, lange vor Jürgen Osterhammels bahnbrechenden Beiträgen zur Weltgeschichte. Die These, wonach in der entstehenden Weltwirtschaft des 17. und frühen 18. Jahrhunderts gleich mehrere Handelskapitalismen in verschiedenen Teilen der Welt gleichzeitig entstanden seien, durchzieht alle wirtschaftswissenschaftlichen Analysen von Kula: Der Kapitalismus habe von Anfang an als Weltökonomie funktioniert – und die Globalisierung sei also ein seit Jahrhunderten anhaltender Prozess. Kulas Entwicklungstheorie der Einheitlichkeit und der Vielfalt setzt die globale Vernetzung von Handel, Politik und Kulturen bei gleichzeitiger Fragmentierung voraus.
Eine adäquate Rezeption von Kulas Ansatz könnte nicht nur die eine oder andere Auseinandersetzung über die Universalgeschichte bereichern, sondern auch an seinen grundlegenden und leider weitgehend ignorierten Beitrag zu postkolonialen Globalisierungstheorien erinnern. Hätten die Vertreter/innen und Anhänger/innen der „multiplen Modernen“ Kulas Grundthesen wahrgenommen, müssten sie neben der Freude am Wiedererkennen seine berechtigte Kritik an der Pluralisierung der Entwicklungslinie der Moderne akzeptieren. Denn im Gegensatz zu den postcolonial studies macht Kula deutlich, dass die als rückständig betrachteten Länder zu keinem Zeitpunkt singuläre und von den westlichen Modellen klar abgegrenzte Modernitäten entwickelt haben. Am Beispiel von globalen Beziehungen kann er institutionelle Gemeinsamkeiten quer zu Zivilisationsgrenzen feststellen und aufzeigen, dass Modernisierung und Kapitalisierung ein Vorgang zwischen mehreren Ländern und Regionen ist, in dem es Vorreiter und Nachzügler gibt. Folgerichtig spricht er von einer „Vielfalt“ der Moderne und geht gleichzeitig von einer gemeinsamen Weltgeschichte aus.
Es ist nicht zu übersehen, dass Kula für seine „dialektische Theorie der Einheitlichkeit und der Vielfalt“ – und zwar nicht nur formell – die fortschrittlichen Grundsätze der marxistischen Methodologie annimmt und dabei auf dem Standpunkt der marxistischen Periodisierung steht, die auf der Entwicklung der sozialökonomischen Formationen beruht. Gleichzeitig aber ist er bemüht – und auch das macht sein Werk bis heute aktuell –, auf die Gefahren einer Totalitätserfassung hinzuweisen. In seinen theoretischen Überlegungen zum Verlauf des historischen Prozesses nimmt die Kritik an teleologischen Geschichtskonzepten viel Raum an. Diese kritische Auseinandersetzung steht allerdings in keinem Widerspruch zu Kulas Überzeugung von einem richtungsorientierten Verlauf des historischen Prozesses. Er spricht von der „gerichteten Entwicklung ohne teleologische Vision eines irdischen Paradieses“. Eine solche Behauptung aus dem Mund eines in dem kommunistischen System lebenden Professors war keine Selbstverständlichkeit.
Kula war sicherlich kein oppositioneller Denker, seine theoretischen und empirischen Untersuchungen bewegten sich in dem politisch vorgegebenen Rahmen. Als jahrelanger Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Warschau und Mitglied mehrerer, auch internationaler, Wissenschaftsorganisationen musste er Kompromisse mit der kommunistischen Regierung eingehen. Seine Ansichten waren allerdings nicht immer systemkonform. Von den Verfolgungen und Repressionen der 1960er Jahre, die sich gegen die reformorientierten (und jüdischen) Intellektuellen richteten, waren auch Kula und seine Frau (Nina Assorodobraj) stark betroffen. Der kurze Hinweis auf Kulas differente und differenzierende Haltung gegenüber dem herrschenden System ist an dieser Stelle notwendig, um aufzuzeigen, wie reduktionistisch die westeuropäische (deutsche) Geschichtsschreibung argumentiert, wenn sie alle geschichtsmethodologischen Ansätze aus den Ostblockländern kurzerhand als ideologisiert und dadurch veraltet einstuft.
Auch dem glänzenden polemischen Stil Kulas konnte die heutige, für Philosophie und Literatur unempfängliche Geschichtsschreibung viel abgewinnen. Er schreibt in gewandtem Stil und beweist eine hervorragende Gelehrsamkeit. Kulas schriftstellerisches Können, auch wenn es leicht zu Anachronismen neigt, knüpft an die besten Stilisten der europäischen Geschichtsschreibung wie Theodor Mommsen oder Marc Bloch an.
An Kulas Werk wird deutlich, wie theoriegeschichtlich innovativ und methodisch reflektiert die osteuropäische Historiografie zum Teil sein konnte. Um es noch einmal zu wiederholen: Die Wahrnehmung von Kulas Forschung hätte die aktuellen Debatten über die historische Darstellung der Differenz nicht nur erweitert, sondern so manchen Irrweg in der postkolonialen und postmodernen Methodologie erspart. Vor allem aber hätte sie helfen können, die überkommene Blockrhetorik zu schwächen und den Osteuropabegriff als ein plurales historisches Phänomen zu denken, das seine Bestimmungen nicht alleine aus dem Gegensatz zu Westeuropa herleitet.
Kulas „dialektische Theorie der Einheitlichkeit und der Vielfalt“ bietet die Chance, die Einheit unterschiedlicher Erscheinungen in einem einzigen Bezugsrahmen zu postulieren und gleichzeitig eine Dezentralisierung der westlichen Perspektive herbeizuführen.
Text 1:
Anmerkungen zur industriellen Revolution
in den Ländern Osteuropas
In einem seiner Aufsätze über die industrielle Revolution hat Jürgen Kuczynski als erster die Frage nach der Spezifik des industriellen Umbruchs in den Ländern des so genannten preußischen Weges der Kapitalismusentwicklung in der Landwirtschaft aufgeworfen. Daran anknüpfend möchte ich in diesem Beitrag Überlegungen anstellen, worauf diese Spezifik beruht und dabei ihre Hauptbestandteile aufzählen.
Alle hier formulierten Thesen haben Diskussionscharakter, einige sind auf Grund des engen Rahmens eines polemischen Artikels ohne Belege formuliert. Ziel ist es, die Aufmerksamkeit der Forschung auf eine nach meiner Meinung wichtige Gesetzmäßigkeit zu lenken. Wenn ich dieses Ziel erreiche, werde ich zufrieden sein, unabhängig davon, ob die Thesen verifiziert oder falsifiziert werden. Operieren werde ich im Prinzip mit Material aus der Geschichte Polens. Aufgabe der Diskussion wird es sein, zu zeigen, welche der hier aufgezählten Elemente, die auch in anderen Ländern vorhanden sind, als typisch für ganz Osteuropa bzw. eine Gruppe von Ländern aus dieser Region anzusehen sind, und welche eine speziell polnische Spezifik aufweisen.
Die Länder Osteuropas kennzeichnet, wie bekannt, die lange Dauer der Gutswirtschaft, also eine von Großgrundbesitzern betriebene Produktionstätigkeit in großem Maßstab. Die Massenproduktion, die typisch ist für die Gutsherrschaft, stand im Grunde genommen im Widerspruch zum klassischen Typ der feudalen Produktionsorganisation. Sie wurde so lange nicht zerschlagen, solange sie entweder gar keinen ernsthaften Warencharakter hatte (die These von Baranowicz für den Großgrundbesitz im ukrainischen Wolhynien), oder aber ihren Warencharakter auf Kontakte mit dem Exportmarkt beschränkte (charakteristisch für den Großgrundbesitz im Weichselgebiet). Die Konzentration eines enormen Teils der Verarbeitungskapazitäten in den Händen der Großgrundbesitzer ist meiner Auffassung nach der erste Faktor von enormer Tragweite, der den Geburtsverlauf des Kapitalismus und damit den Verlauf des industriellen Umbruchs in Osteuropa determinierte.
Der zweite Faktor ist meiner Meinung nach die frühere Entwicklung des Kapitalismus, besonders der kapitalistischen Industrie, in anderen Ländern, in Sonderheit in Westeuropa. Man muss nicht nachweisen, dass der Kapitalismus seiner Natur nach ein expansives System darstellt. Daher musste er sich anders entwickeln im ersten kapitalistischen Land der Welt, anders in den Ländern, die diesem Land in der Entwicklung unmittelbar folgten und wieder anders in den Ländern, in denen die Entwicklung des Kapitalismus stattfand, als es bereits eine große Anzahl von industrialisierten Staaten gab, die, gestützt auf ihre höhere technische Entwicklung und gesellschaftliche Organisation der Produktion immer neue Absatzmärkte suchten.
[...]
Die oft präsentierte Erklärung für die Rückständigkeit der gesellschaftlich-ökonomischen Strukturen des kapitalistischen Polen mit der Tatsache, dass es dort keine radikale bürgerliche Revolution gab, ist meiner Meinung nach nicht ausreichend. Eine radikale bürgerliche Revolution war gar nicht denkbar unter Bedingungen, in denen die Bourgeoisie niemals in einem antagonistischen Konflikt mit der Feudalklasse, also dem Adel, gestanden hat, sondern im Gegenteil in grundsätzlichen Fragen ein Interesse an der Zusammenarbeit mit der Klasse der Großgrundbesitzer hatte.
Ein charakteristisches Merkmal der Industrialisierung in Osteuropa ist der Import von höherer Technik. Dieser Import tritt in Polen deutlich früher auf als der Import von fremdem Kapital. Die Tatsache des Imports von höherer Technik hat erhebliche Konsequenzen, denn er zieht eine enorme Ausdehnung der Ungleichzeitigkeit in der wirtschaftlichen Entwicklung nach sich.
Im klassischen Verlauf der industriellen Revolution (England) stellt der ökonomische und technische Umbruch eine innere Einheit dar. Auch wenn er natürlich nicht in allen Bereichen der Produktion gleichzeitig stattfindet, so greift doch ein Zahnrad ins andere usw. In sich später entwickelnden Ländern sind diese Verbindungen ernsthaft geschwächt oder gestört. Ein Produktionszweig kann für seine Zeit die modernste Ausrüstung bekommen, während andere noch nach archaischen Methoden arbeiten. Dies lässt sich sogar für einzelne Etappen eines Produktionsprozesses zeigen. Da die ökonomischen Abhängigkeiten jedoch weiterhin funktionieren, kommt es dadurch zu zahlreichen Fehlentwicklungen, Insolvenzen etc. und damit zu relativ hohen gesellschaftlichen Kosten der Industrialisierung.
[...]
Die Formen der Abhängigkeit des Kleingewerbes vom Großkapital sind sehr vielfältig – das Kleingewerbe selbst hat sich jedoch in der Phase der industriellen Revolution und sogar noch danach quantitativ entwickelt (z.B. Tuchweberei, Schuhmacherhandwerk, Schmiedehandwerk, besonders auf dem Lande).
Neben den Bereichen, die eine Domäne des Handwerks blieben, behielten im kapitalistischen Polen nach der industriellen Revolution auch Manufakturbetriebe ihre Daseinsberechtigung. Dazu gehörten: Hammerwerke mit Wasserantrieb, Hochöfen auf Holzkohlebasis, die mit dem Großgrundbesitz verbunden sind etc. Die Betriebe zeigten im Verlauf der kapitalistischen Epoche keine Tendenz zum Verschwinden, was hier nachdrücklich unterstrichen werden soll.
Wenn der ökonomische Motor des unternehmerischen Strebens die Einsparung von menschlicher Arbeitskraft durch zunehmende Mechanisierung war, dann lohnte sich dies in den Ländern Osteuropas, wo der Großgrundbesitz dominierte und Arbeitskräfte billig zu haben waren nur in einigen Industriezweigen oder Etappen des Produktionsprozesses, nicht aber in den überbevölkerten Landregionen, die vor allem als Arbeitskräftehinterland der großen kapitalistischen Mächte dienten. An erster Stelle standen hier diejenigen Bereiche, die bei generell kleiner Produktion nicht in der Lage waren, Produkte entsprechender Qualität zu produzieren. Daher rührte das Verschwinden solcher Bereiche wie z.B. der handwerklichen Seifenproduktion. Die Mechanisierung von qualifizierten und unqualifizierten Arbeiten gestaltete sich in Osteuropa etwas anders als im Westen. Die Billigkeit der unqualifizierten Arbeitskraft im Osten führte dazu, dass unqualifizierte Arbeitsplätze nur sehr langsam mechanisiert wurden. Bei der geringen Ausprägung des Binnenmarktes lag das Primat der Mechanisierung häufig auf den Produktionszweigen, die für den Export produzierten.
Im Ergebnis erhielten wir deshalb einen lang andauernden Zustand, der sich in Polen bis zum Ende der kapitalistischen Epoche und darüber hinaus erstreckte, d.h. in der Volkswirtschaft bestanden industrialisierte Branchen neben nichtindustrialisierten, ja es gab sogar innerhalb einzelner Branchen mechanisierte Produktionsetappen neben nichtmechanisierten.
[...]
Klar ist hingegen, dass diese beiden Phänomene – das Vorherrschen einer automatisierten Produktion auf dem Markt und die Produktion von Maschinen durch Maschinen als Indikatoren der vollendeten industriellen Revolution – sich in einem Land, in dem der Bereich der Kleingewerbeproduktion noch sehr stark ist, archaische Produktionstechnik noch massenhaft vorhanden ist und lokale Märkte für eine Reihe von Produkten noch nicht zerschlagen wurden etc.
Ein derartiger Zustand ist in den rückständigen Ländern die Regel – je stärker die Rückständigkeit, desto verbreiteter sind diese Phänomene einer relativen ökonomischen Zurückgebliebenheit, die dadurch weiter anhält.
Wir haben es also einerseits zu tun mit einer Symbiose von mechanisierten und nichtmechanisierten Produktionszweigen und -etappen und andererseits mit einer analogen Symbiose im gesellschaftlich-ökonomischen Bereich der Produktionsorganisation, konkret mit einer Symbiose von Großindustrie und Kleingewerbe. Diese Phänomene lassen sich nicht nur durch „Verspätung“ erklären, denn sie erweisen sich als dauerhaft. Sie dauerten an bis zum Ende des Kapitalismus und nichts deutet darauf hin, dass eine Fortdauer des Kapitalismus diesen Zustand beendet hätte. Die Ursachen dafür liegen tiefer und das Ergebnis dieses Zustands ist eine dauerhafte Andersartigkeit der wirtschaftlichen Struktur der rückständigen kapitalistischen Länder im Verhältnis zu den entwickelten. Diese Andersartigkeit lässt sich nicht auf eine einfache zeitliche Zurückgebliebenheit reduzieren. Mit anderen Worten: die Behauptung, dass die wirtschaftliche Struktur Polens zu einem beliebigen Zeitpunkt der kapitalistischen Epoche ihre Entsprechung in der wirtschaftlichen Struktur Englands zu einem entsprechend früheren Zeitpunkt findet, erscheint wenig zweckmäßig.
Bedeutet dies, dass in Osteuropa, konkret im kapitalistischen Polen, der Konzentrationsmechanismus und die damit verbundene Polarisierung außer Kraft gesetzt waren? Er funktionierte natürlich, sehr brutal sogar, aber eben anders. Tatsächlich hat eine Abhängigkeit des Kleingewerbetreibenden auf dem Lande oder im Handwerk vom großen Kapital stattgefunden. Formal blieb das Kleingewerbe jedoch erhalten. Für das Großkapital war dies oft einfach bequem. Die Dauerhaftigkeit der engen lokalen Märkte und der große Bereich der Naturalienwirtschaft in bäuerlichen Kleinwirtschaften – das alles wirkte in die gleiche Richtung.
Die These, dass die industrielle Revolution in jedem Land des Westens und des Ostens erst dann beendet ist, wenn die Manufakturproduktion in der Industrie verschwindet, ist meiner Meinung nach falsch. Die industrielle Revolution in den rückständigen kapitalistischen Ländern beherrschte dort nur einige Bereiche und Produktionsetappen und bildete so bis zum Ende der kapitalistischen Epoche eine dauerhafte Wirtschaftsstruktur, in der die handwerkliche Produktion eine anhaltend wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung spielte.
Eben darin drückt sich die wirtschaftliche Stagnation aus, die die polnische Ökonomie gekennzeichnet hat, und nicht nur diese – bis zum letzten Augenblick des Kapitalismus. Nichts deutet darauf hin, dass eine Fortdauer des Kapitalismus es Polen erlaubt hätte, sich von dieser Stagnation zu befreien […].
1958
Aus dem Polnischen übersetzt von Matthias Barelkowski, Berlin
Text 2:
Die Geschichte angesichts der zivilisatorischen Vielfalt
Die Römer haben die Menschheit in „Römer“ und „Barbaren“ unterteilt. Die Menschen der westeuropäischen Zivilisation haben bei der Eroberung der Welt jenseits der Meere die Begriffe „Einheimische“ oder „Autochthone“ geschaffen, die, folgt man Arnold J. Toynbee, scheinbar als Teil der lokalen Flora und Fauna angesehen wurden. Ich weiß nicht, ob es zutrifft, dass das polnische Wort „Niemiec [Deutscher]“ sich von „niemowy [der Stumme]“ herleitet. Auf jeden Fall spricht eine solche etymologische Erklärung, auch wenn sie falsch ist, schon wegen ihrer langen Tradition für sich und die sie schaffende gesellschaftliche Grundlage. Bekannt sind Witze über die englischen Wettervorhersagen, die im Falle von Nebel oder Gewittern über dem Meer davon sprechen, dass der Kontinent über so und so viel Stunden von Großbritannien abgeschnitten war. Ich selbst habe einen englischen Reiseatlas für Frankreich in der Hand gehalten, auf dessen erster Seite in Großbuchstaben der Hinweis ins Auge stach: „Achtung! Bitte daran denken, dass man auf dem Kontinent nicht richtig fährt, d.h. auf der rechten Seite.“
Man hat gut lachen über diese Beispiele und kann leicht deren Grundlagen verurteilen. Deutlich schwieriger ist es schon, in sich selbst analoge Einstellungen zu bekämpfen.
Über Jahrtausende lebte die Menschheit in der Überzeugung, dass es irgendwo einen konkreten Anfang der Gattung Mensch gegeben habe, von dem aus eine bestimmte Richtung der Zivilisationsentwicklung ihren Ausgang nahm. Auf diesem Weg sind einige Völker weit gekommen, haben große Städte gebaut, wundervolle Gotteshäuser errichtet, materiellen Wohlstand und großartige Kunstwerke geschaffen, während sich die anderen kaum oder gar nicht entwickelt haben, weshalb sie zu verdammen sind. Ist das eine naive Sichtweise? Natürlich, und dennoch haben wir das im Studium genau so gelernt von Tadeusz Zieliński, der sich selbst für einen großen Humanisten hält und auch von anderen nicht ohne Grund dafür gehalten wird. Sein Märchen von den zwei Engeln, Orient und Okzident, das als Illustration für seine Theorie vom schlummernden unbeweglichen Osten dient, kann man in seinen Vorlesungen Świat antyczny a my [Die antike Welt und wir; M. B.] nachlesen.
Die globale Behandlung aller „Anderen“ und die pejorative Bewertung dieser „Andersartigkeit“ hat eine jahrhundert- und jahrtausende alte Tradition, die erhabene gesellschaftliche Funktionen erfüllen sollte, nämlich die Gesellschaft zu integrieren, sie herauszuheben und durch diese Heraushebung und Gegenüberstellung zu ihrer Selbsterkenntnis beizutragen. Die Novelle von Thomas Mann über Moses (Das Gesetz) gibt bei aller unhistorischen Intellektualisierung dieses Prozesses dennoch ausgezeichnet das Wesen dieses Vorgangs wider. Es verwundert daher nicht, dass ein Infragestellen dieser Art des Denkens kein geringes Risiko bedeutete. Der römische Senat hat mit seinem Beschluss, Karneades des Landes zu verweisen, weil er in seinen öffentlichen Vorlesungen von den Bräuchen anderer Völker gesprochen hatte, seine große soziologische Klugheit bewiesen.
Interessant wäre daher eine Untersuchung darüber, wie langsam sich in der Geschichte die Überzeugung von der Gleichberechtigung vielfältiger Kulturen Bahn gebrochen hat. Montaigne wurde immerhin nicht mehr des Landes verwiesen für seine These: „In nichts geben uns die Barbaren mehr Anlaß zur Verwunderung als wir ihnen.“ Es wäre jedoch ein Fehler, darin einen graduellen Fortschritt zu sehen. Tacitus, aus dessen Germania man die gleiche, wenn auch nicht so pointiert formulierte Einstellung heraus lesen kann, hat dafür weder mit dem Kopf noch mit Verbannung bezahlt. Die neueste Geschichte der Menschheit bietet hingegen mehr als genug Bespiele dafür, dass man für die Verkündung der These von der Gleichberechtigung unterschiedlicher Zivilisationen nicht so glimpflich davon kommt wie Karneades.
Vielleicht sollte man statt eines schrittweisen Fortschritts darin eher zwei gesellschaftliche Einstellungen sehen? Zwei Einstellungen, von denen je nach gesellschaftlicher Lage die eine oder die andere die Oberhand gewinnt? Einmal die innere Integration und das Abheben von der Außenwelt, ein anderes Mal die Koexistenz? Einmal die Selbstvergewisserung der eigenen Existenz, ein anderes Mal die Stärkung des Sicherheitsgefühls durch Nebeneinanderbestehen?
„Die Geschichte rechtfertigt, was immer man will. Sie lehrt schlechterdings nichts, denn es gibt nichts, was sich mit ihr nicht belegen ließe“ – schrieb Paul Valéry.
In der Tat. Nur, dass sie im Verlauf der letzten 150 Jahre eher Bestrebungen nach Absonderung diente und nicht Bestrebungen nach Koexistenz. Das ist nicht verwunderlich. Der Prozess der Herausbildung moderner Völker und der Prozess der Bewusstmachung der eigenen Besonderheit, den die neuen gesellschaftlichen Klassen durchlaufen mussten, hat der Geschichtswissenschaft vor allem diese Funktion abverlangt.
Zu fragen bleibt, welches Aussehen dieser Prozess heute hat, in einer Welt, die schließlich noch weit entfernt ist von der Beendigung dieser Bewusstmachungsprozesse und in der sich noch moderne Staaten herausbilden, in denen hunderte Millionen Menschen leben, deren Existenzbedingung jedoch heute gleichzeitig die Koexistenz sein muss.
Verbunden ist dies alles mit der Frage nach einer ein- oder mehrgleisigen Zivilisationsentwicklung – ein fundamentales Problem und die dazu eingenommene Haltung bestimmt alles bis hin zur Auswahl der Forschungsmethoden.
Der Streit ist alt und wohl bekannt. Smith wird die Aussage zugeschrieben: „Little else is requisite to carry a state to the highest degree of opulence from the lowest barbarism, but peace, easy taxes, and a tolerable administration of justice. All the rest being brought about by the natural course of things.“ Damit hat er sich auf die Seite der Befürworter einer eingleisigen Entwicklung gestellt, wie es nach ihm Marx auf ähnliche Weise in seiner Vorrede zur ersten Auflage von Das Kapital getan hat, in der er seine Konzentration auf England erklärte: „Das industriell entwickelte Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft.“
Der Standpunkt einer mehrgleisigen Entwicklung wurde von Oswald Spengler entwickelt und zuletzt von Toynbee vertreten. Wichtiger ist jedoch, dass er in der modernen Ethnologie bedeutenden Einfluss erlangt hat. Dies ist verständlich, denn die Sentenz Montaignes aus dem 16. Jahrhundert blieb den europäischen Beobachtern der primitiven Gesellschaften lange fremd. Eine sich fortschrittlich gebende Wissenschaft musste also dagegen rebellieren. In der Schule Émile Durkheims war es verpflichtend, vor dem Wort „Wilder“ ein „sogenannt“ einzufügen, was auch Czarnowski beachtet hat. Malinowski erklärte, er kenne nur einen Beweis der Überlegenheit westlicher Zivilisation – Kanonen. Heute formuliert Claude Lévi-Strauss den Gedanken Montaignes noch schärfer, wenn er schreibt: „Denn ein Barbar ist ja vor allem derjenige, der an die Barbarei glaubt.“
Auf diese Art vollzieht sich in der Geschichte der Gesellschaftswissenschaften ein fundamentaler Umbruch: die alte Unterteilung in „Römer“ und „Barbaren“ oder „wir“ und die „Andersartigen“ lebt wieder auf, nur das ehemals vor Ersterem ein positives Vorzeichen, vor Letzterem ein negatives stand, während gegenwärtig vor beiden Begriffen ein positives oder gar kein Vorzeichen steht. Zudem wurde mit „Barbaren“ jegliche Andersartigkeit in einen Topf geworfen, während jetzt diese Andersartigkeit unterschieden wird. Die Gleichberechtigung der Verschiedenheit.
Stark vereinfachend könnte man sagen, dass diese Haltung früher „nationalistischen“ Charakter hatte, wobei nicht immer das Volk im Fokus stand und selbst wenn es so war, dann darf man dieses Phänomen nicht immer mit einem pejorativen Ausdruck versehen, wie dies heute für gewöhnlich geschieht. Gegenwärtig hat diese Haltung, wenigstens oberflächlich betrachtet, einen extrem internationalistischen Charakter.
Lévi-Strauss steht nicht als Einziger auf dem Standpunkt, dass jede Kultur eine andere Wertehierarchie hat, unterschiedliche Werte perfektioniert, wodurch sich andersartige Proportionen oder „Optionen“ herausbilden, die dem eigenen, letztlich zufälligen, Wertekanon scharf gegenübergestellt werden und nach dessen Errungenschaften bewertet werden. „Rückständige Länder?“ – vielleicht halten wir diese nur für solche, weil wir in einem Bereich, in dem diese Länder wiederum führend sind, selbst rückständig sind und deshalb gar nicht in der Lage sind, deren Errungenschaften zu verstehen.
Es lässt sich schwer widersprechen, wenn man dies eine schöne internationalistische, tief menschliche Haltung nennt.
Gleichzeitig sticht jedoch ein Paradox ins Auge: In dem Augenblick, in dem die Welt zum Schauplatz eines in diesem Ausmaß und Tempo unbekannten zivilisatorischen Uniformierungsprozesses geworden ist, in dem Stahl von Anschan bis Pittsburgh nach den gleichen modernsten Methoden produziert wird, die gleichen „Musikboxen“ von Magdeburg bis Tokio dieselben Melodien spielen, einem Augenblick, in dem in allen Ländern der Welt am selben Tag die Nachricht von der Reise Chruschtschows in die USA zu lesen ist oder über die Eisenbahnkatastrophe von Frejus (und das mit annähernd gleichen Gefühlen), gerade in diesem Augenblick der Uniformierung wird die Theorie von der „mehrgleisigen“ Entwicklung der Kulturen derartig massiv wissenschaftlich aufbereitet und erfährt eine starke Verbreitung in der öffentlichen Meinung der reichen Länder des Westens. Fast hat es den Anschein, als ob der alte unerschütterliche Glaube des „weißen Menschen“ an „sein Recht“ und seine Höherwertigkeit einem Minderwertigkeitskomplex gewichen ist, und das genau in dem Moment, in dem dem gewaltigen Verlust der politischen Dominanz Europas über den Rest der Welt – ob einem dies nun gefällt oder nicht, er freiwillig oder unfreiwillig stattfindet – eine Übernahme des europäischen Zivilisationsmusters durch eben diesen Rest der Welt gegenübersteht.
Und hier treffen wir auf das zweite Paradox: die Theorien der „Mehrgleisigkeit“ finden stärkeren Anklang in den entwickelten Ländern als in den so genannten rückständigen Staaten.
Zahlreiche Auseinandersetzungen zu diesem Thema finden auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen statt. Ein Beispiel: Auf der Konferenz der Association Internationale de Science Économique 1953 in Santa Margherita wies Corrado Gini nach, dass es wegen der fundamentalen Unterschiedlichkeit der ökonomischen Bewertungskriterien unmöglich ist, das Nationaleinkommen der westlichen Staaten mit dem der östlichen zu vergleichen. Ihm widersprach umgehend der liberal-demokratische Professor C.N. Vakil aus Bombay. Beliebig viele derartige Beispiele ließen sich aufzählen. Natürlich hat Lévi-Strauss Recht mit der Feststellung, dass die Übernahme des westeuropäischen Zivilisationsmusters nicht freiwillig erfolgt ist, sondern zuvor die Zerschlagung der Integralität und Geschlossenheit der dortigen fremden Zivilisationen durch den Westen erfolgt war, wodurch keine Wahlmöglichkeit mehr bestand. Es ist auch richtig, dass menschliche Zivilisationen nicht immer und überall die gleiche gesellschaftliche Wertehierarchie hatten, wie wir sie heute vertreten. Es bleibt jedoch ein Fakt, dass heute fast die gesamte Menschheit weiß, dass das Leben eines Neugeborenen nicht unbedingt nur 25 Jahre dauern muss. Das Wissen darüber, dass es anders sein kann, lässt sie den Ist-Zustand nicht akzeptieren.
An dieser Stelle zwei Randbemerkungen.
Wenn das Wissen darüber, dass die menschliche Kultur in der Lage ist, menschliches Leben zu verlängern, sicherer und angenehmer zu machen von den Gesellschaften der so genannten rückständigen Länder zur Kenntnis genommen wurde, ist dies dann nicht ein Indikator, der uns darauf hinweist, dass die so oft unterstrichene andersartige Einstellung zum menschlichen Leben oder zu den technisch-materiellen Gütern nicht den Ausgangspunkt darstellt, sondern Ergebnis der Verhältnisse ist? Wurde damit nicht die Fortdauer des menschlichen Lebens tatsächlich gewürdigt von denjenigen, die zuvor mit fatalistischer Ruhe das Sterben von Dreivierteln der Neugeborenen hingenommen hatten?
Und die zweite Bemerkung. Wie einfach und schnell strecken sich böswillige Hände nach den gutgemeintesten wissenschaftlichen Konzeptionen aus! Die Ökonomie liefert hier krasse Beispiele, ist sie doch generell eine lehrreiche Wissenschaft, in der der Weg von abstrakten Thesen zu den Dollars oft nur kurz ist. Lévi-Strauss, der die besten humanistischen Traditionen fortsetzt, verteidigt die These von der Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit der unterschiedlichen kulturellen Systeme. Gini, der vom gleichen Ansatz ausgeht, weist die Unvergleichbarkeit der Nationaleinkommen nach. Sofort finden sich in diesem Zusammenhang Willige, die daraus praktisch Konsequenzen ziehen: Wenn es unwahr ist, dass das durchschnittliche Prokopfeinkommen in Indien zwanzig Mal niedriger ist als in den USA, weil in Indien viele Indikatoren in die Daseinsbedingungen eingehen, die „unübertragbar“ sind in Dollar, es also den Indern nicht so schlecht geht, wie es nach der Statistik scheint, dann sind, kurz gesagt, die humanitären Argumente für höhere Entwicklungshilfe wertlos. Frederic Benham schreibt in diesem Zusammenhang ganz richtig: „They would be most resentful if improvements in standard of living were held back because some Western pundits thought this would be bad for them.“
Der weiße Mensch hatte keine Skrupel, als er ihm fremden Zivilisationen zuerst Glasperlen und Wodka brachte, später dann bedruckte Baumwollstoffe und Flinten. Heute, wo seine Macht über die Welt in Trümmer geht, wo er weiß, dass er aus vielerlei Gründen keineswegs „besser“ ist, hat er hingegen Skrupel. Er sucht eine Verbesserung seines Selbstwertgefühls zu erlangen, wenigstens im Bild seiner Andersartigkeit, was zudem den angenehmen Nebeneffekt hat, den eigenen Geldbeutel zu schonen.
Es ist eine Tatsache, dass viele Elemente und ganze Systeme, die von der westlichen Zivilisation geschaffen wurden, von den so genannten rückständigen Gesellschaften übernommen wurden. Der Vorwurf Letzterer ist heute nicht, dass sie okzidentalisiert werden, sondern dass ihnen nicht dabei geholfen wird, dies schneller zu tun. Es führt zu nichts, die Originalität anderer Kulturen gegen deren Willen zu verteidigen.
Auf der einen Seite haben wir also die eingleisige Evolutionslehre, die naiv daher kommt und einfältig alle bekannten Gesellschaften und Kulturen nach ihrem einheitlichen Maßstab misst, aber auch ein wesentliches Problem in den Fokus rückt, nämlich dass die kulturelle Entwicklung der Menschheit, von 1962 aus gesehen, in Richtung einer enormen Uniformität geht. Wenn also diese Uniformität ein grundlegendes Problem unserer heutigen Welt darstellt, dann ist das Recht und die Pflicht der Wissenschaft, die kulturelle Entwicklung der Menschheit unter dem Blickwinkel zu untersuchen, was zu dieser Unifizierung geführt hat. Auch wenn dies nur einen Aspekt der historischen Realität darstellt, so ist dieser Aspekt doch so wichtig, dass er die Richtung der Forschung aufzeigen kann. Wenn die Geschichtswissenschaft ewig jung bleibt und sie – unter dem Zweifel der Kleingläubigen – immer auf dieselbe Vergangenheit blickt, dann resultiert daraus, dass jede Historikergeneration die Fragen an sie stellt, die ihre Epoche umtreiben. Wenn also die Unifizierung der Welt im Rahmen der industriellen Revolution ein fundamentales Problem unserer Zeit ist, dann ist es vielleicht auch die Aufgabe der Geschichtswissenschaft unserer Tage auf die Vergangenheit mit der Frage zu schauen, was zu dieser Vereinheitlichung geführt hat.
Auf der anderen Seite haben wir die Theorie der Mehrgleisigkeit, die gleichzeitig die Wissenschaft betört, als auch unausweichlich zu deren Abdankung führt. Denn wie soll es möglich sein, fremde Zivilisationen zu erforschen, wenn wir vielleicht nicht in der Lage sind, diese zu verstehen oder unsere Messlatte schlicht „zu kurz“ ist, um deren Errungenschaften messen zu können? Eine Theorie, geschaffen mit den besten internationalistischen Absichten, jedoch von extrem antiinternationalistischen Kräften sofort missbraucht?
Angesichts dieser Diskussionen bleibt der Historiker zerrissen. Nichts ermuntert ihn so zum Widerstand, wie extrem formulierte Thesen aus diesem Bereich. Er kann kompromisslos mit naiven Evolutionisten diskutieren, die sich vorstellen, dass Mieszko I. seine Politik genau so verstanden hat wie Piłsudski die seine, dass Karol Radziwiłł seine Investitionsentscheidungen auf die gleichen Kriterien gestützt hat wie Rockefeller, dass die Doktrin Giordano Brunos diesen zum Mitglied der Freimaurer gemacht hat oder dass Aleksander Kostka-Napierski und Jakub Szela für die Gründung der Volksrepublik Polen gekämpft haben. Und möge jetzt niemand behaupten, ich würde Gegner „konstruieren“, um sie desto leichter lächerlich machen zu können. Sicher hat niemand derartig krasse methodologische Thesen formuliert, aber in diese Richtung gehende Bestrebungen kann man in der Geschichtswissenschaft aller Länder und Zeiten zuhauf finden. Den wahren Historiker sollte so etwas aufregen.
Gleichzeitig erlauben seine beruflichen Qualifikationen dem Historiker jedoch auch nicht, die Theorien der mehrgleisigen Entwicklung mit ihren Extremthesen von der „Undurchdringbarkeit“ und der „Unübersetzbarkeit“ von kulturellen Werten kritiklos anzunehmen. Derartige Thesen machen den Beruf des Historikers schließlich überflüssig, weshalb hier vielleicht Selbstverteidigungsmaßnahmen angebracht sind. Aber das ist es nicht allein. Wenn wir in einem unlängst hier erschienenen Band mit altägyptischen Erzählungen mehrfach Textstellen finden, in denen es um die Sehnsucht der Menschen nach dem Vaterland geht, dann wird uns keine Theorie der Mehrgleisigkeit einreden können, dass wir diese Menschen und ihre Gefühle nicht bis zu einem gewissen Grade verstehen können, auch wenn uns 4 000 Jahre von ihnen trennen. Ist das eine Illusion? Restzweifel wären sicher angebracht, würden wir nicht in unserer heutigen Welt, die ja ebenfalls von enormen Zivilisationsunterschieden geprägt ist, Bestätigung für unsere Vermutung finden. Auf Schritt und Tritt finden sich schließlich Beispiele, analog zu dem zitierten auf der Konferenz von Santa Margherita. Fiktiv könnte dies so klingen: „Schön, dass Ihr unsere zivilisatorische Andersartigkeit schätzt. Gewiss, in unserer Zivilisation wird Kontemplation mehr geschätzt als materielle Güter und wirtschaftliche Arbeit. Aber wir würden dennoch gerne mehr essen, uns wärmer anziehen, bequemer und gesünder wohnen wollen, moderne Medikamente bekommen können im Krankheitsfall, mit einem Wort, besser und länger leben wollen.“
Die Professionalität des Historikers sollte ihn dazu bewegen, sowohl gegen die ahistorische Theorie der eingleisigen Entwicklung zu kämpfen, die alles nach einer, d.h. unserer Norm bewerten will, als auch gegen die extremen Theorien der Mehrgleisigkeit und „Unübersetzbarkeit“ von kulturellen Werten. Die Praxis der geschichtswissenschaftlichen Arbeit, ihre Resultate und deren Überprüfbarkeit im Lichte ständig neu entdeckter Quellen – all das zusammen genommen führt dazu, dass sich der Historiker gegen beide Extreme wehren muss.
Bei dem herausragenden französischen Ökonomen François Perroux heißt es: „Wie sollte also eine der beiden Zivilisationen hoffen können, vom Lebensstil der anderen Vorteil zu ziehen, wenn jede von beiden ihre eigenen konkreten Ziele verfolgt, die so sehr von der Einmaligkeit ihres eigenen Wertmaßstabes abhängen? Es sei denn, daß eine von beiden auf ihre eigenen letzten Werte verzichten, sich selbst aufgeben will. Unter solchen Umständen können alle Kompromißversuche nur zu zweierlei Ergebnissen führen: zur völligen Zerrüttung der einen Zivilisation und zum Zusammenbruch ihrer eigenen Ordnung, oder zu einer ganz neuen schöpferischen Synthese, die nur in Verbindung mit einer dritten, ebenfalls neu zu schaffenden Struktur gelingen kann, ohne die Möglichkeit der Zurückführung dieser neuen Struktur auf die beiden bisherigen.“ In dieselbe Richtung geht Maurice Merlau-Ponty in seinen Les Aventures de la dialectique.
Die Frage ist also, ob der einzige Weg zur Koexistenz in der Selbstnegation liegt? Steht die Welt vor dem Dilemma von sich einander ausschließenden Zivilisationen oder umgekehrt vor deren Verbindung, die zur Katastrophe führt?
Der wahre Historiker, der historizistisch denkende Historiker, der gleichzeitig Dialektiker ist, kann eine solche Alternative nicht akzeptieren. Die Grundlage der mehrgleisigen Theorie, wie sie Perroux anscheinend versteht, bildet bei allem scheinbaren Historizismus die ahistorische statische Behandlung jeder Zivilisation als etwas Gegebenes, das sich entweder überhaupt nicht entwickelt oder aber nur in sich. Aber solange es die Welt gibt – so war es schließlich nie! Und jeder Historiker sollte das verstehen, also wenigstens er.
Keine Zivilisation entwickelt sich in der Isolation. Japan unternahm in der Endphase der Shōgunats-Epoche verzweifelte Anstrengungen in Richtung einer Durchbrechung seiner Isolation von der es umgebenden Welt. Allein die Existenz dieser Welt, die bestimmte Kreise zu isolationistischen Anstrengungen verleitete, lenkte die Entwicklung der japanischen Zivilisation in dieser Epoche in eine bestimmte Richtung. Es stimmt, dass die Einführung von Elementen einer anderen Zivilisation in eine gegeben Struktur, diese aktuelle Struktur zerstört. Es gibt jedoch einen enormen Unterschied zwischen der Einführung von bedruckten Stoffen und Webmaschinen nach Indien Mitte des 19. Jahrhunderts durch Engländer und den heutigen Anstrengungen Indiens in Richtung Industrialisierung. Es ist der gleiche Unterschied, der die Aggression von der kulturellen Zusammenarbeit unterscheidet. Die Geschichte der Historiografie zeichnet sich durch extreme Beispiele der Interpretation kultureller Einflüsse aus. So meinten die Einen beispielsweise bei der Interpretation der polnischen Aufklärung, sie könnten diese auf französische Einflüsse zurückführen, während Andere mit nationalistischer Begeisterung zu einer Theorie der kulturellen „Eigengeburt“ gelangten. Letzteres ist evident falsch, der daraus gewonnene „Nationalstolz“ lächerlich und schädlich, während erstere Theorie der „Einflüsse“ naiv ist und im Widerspruch zum allgemeinen Wissen über die Kultur steht. „Kulturelle Entlehnungen“ sind niemals nur ein passiver Akt, sondern immer kulturelles Schaffen. Es sei denn, sie sind Ergebnis von Aggressionen.
Der Kampf um kulturelle Koexistenz beruht nicht darauf, dass man anstelle dessen, was uns trennt, das zu untersuchen beginnt, was uns verbindet, anstatt sich also die Besonderheit und Individualität bewusst zu machen, auf die Bewusstmachung der gemeinsamen „Gattungszugehörigkeit“ setzt. Anstatt also das Gefühl der eigenen Existenz zu stärken, lieber Sicherheit in der gemeinsamen Existenz zu suchen. Bedingung einer kulturellen Koexistenz ist die Unterschiedlichkeit, sonst hätten wir keine Koexistenz von Unterschiedlichkeiten, sondern eine Einheitlichkeit. Die Epoche der Koexistenz kann man nur beginnen, wenn man seine Individualität als Bedingung für diese behält. Entweder Individualität und Koexistenz oder weder das Eine, noch das Andere.
Das ist die Alternative. Jedoch wird alles davon abhängen, wie wir diese individuelle Zivilisation verstehen werden: als Vielheit, die sich nicht auf einen „gemeinsamen Nenner“ bringen lässt mit anderen Individualitäten oder als Gattung mit vielgestaltigen Ausprägungen, wie sie die menschliche Kultur darstellt.
Es stellt sich zudem die Frage, ob im Laufe der Koexistenz die koexistierenden Zivilisationen sich unter dem Einfluss dieser Koexistenz verändern werden, sich in „etwas Anderes“ verwandeln? Zweifellos wird es so kommen. Nur verwandeln sie sich ständig und immerzu in „etwas Anderes“, da sich sowohl die Isolation verändert, als auch die Zusammenarbeit. Lediglich Reaktionäre (in der wörtlichen Bedeutung dieses Begriffs) bestehen auf einer unveränderbaren Individualität und selbst wenn dies manchen gefallen sollte, so geht eine solche Haltung doch an der Realität vorbei. Eine Zivilisation verändert sich immer. Ein selbstständiges kreatives Verständnis der Werte einer anderen Zivilisation ist bereichernd, verändert mithin also auch die eigene. Wenn dieses Verständnis selbstständig und bereichernd ist, wird es auch nicht zum Verlust der eigenen Individualität führen, denn es ist selbst individuell.
Der Historiker ist ein Übersetzer, der im Rahmen seiner Kräfte und Möglichkeiten die Werte anderer Zivilisationen in unsere Sprache übersetzt. Auf Schritt und Tritt begleitet ihn dabei das Bewusstsein von der Individualität der übersetzten Werte wie auch die Überzeugung, dass eine solche Übersetzung prinzipiell möglich ist. Der Historiker macht der Gesellschaft ihre Individualität bewusst und sorgt gleichzeitig dafür, dass diese Individualität für andere Gesellschaften verständlich wird. Aus der Professionalität des Historikers resultiert, dass er protestieren sollte – sowohl gegen die Subsumierung aller Gesellschaften unter einen Nenner als auch gegen die existentialistische Verzweiflung der einsamen Individualität. Die Geschichte wurde oft für nationalistische und aggressive Ziele prostituiert. Sie sollte jedoch eine Schule der Koexistenz freier individueller Zivilisationen sein, die sich im Zusammenleben und in der Zusammenarbeit entwickeln, sich gegenseitig befruchten ohne dabei ihre Individualität zu verlieren, sondern diese im Gegenteil immer stärker entwickeln und bereichern.
Unlängst erschien ein Aufsatz von Fernand Braudel Histoire et sciences sociales: La longue durée, der zu Überlegungen anregt und wahrscheinlich Ausdruck ist der Bedürfnisse und Sehnsüchte, die die moderne Wissenschaft vom Menschen umtreiben.
Die gewaltige Tempobeschleunigung bei den Veränderungen, deren Zeuge unsere Generation ist, musste geradezu eine Hinwendung des wissenschaftlichen Interesses zur Problematik von Veränderung und Entwicklung auslösen. Und obwohl viele Geisteswissenschaften noch im engen Korsett der „chronologischen Provinzialität“ stecken und sich zudem nur mit dem winzigen Zeitabschnitt der so genannten Gegenwart beschäftigen, erlangt doch die Entwicklungsproblematik bei vielen von ihnen – an erster Stelle bei den Wirtschaftswissenschaften – zunehmend einen gleichberechtigten Stand, ja gelangt sogar an die Spitze des Forschungsinteresses.
Die Geschichtswissenschaft ist von der Natur der Sache her dazu berufen, sich mit dieser Problematik zu beschäftigen – sollte man meinen. Aber die „histoire historisante“, die „histoire événementiele“, die „Mikrogeschichte“, die sich auf enge Zeitabschnitte der Vergangenheit begrenzt, zeichnet sich wohl auch durch „chronologische Provinzialität“ aus. Wenn es stimmt, und es stimmt wohl, was Henri Pirenne feststellt: „L’historien n’est pas autre chose qu’un homme qui se rend compte que les choses changet, la plupart des gens ne s’en apercoit pas – et qui cherche pourqoi elles changent“, dann haben wohl viele Historiker ihre Berufsbezeichnung nicht verdient und verdienen sie weiterhin nicht!
Allerdings ergibt sich hier auch ein Problem: Sollen Langzeituntersuchungen Untersuchungen dessen sein, was noch andauert oder dessen, was sich ständig ändert, also ausschließlich von Veränderungen? Eine solche Fragestellung ergibt jedoch ein schiefes Bild. In der Geschichte bedeutet Dauer immer Wandel. Kurzzeitanalysen sind nicht nur deshalb unergiebig, weil sie diese Dauer nicht abbilden, sondern auch deshalb, weil sie den Wandel nicht erfassen.
In dem unermesslichen historischen Material die Dauer vom Wandel zu unterscheiden, in derselben Realität das Antlitz von Veränderlichkeit und Dauerhaftigkeit zu erblicken, ist ein alter Traum der Historiker. Die Aufforderung Braudels lässt sich wohl so verstehen, wie der Traum von Georg F.W. Roscher: „Befreiung von Menschenvergötterung und Menschenhass durch Erkenntnis des Dauerhaften in der Flucht des Ephemeren.“
Nur wie geht man das an?
„Il y crise genérale des sciences de l’homme“, schreibt Braudel. Sicher, eine derartige Krise existierte und existiert weiterhin. Sie war vorhanden zu den Zeiten von Bodin und Montaigne, von Voltaire und Mably, sie war existent während des „Methodenstreits“ um Karl Lamprecht und bei der Gründung der Revue des Synthèse Historique durch Henri Beer 1900 und auch als Marc Bloch und Lucien Febvre 1929 die Annales begründeten. Sie existiert auch heute und das ist gut so. Über die Geschichte kann man genau das Gleiche sagen, was Raymond Aron über die Soziologie gesagt hat, nämlich, dass sie „paraît être caractérisée par une perpétuelle recherche d'elle-même“. Fürchten müsste man nur den Moment, in dem es diese Krise nicht gäbe.
Was macht nun aber diese Krise aktuell aus?
Einerseits – und dies fühlt jeder Forscher persönlich – ist sie tatsächlich „accablées sous leurs propres progrès“. Als surrealistisch könnte man die Flut von wissenschaftlichen Publikationen bezeichnen, die uns jedes Jahr eine noch größere Welle von Arbeiten zu jedem Thema bescheren. Der Demokratisierungsprozess in der Wissenschaft, der Tausende bescheidene Forscher anzieht, verursacht eine Flut von faktografischen Detailstudien, die vielleicht sogar nützlich wären, wenn sie jemand lesen und benutzen würde. Wie lächerlich erscheint aus heutiger Sicht die Aufforderung aus Studentenzeiten, nach der wir in jeder wissenschaftlichen Arbeit die relevante Literatur umfassend rezipieren sollten!
Im Zusammenhang mit der aktuellen Krise der Wissenschaft vom Menschen erscheint jedoch der Umstand, dass eine Vorstellung von der heutigen und der Welt von morgen fehlt, konkret von den sie umtreibenden Problemen, bedenklich. Wenn es solche Probleme gibt, wo soll man dann nach Erklärungsmöglichkeiten suchen, wenn nicht in der Vergangenheit? Der Mensch weiß schließlich nur das über sich, was er im Spiegel erblickt, wenn er sich betrachtet. Geschichte ist auch das Bewusstsein seiner selbst.
Das fehlende Problembewusstsein unserer Tage erschwert das Finden des Fadens der Ariadne, der den Weg aus dem Labyrinth ermöglichen würde, sollen heißen, der es ermöglichen würde, das von der Wissenschaft gesammelte historische faktografische Material zu organisieren und die weitere Forschungsrichtung zu bestimmen.
Angesichts derartig großer Probleme muss man Mut zeigen. Hier soll daher mutig die These vertreten werden, dass in unserer Welt, einer Welt, die sich vor unseren Augen in gewaltigem Maße zusammen gezogen hat, einer Welt, die durch zahllose Fäden verbunden und voneinander abhängig ist, dass in einer solchen Welt das Problem der Vereinheitlichung bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit menschlicher Gesellschaften ein zutiefst vitales Problem ist. Diese Welt steht, so könnte man sagen, vor zwei Bedrohungen. Einerseits droht ihr das Verschwinden der menschlichen Vielfalt, eine Standardunifizierung, die dem unifizierten Typ der Produktionskräfte entspricht. Das Verschwinden der Unterschiede bedeutet aber auch den Tod der Kultur. Andererseits droht dieser Welt, dass das Bewusstsein von unüberwindbaren Unterschieden zu Kämpfen auf Leben und Tod zwischen diesen Unterschiedlichkeiten führt. Auf unserem so zusammengerückten Planeten könnte dies jedoch nicht nur zu einem Verschwinden der Kulturen, sondern zum Verschwinden des Lebens selbst führen. So existiert also eine Dialektik von Veränderung und Dauer, Einheitlichkeit und Vielfalt.
Angesichts der sakralisierten Mächte dieser Welt, mit Thron und Altar an erster Stelle und der verknöcherten Gesellschaftsstruktur an zweiter Stelle, die sich auf den Besitz der Produktionskräfte stützt, haben die Geisteswissenschaften einen historizistischen Forschungsansatz für die Untersuchung der menschlichen Gesellschaft geschaffen. Der Anteil der Historiker daran war nicht der größte, sondern Ethnologen und Soziologen waren hier führend. Dennoch haben auch die herausragendsten Vertreter unserer Zunft daran ihren Anteil.
Der historische Blick auf die menschlichen Dinge ist natürlich immer ein menschlicher Blick. Er ermöglicht eine Gleichberechtigung der Völker und Kulturen, „legalisiert“ den wissenschaftlichen Kampf um Veränderbarkeit, also um Fortschritt. Persönlich überzeugen mich daher die extrem antihistorizistischen Argumente eines Karl R. Popper in keiner Weise. Der Artikel von Braudel soll hier jedoch als Warnung verstanden werden: Die dienlichste Methode darf man dennoch nicht bis zu absurden Extremen ausdehnen. Konkret heißt das in diesem Zusammenhang, dass der Historizismus nicht zu einer Theorie von „impermeabilité“ und „inpenetrabilité“ der Kulturen führen darf. Andernfalls droht der Menschheit der Tod. Das ist vielleicht kein wissenschaftliches Argument, hat aber ein gewisses Gewicht und eine gewisse Überzeugungskraft.
1963
Aus dem Polnischen übersetzt von Matthias Barelkowski, Berlin