Die aktuelle russische Historiografie der Kampagne des „Kampfes gegen die deutsche Dominanz“ in den Jahren des Ersten Weltkriegs
[Die aktuelle russische Historiografie der Kampagne des „Kampfes gegen die deutsche Dominanz“ in den Jahren des Ersten Weltkriegs], in: Vestnik Permskogo universiteta. Serija: Istorija [Bote der Universität Perm’. Reihe: Geschichte], Nr. 2 (29) (Juni), 2015, S. 88-97.
Unmittelbar nach Ausbruch der Kriegshandlungen gegen Deutschland stellten die russischen Behörden die auf ihrem Territorium lebende deutsche Bevölkerung unter besondere Kontrolle. Die antideutsche Kampagne beschränkte sich nicht nur auf politische Repressionen, sondern schloss auch Sprache und Religion betreffende Diskriminierungen, ein faktisches Verbot kulturell-aufklärerischer und ökonomischer Aktivitäten, Enteignungen nach nationalen Kriterien usw. ein. In seiner Analyse der in den Jahren des Ersten Weltkriegs in Russland entfesselten antideutschen Kampagne gewidmeten russischen bzw. russischsprachigen Historiografie zeichnet Viktor Kirillov die Hauptentwicklungsetappen der entsprechenden geschichtswissenschaftlichen Forschung sowie die von einzelnen Historikern vertretenen konzeptuellen Ansätze nach. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die geleistete Forschungsarbeit ungeachtet der dem Thema in den 1990er und 2000er Jahren entgegengebrachten gestiegenen Aufmerksamkeit auch weiterhin fragmentarisch bleibt. So weist die entsprechende Historiografie seines Erachtens noch immer eine ganze Reihe von Forschungslücken auf.
Wir bedanken uns für die freundliche Abdruckgenehmigung des Beitrages bei dem Verfasser Viktor Kirillov sowie bei den Herausgebern der Redaktion der Zeitschrift „Vestnik Permskogo universiteta“, Perm’ (Russland).
Einleitende Bemerkungen
Der Zusammenbruch der drei Vielvölkerreiche der Romanovs, der Habsburger und der Osmanen stellte eine der Hauptfolgen des Ersten Weltkriegs dar. Auch wenn der Prozess des Zusammenbruchs in jedem der drei Fälle jeweils unterschiedlich verlief, hatten sie doch alle eines gemein: die traditionell supranationale Legitimation der imperialen Macht und die in nationalen Fragen patriarchale Politik der Monarchien erwiesen sich unter den Bedingungen des Weltkriegs als unfähig, eine angemessene Antwort auf die Herausforderung des wachsenden Nationalismus zu finden. So konnte die russische Staatsmacht nicht der Versuchung widerstehen, den scheinbar einfachsten Weg einzuschlagen und sich auf die nationalistischen und chauvinistischen Kräfte zu stützen, die sie durch eine unverhohlene Russifizierungspolitik zusätzlich stärkte. Besonders deutlich lässt sich dies am Beispiel des Kampfes gegen die sogenannte „deutsche Dominanz“ ablesen.
Unmittelbar nach Ausbruch der Kriegshandlungen gegen Deutschland stellten die russischen Behörden die auf ihrem Territorium lebende deutsche Bevölkerung unter besondere Kontrolle. Die antideutschen Kampagne beschränkte sich nicht nur auf politische Repressionen, sondern schloss auch Sprache und Religion betreffende Diskriminierungen, ein faktisches Verbot kulturell-aufklärerischer und ökonomischer Aktivitäten, Enteignungen nach nationalen Kriterien usw. ein. So wurde beispielsweise aufgrund eines im Februar 1915 verabschiedeten Erlasses der private Landbesitz aller aus Deutschland und Österreich-Ungarn stammenden Personen in der Grenzregion zwangsenteignet (für den „freiwilligen“ Verkauf waren 10–16 Monate vorgesehen). Deutschstämmigen russischen Staatsangehörigen wurde der Erwerb von Rechten an Immobilien auf dem gesamten russischen Staatsgebiet verboten, sofern sie nicht ihre besondere „Ergebenheit“ gegenüber Russland unter Beweis stellten. Der Senat ordnete an, dass Staatsangehörige feindlicher Staaten keinen Schutz vor Gericht mehr in Anspruch nehmen konnten usw. Die Maßnahmen richteten sich nicht nur gegen Staatsangehörige der Feindstaaten Deutschland und Österreich-Ungarn, sondern auch gegen deutschstämmige russische Staatsangehörige.
Bereits im August-September 1914 leitete die Regierung eine Reihe von Maßnahmen zur Ausmerzung des deutschen Einflusses auf das kulturelle Leben des Landes ein. Zahlreiche Orte, die vor dem Krieg einen deutschen Namen getragen hatten, wurden umbenannt, allen voran die Hauptstadt St. Petersburg, die zu Petrograd wurde. Der Gebrauch der deutschen Sprache auf den Straßen der Städte und Dörfer, an öffentlichen Orten und auf Versammlungen wurde verboten, wobei Zuwiderhandlungen mit einer Strafe oder dreimonatiger Haft geahndet wurden. Nach dem 1. April 1915 mussten ausnahmslos alle deutschen Gymnasien auf dem Gebiet Russlands schließen. Bereits die ersten von der Zensur zugelassenen Veröffentlichungen der Jahre 1914/15 waren bestrebt, unter den Russen eine deutschenfeindliche Stimmung zu schüren, indem sie von unterschiedlichen Blickwinkeln aus die Frage der sogenannten deutschen Übermacht in Russland erörterten. Die nationalistische Propaganda verfolgte das Ziel, möglichst schnell und überzeugend ein allen Durchschnittsbürgern verständliches Feindbild des Deutschen zu erzeugen. Während die „äußeren“ Deutschen auf zahlreichen Flugblättern und Plakaten als schreckliche Ungeheuer oder als Gefolge des Antichrist dargestellt wurden, traten die „inneren“, d.h. die im Russischen Reich lebenden Deutschen, meist als Spione, Parasiten und Kostgänger des russischen Volkes auf. Nationalistische Broschüren konzentrierten sich vor allem darauf, sittliche Ideale und geistige Fähigkeiten der Deutschen herabzusetzen. Der Durchschnittsrusse verfügte über einen ganzen Satz (bereits in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts entstandener) antideutsche Stereotype, auf die er nach Belieben zurückgriff. Darüber hinaus waren Deutsche in Russland weit besser bekannt als andere Völker, weil sie im Verlauf mehrerer Jahrhunderte als Beamte, Unternehmer, Kaufleute oder Handwerker unter den Russen gelebt hatten, von den deutschen bäuerlichen Kolonisten ganz zu schweigen. Die für die russische Armee prekäre militärisch-politische Lage wirkte sich ebenfalls in erheblichem Maße auf das Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheit im Hinterland aus, was sich in mehreren Demonstrationen gegen die „inneren“ Deutschen ausdrückte, die des fehlenden Patriotismus und der Unverschämtheit bezichtigt wurden. Die Rolle eines Koordinationszentrums für den „Kampf gegen die deutsche Übermacht“ spielte das in Petrograd gegründete „Sonderkomitee zum Kampf gegen die deutsche Übermacht“.
In seiner Analyse der der in den Jahren des Ersten Weltkriegs in Russland entfesselten antideutschen Kampagne gewidmeten russischen bzw. russischsprachigen Historiografie zeichnet Viktor Kirillov die Hauptentwicklungsetappen der entsprechenden geschichtswissenschaftlichen Forschung sowie die von einzelnen Historikern vertretenen konzeptuellen Ansätze nach. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die geleistete Forschungsarbeit ungeachtet der dem Thema in den 1990er und 2000er Jahren entgegengebrachten gestiegenen Aufmerksamkeit auch weiterhin fragmentarisch bleibt. So weist die entsprechende Historiografie seines Erachtens noch immer eine ganze Reihe von Forschungslücken auf. Konkret verweist er darauf, dass bis heute keine vergleichende Analyse vorliegt, die auch ähnliche Kampagnen in den anderen am Ersten Weltkrieg beteiligten Ländern einschließt. Nur unzureichend erforscht sei auch die tatsächliche Verbreitung antideutscher Stimmungen im Land sowie die Frage, wie die Russlanddeutschen selbst auf die gegen sie gerichteten Repressionsmaßnahmen reagierten.
Kirillov ist Doktor der Historischen Wissenschaften und Professor am Lehrstuhl für Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften des Sozial-Pädagogischen Instituts Nižnij Tagil der Russischen Staatlichen Berufspädagogischen Universität. Seit 1996 leitet er das wissenschaftliche Forschungszentrum für „Historische Informatik“, das zahlreiche der Geschichte der Repressionen im Ural gewidmete Projekte umgesetzt hat. Auf Grundlage der von Kirillov betriebenen wissenschaftlichen Forschungsarbeit erschienen mehrere Gedenkbücher. Zudem wurden eine die Personalien von über 100 000 repressierten Russlanddeutschen umfassende Datenbank sowie die Website „Elektronisches Gedenkbuch der Russlanddeutschen“ eingerichtet.
Die aktuelle russische Historiografie der Kampagne des „Kampfes gegen die deutsche Dominanz“ in den Jahren des Ersten Weltkriegs
Mit der Gründung des Deutschen Reichs kam es zu einem grundlegenden Wandel der den in Russland ansässigen Deutschen entgegengebrachten Einstellung. So war die Gesellschaft bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits darauf vorbereitet, die deutsche Diaspora negativ wahrzunehmen. Mit der Umsetzung der im Zuge des Krieges eingeleiteten antideutschen Repressionsmaßnahmen wurde die Frage des zu deren Rechtfertigung herangezogenen vorgeblichen „deutschen Einflusses“ für lange Zeit zu einem Objekt historischer Studien und Diskussionen und dabei immer wieder im Sinne der eigenen politischen Vorstellungen instrumentalisiert.
Die erste größere Arbeit, die sich mit den im Zuge der Kampagne des „Kampfes gegen die deutsche Dominanz“ ergriffenen Maßnahmen befasste, erschien bereits 1916 und hob sich zu diesem Zeitpunkt von der großen Masse der antideutschen Veröffentlichungen ab, denen es vor allem darum ging, die Deutschen zu „entlarven“.
In den 1920er Jahren kritisierte die dem Klassenansatz verpflichtete sowjetische historische Literatur und Publizistik zwar die unter dem Zaren betriebene antideutsche Repressionspolitik, hob aber zugleich auch hervor, dass der wohlhabende Teil der deutschen Gemeinschaft der Sowjetordnung gegenüber „notorisch“ illoyal eingestellt war. Während die den antideutschen Verfolgungen zugrundeliegenden Ursachen dabei praktisch nicht thematisiert wurden, galt die Aufmerksamkeit vor allem den Aktivitäten der deutschfreundlichen Kräfte innerhalb des Staatsapparats und den Bestrebungen der Zarenregierung, einen Separatfrieden abzuschließen.
Nach Einschätzung heutiger Historiker hatte sich zu Beginn des „Großen Terrors“ bereits eine Tradition gegen die Sowjetdeutschen gerichteter Strafmaßnahmen etabliert. So formulierte die Geheimpolizei bereits seit Mitte der 1920er Jahre das Konzept einer in der UdSSR operierenden „deutschen fünften Kolonne“, deren angebliche Existenz die politische Führung zum Vorwand nahm, gegen die Sowjetdeutschen gerichtete Massenrepressionen einzuleiten. Die Geschichtsschreibung jener Zeit beförderte das Klischee, demzufolge die im russischen Kriegsdienst stehenden Deutschen ausnahmslos alle als feindliche Agenten anzusehen seien. Ein offensichtlich auf Weisung von oben verfasstes Werk zu diesem Thema entstammte der Feder der Leiter der Hauptarchivverwaltung des NKVD der UdSSR.
Ende der 1960er Jahre erwachte das der Frage entgegengebrachte Interesse erneut. So befasste sich Valentin Djakin in seiner der Frage der Wirkung der sogenannten „Liquidationsgesetze“ gewidmeten Arbeit mit einem der zentralen Elemente der antideutschen Kampagne. Auch Guram Mandžgaladze und Michail Florinskij gingen in ihren Arbeiten auf das Thema ein.
Heute umfasst die der antideutschen Kampagne gewidmete Historiografie einige Dutzend Arbeiten, die zu einem großen Teil nach 1990 verfasst wurden. Nichtsdestotrotz ist zu konstatieren, dass das Thema des Kampfes gegen die „deutsche Dominanz“ in Russland auch weiterhin nur in Teilbereichen erforscht ist und es an einer zusammenfassenden Arbeit fehlt.
Die Kampagne des Kampfes gegen die „deutsche Dominanz“ war kein in den Jahren des Ersten Weltkriegs spontan aufkommendes Phänomen, sondern hatte eine lange Vorgeschichte. Fragt man nach den der Ergreifung der entsprechenden Maßnahmen zugrundeliegenden Ursachen, erhält man die These zur Antwort, es habe sich um eine geradezu zwangsläufige Begleiterscheinung der Entstehung der Nationalstaaten gehandelt, einen Prozess der Vereinheitlichung der in den Vielvölkerreichen ansässigen Völker um das jeweilige Staatsvolk herum. So führt z.B. Sergej Nelipovič die geänderte Wahrnehmung der Deutschen auf die Reform von 1871 zurück, in deren Folge die deutschen Kolonisten ihren Sonderstatus verloren und zum Wehrdienst verpflichtet wurden: „Mit dem Verlust ihres Standescharakters bekamen die Kolonisten ein nationales Gesicht und verschmolzen in den Augen der Führungskreise mit den Deutschen an sich, zumal dieser Prozess zeitlich mit der deutschen Reichsgründung zusammenfiel. [...] In der Folge hat man auch die Russlanddeutschen ganz anders wahrgenommen [...]“.
Die Umwandlung des Vielvölkerreichs in einen Nationalstaat begann unter Aleksandr III., als die einzelnen Völker laut Nelipovič vor die Wahl gestellt wurden, sich entweder nach der Doktrin „Orthodoxie, Autokratie, Volkstum“ von ihrer jeweiligen nationalen Eigenständigkeit loszusagen oder aber freiwillig das Land zu verlassen, solange noch keine ideologische Grundlage dafür vorlag, sie zwangsweise außer Landes zu schaffen. Das habe den Anstoß gegeben, die öffentliche Meinung in Richtung einer deutschfeindlichen Haltung zu lenken. So ließ der Erste Weltkrieg nur eine innerhalb der Regierung schon lange bestehende Haltung offen zu Tage treten.
Nelipovičs These wird durch die in der vorrevolutionären Militärstatistik enthaltenen Materialien zur sogenannten „Bevölkerungspolitik“ gestützt. So weist auch Piter Cholkvist darauf hin, dass die Militärstatistik von den 1880er Jahren an immer öfter einzelnen „Bevölkerungselementen“ bestimmte Merkmale zuschrieb, um die Notwendigkeit einer ethnischen Homogenisierung der Gesellschaft zu unterstreichen. So habe Zolotarev 1885 in seinem für die Akademie des Generalstabs bestimmten Lehrbuch zur Militärstatistik erklärt, dass die Bevölkerung Russlands in weiten Teilen als loyal anzusehen sei, was aber keineswegs für die „Bewohner der Randgebiete“ gelte. Im zweiten, den westlichen Grenzgebieten gewidmeten Band habe Zolotarev zudem keinerlei Zweifel daran gelassen, welche Bevölkerungsgruppen er dabei konkret im Auge hatte: Juden, Deutsche und Polen. Die Militärstatistik habe die „Bevölkerung“ nicht einfach beschrieben, sondern auch durchaus konkrete Vorschläge enthalten, wie die zu Tage getretenen „Probleme“ zu lösen seien.
Svetlana Bobyleva und Alfred Eisfeld vertreten die These, dass die erstmals in den 1870er Jahren in der russischen Presse aufgekommene und mit der Zeit mit dem Schlagwort der „friedlichen Eroberung“ Russlands durch die Deutschen versehene „deutsche Frage“ in der Folgezeit praktisch nicht mehr aus der russischen Innenpolitik verschwunden sei, und die von der 1885 eingerichteten Untersuchungskommission zur Lage der Kolonisten gezogenen Schlussfolgerungen mit eben jenen Argumentationsmustern zusammenfielen, mit denen auch die Verfasser der „Liquidationsgesetze“ der Jahre 1914–16 operierten. So habe sich bereits fast drei Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine ähnliche Begründung in offiziellen Regierungsdokumenten finden lassen.
Allerdings gibt es nur sehr wenige Forschungsarbeiten, die sich mit der Entwicklung der antideutschen Stimmungen in der Vorkriegszeit befassen, was sich als eine der wesentlichen Lücken der russischen Historiografie ansehen lässt. Auch die Annahme, die antideutsche Politik sei von der Regierung bereits lange zuvor von der Öffentlichkeit unbemerkt ausgearbeitet worden, ist bislang nicht ausreichend belegt. Als einigermaßen gesichert können zum heutigen Zeitpunkt die folgenden Thesen gelten:
Im Zusammenhang mit der in den 1880er Jahren in Wolhynien erfolgten Neugründung deutscher Siedlungen zeigten die gebildeten Kreise der russischen Gesellschaft erstmals offen ihre angesichts des Eindringens der Deutschen nach Russland bestehende Beunruhigung.
Die Suche nach einer nationalen Identität führte im Russland des späten 19. Jahrhunderts dazu, alles Deutsche als „fremd“ oder gar feindlich abzulehnen.
Zur Vorgeschichte des Kampfes gegen die „deutsche Dominanz“ gehört die in den 1880er und 1890er Jahren erfolgte Russifizierung der deutschen Kolonistenschulen.
Das durch die Deutschen geweckte Unbehagen wuchs nach dem mit Deutschland im Jahr 1904 abgeschlossenen Handelsvertrag und wurde durch den Ausbruch der Balkankriege von 1912/13 weiter verstärkt.
Es fällt auf, dass die Stimmen, die die „deutsche Eroberung“ für gefährlich erklärten, in der gebildeten russischen Öffentlichkeit immer lauter wurden, während das Milieu des einfachen russischen Volkes den Deutschen zu dieser Zeit eher eine wohlwollend ironische Haltung entgegenbrachte, die keinerlei Feindseligkeit enthielt.
Interessant ist mit Blick auf die Vorkriegszeit auch die von Sergej V. Baach vertretene These, dass die „deutsche Frage“ in der Staatsduma bis zum Ausbruch des Kriegs kaum eine Rolle gespielt habe: „[…] Die deutsche Bevölkerung befand sich in einer privilegierteren Lage und wurde als Element wahrgenommen, das dem herrschenden Regime gegenüber loyal eingestellt war und keine politische Selbstorganisation anstrebte“.
Nach Einschätzung von Ivan Sobolev und Anna Šubina hatte die Regierung eine ganze Reihe von Gründen dafür, ungeachtet aller Aufrufe, der „deutschen Dominanz“ ein Ende zu bereiten, Neutralität zu bewahren: Von der starken Stellung der deutschfreundlichen Kräfte in der zivilen und militärischen Bürokratie bis hin zur Angst vor einem Krieg gegen Deutschland, der als „kürzester Weg zur Revolution“ galt.
Bekanntlich wirkt der Krieg als Katalysator alles Schlechten im Menschen und lässt neben zahlreichen anderen Ängsten und Phobien auch Fremdenfeindlichkeit und Ethnophobie offen zu Tage treten. So verschlechterte sich in praktisch in allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Staaten die gegenüber den Staatsbürgern und Abkömmlingen der Kriegsgegner eingenommene Haltung, so dass Russland in dieser Hinsicht sicherlich keine Ausnahme darstellte.
Baach weist darauf hin, dass das gegen die deutschstämmigen russischen Staatsbürger gerichtete Feindbild angesichts des Krieges und der durch diesen hervorgerufenen allgemeinen antideutschen Stimmung für einige Zeit alle anderen in der Öffentlichkeit präsenten ethnischen Feindbilder in den Hintergrund treten ließ.
In ihrer Einschätzung der der antideutschen Hysterie zugrundeliegenden Ursachen sind sich die russischen Historiker weitgehend einig. So nennt Šubina unter anderem die folgenden Punkte: „Die in der Vorkriegszeit zu verzeichnende enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern, in deren Folge die Deutschen eine erhebliche und in einigen Branchen auch dominierende Rolle einnahmen; die bedeutende Rolle, die Deutschland für Russlands Außenhandel spielte; […] die fast zwei Millionen deutschen Kolonisten, die an ihrer Muttersprache und ihren nationalen Bräuchen festhielten und sich oft von der Mehrheitsgesellschaft abschotteten“. Auch die Lage der Kolonistensiedlungen entlang der Grenzen, Straßen und Eisenbahnstrecken und nicht selten in der Nähe großer Fabriken oder für die Landesverteidigung wichtiger Festungen habe „übermäßig alarmierte Patrioten“ eine hinterlistige Intention der reichsdeutschen Regierung wittern lassen und für entsprechendes Unbehagen gesorgt: „So sah man in den deutschen Kolonisten zunehmend einen Vorposten für den Vormarsch der deutschen Armee, in den zahlreichen deutschen Angestellten und Geschäftsleuten ein weitverzweigtes Netz von Spionen und in der Verbreitung der deutschen Kultur und Wissenschaft in Russland den Versuch, das russische Volk geistig zu unterwerfen, weil man den Glauben daran verloren hatte, den Krieg mit Waffengewalt zu gewinnen“.
Mit Ausbruch des Krieges spielten die „deutschfreundlichen Kräfte“ kaum noch eine Rolle. „Die angespannte innenpolitische Lage machte die Liquidation der im Wirtschaftsleben bestehenden ,deutschen Dominanz‘ für die autokratische Führung gleich aus mehreren Gründen interessant. Erstens hofften die Führungskreise, mit Hilfe dieser Losung das Mittel- und Kleinbürgertum auf ihre Seite zu ziehen, das einen besseren Schutz des genuin russischen Gewerbes forderte und sich auf diese Weise seiner deutschstämmigen Konkurrenz entledigen konnte. Zweitens stellte der Kampf gegen das ,Deutschtum‘ auch im Agrarbereich eine verführerische Perspektive dar, da sich der Regierung durch die Liquidation des umfangreichen Landbesitzes der deutschen Kolonisten die Chance eröffnete, die Lösung der Landfrage in Angriff zu nehmen, ohne dabei die ,heiligen‘ Interessen der russischen Gutsbesitzer antasten zu müssen. Drittens sollte der zu Propagandazwecken aufgebauschte ,Kampf gegen das Deutschtum in allen Lebensbereichen‘ auch dazu beitragen, in der Bevölkerung chauvinistische und hurra-patriotische Stimmungen entstehen zu lassen“.
Eine wichtige Rolle spielte nach Ansicht Michail Lykosovs auch die rechtskonservative Ideologie, deren Ideen das herrschende Regime maßgeblich beeinflussten. So hätten die rechten Kreise den Sinn des Krieges darin gesehen, alles Ausländische aus Russland zu vertreiben. Die Ablehnung des westlichen Entwicklungsmodells und die daraus resultierende Suche nach einem Rezept, wie sich die „nationale Wirtschaft“ unter Wahrung der traditionellen sozial-ökonomischen und politischen Grundfesten aufbauen ließe, habe eine zunehmend antibürgerliche Ausrichtung des konservativen Denkens zur Folge gehabt.
Im Zuge ihrer intensiven Beschäftigung mit dem Thema konnten die Forscher ein immer klareres Bild der antideutschen politischen Aktionen zeichnen, das Arkadij German folgendermaßen zusammenfasst: „Beim ,Kampf gegen die deutsche Dominanz‘ handelte es sich um ein gegen die in Russland ansässigen Deutschen gerichtetes Paket staatlicher Diskriminierungsmaßnahmen: Verbot aller deutschen Vereine und Organisationen sowie der deutschsprachigen Presse und anderer Publikationen, Verbot des Gebrauchs der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit; Abschaffung deutscher Ortsnamen in den kompakten deutschen Siedlungsgebieten; Enteignung des deutschen Landbesitzes in den im Westen des Landes gelegenen Gouvernements und im Kaukasus; teilweise Deportation der deutschen Bevölkerung aus frontnahen Gebieten; Einsatz deutscher Soldaten von 1915 an nur noch an der türkischen Front (und auch dort fast nur in Hilfseinheiten); antideutsche Pogrome in Moskau, Kiev, Ekaterinoslav, Saratov und anderen Städten.“
Der genaue Verlauf der einzelnen im Rahmen der antideutschen Kampagne eingeleiteten Maßnahmen lässt sich ohne Heranziehung von Originalquellen allein anhand der Arbeiten russischer Historiker nicht rekonstruieren.
Die meisten Forscher betrachten den Kampf gegen den deutschen Landbesitz als zentrales Element der gesamten in Russland betriebenen antideutschen Politik. Vor diesem Hintergrund scheint es angebracht, den konkreten Verlauf dieser über einen vergleichsweise langen Zeitraum vollzogenen Maßnahme nachzuzeichnen.
Auch wenn nach den ursprünglichen Plänen insgesamt etwa zwei Millionen Desjatinen deutsches Kolonistenland bei der Bauernbank konzentriert werden sollten, waren zum 01.01.1917 nur gerade einmal 145 000 Desjatinen tatsächlich aufgekauft. Dabei waren in erster Linie Kolonisten von den Enteignungen bzw. Zwangsverkäufen betroffen, während der Besitz der privilegierten deutschen Gutsbesitzer weitgehend verschont blieb. Als die örtlichen Behörden im Frühjahr 1916 feststellten, dass auf dem „liquidierten“ Kolonistenland keine Aussaat stattfand, sah sich der Ministerrat veranlasst, die Enteignungen für weitere zwei Jahre auszusetzen.
Aufgrund der Archivquellen lässt sich sagen, dass die Fläche des in den Gouvernements Petrograd und Tiflis sowie in einigen anderen Gouvernements tatsächlich enteigneten deutschen Landbesitzes vergleichsweise klein war. Und auch in der Region Sibirien zogen sich die entsprechenden Maßnahmen lange hin und wurden von der Mehrheit der Bevölkerung nicht oder nur passiv mitgetragen. Diese Entwicklung resultierte aller Wahrscheinlichkeit nach „aus einer nüchternen Einschätzung der wirtschaftlichen Bedeutung der in Sibirien gelegenen deutschen Höfe, bei denen es sich größtenteils um hinsichtlich ihrer Anbaumethoden vorbildliche Musterbetriebe handelte“.
Ol’ga Erochina zieht aufgrund des für das Gebiet des Donkosakenheers vorliegenden Materials den folgenden Schluss: „Die Enteignung des immobilen Besitzes fügte nicht nur den Kolonistenwirtschaften, sondern auch der gesamten Wirtschaft der von den Maßnahmen betroffenen Regionen erheblichen Schaden zu“. Zugleich weist auch sie darauf hin, dass die kleineren Landbesitzer in weit größerem Maße von den Maßnahmen betroffen waren als die Gutsbesitzer.
In seiner der Arbeit des russischen Parlaments gewidmeten Analyse kommt Baach zu dem Schluss, dass die Abgeordneten die deutsche Frage zwar ausgiebig diskutierten, letztlich aber keine Beschlüsse verabschiedeten, aufgrund derer sich die Lage der deutschen Bevölkerung nachhaltig verschlechterte. Alle in den Jahren 1914–17 auf dem Gebiet des Russischen Reiches geltenden einschränkenden Gesetze seien vielmehr vom Ministerrat auf Grundlage von Artikel 87 der Staatsgrundgesetze des Russischen Zarenreichs ohne Beteiligung des Parlaments verabschiedet worden.
Großen Raum nimmt in den Arbeiten der Historiker die Frage der Deportation der Russlanddeutschen ein. Es wird angenommen, dass insgesamt etwa 200 000 Menschen umgesiedelt wurden. Nelipovič geht davon aus, dass sich diese Zahl auf die aus dem Königreich Polen deportierten Deutschen bezieht. Die Autoren des entsprechenden Eintrags der Enzyklopädie „Die Deutschen Russlands“ nennen die gleiche Zahl unter Einbeziehung des Baltikums und der an Polen grenzenden Gouvernements. Eisfeld kommt zu dem folgenden Schluss: „Die 1915 aufgebrachte Idee, ausnahmslos alle im europäischen Teil des Russischen Reiches ansässigen Deutschen hinter den Ural zu deportieren, wurde letztlich nicht umgesetzt. Nach der Februarrevolution von 1917 war die Tendenz zu beobachten, die die Massendeportation betreffenden Akte aufzuheben“. In dem in der Enzyklopädie enthaltenen Eintrag zur Deportation wird zudem behauptet, Zehntausende [der Deportierten] seien auf dem mehrere Monate dauernden Weg und an den Orten der Aussiedlung ums Leben gekommen. Diese Zahl erscheint uns zweifelsohne zu hoch angesetzt, was davon zeugt, dass in der Frage der Deportation noch erheblicher Forschungsbedarf besteht.
Nach Einschätzung Oksana Beznosovas „fiel der Höhepunkt der antideutschen Kampagne in das Jahr 1915, als in Char‘kov, Sevastopol‘ und Ekaterinoslav die deutschen und russischen Baptisten- und Adventistengemeinden geschlossen wurden“. Dabei habe sich vor allem die orthodoxe Geistlichkeit durch eine ausgeprägte Hetze gegen die Anhänger der „deutschen Glaubenslehren“ hervorgetan und in erheblichem Maße dazu beigetragen, das entsprechende Vorgehen von Polizei und Gendarmerie ideologisch zu rechtfertigen.
Šubina weist darauf hin, dass die im Zuge der antideutschen Kampagne erlassenen Gesetzesakte in der Gesellschaft einerseits Zuspruch fanden, andererseits aber deren schleppende Umsetzung für Unmut sorgte. Darüber hinaus merkt sie an, dass die vor dem Hintergrund des Krieges und der allgemeinen patriotischen Aufwallung von der Regierung vollzogenen Maßnahmen dem Prinzip der Rechtssicherheit und insbesondere dem Schutz der Unantastbarkeit des Privateigentums widersprachen.
Nach der Februarrevolution von 1917 wurden die nationalen und konfessionellen Beschränkungen nach und nach wieder aufgehoben. So wurde z.B. der Gebrauch der Muttersprache in privaten Bildungsanstalten wieder erlaubt.
Aber auch schon zuvor hatte die Regierung laut Irina Čerkaz‘janova ungeachtet aller in den Kriegsjahren herrschenden antideutschen Hysterie keine Gesetze oder Dekrete erlassen, aufgrund derer die Kolonistenschulen oder andere deutsche Bildungsanstalten hätten schließen müssen: „Die von einzelnen politischen Kräften vorgebrachte Forderung nach Schulschließungen oder einem völligen Verbot der deutschen Sprache fand weder in der Gesellschaft noch im Bildungsministerium Unterstützung. Ein vollständiges Verbot der Schulen hätte auch die konfessionellen Interessen der Deutschen betroffen [...] Die Muttersprache war zwar nicht mehr die in allen Fächern gebräuchliche Unterrichtssprache, wurde aber in den Stunden des Deutsch- und Religionsunterrichts auch weiterhin genutzt“.
Aufschlussreich ist das Schicksal des „Sonderkomitees für den Kampf gegen die deutsche Dominanz“, dem bei der Umsetzung der antideutschen Kampagne eigentlich eine zentrale Rolle hätte zukommen sollen. Nach Einschätzung Sobolevs verfügte es allerdings über keinerlei reale Macht und wurde praktisch vollständig vom Ministerrat kontrolliert. Zugleich weist er darauf hin, dass gerade ein solches „an Händen und Füßen“ gefesseltes Organ gewesen sei, was die Regierung gebraucht habe, die zwar einerseits die Lorbeeren eines „aufrechten Kämpfers gegen den deutschen Einfluss“ habe einfahren wollen, andererseits aber nicht willens gewesen sei, das „Deutschtum konsequent zu liquidieren“.
Der Großteil der liberal orientierten Historiker ist sich einig, dass der durch die antideutsche Kampagne entstandene Schaden sowohl für die deutschen Kolonisten als auch für das gesamte russische Volk immens war. So schreibt z.B. Dmitrij Rešetov: „Innerhalb kürzester Zeit waren die in den westlichen Randgebieten Russlands ansässigen Kolonisten keine Hofwirte mehr, sondern ein ,Übersiedlerelement‘ – Leute ohne Land, ohne feste Beschäftigung und ohne eindeutige Zukunftsperspektiven“.
Nach 1917 fanden die „Rückkehrer, für die es kein staatliches Rückkehrprogramm gab, ihre Häuser in vielen Fällen entweder zerstört oder von Fremden bewohnt vor. Von den Behörden erhielten sie keinerlei Entschädigungen für die erlittenen Schäden. Vor diesem Hintergrund sahen viele von ihnen für sich keine Zukunft mehr in Russland und reisten nach Deutschland oder auf den amerikanischen Kontinent aus“.
Mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen psychologischen Folgen der antideutschen Kampagne zieht Beznosova das folgende durchaus plausible Fazit: „Die Allgegenwart von Misstrauen, Feindseligkeit und Bosheit traf nicht nur die deutsche Bevölkerung selbst. Sie verkrüppelte die Seelen aller, die in dieser Atmosphäre lebten, gebar Bitterkeit in den Herzen der einen und Schadenfreude und Feindseligkeit bei den anderen“.
Im Verlauf fast des gesamten Krieges war die Frage, wie loyal bzw. illoyal sich die deutschen Kolonisten verhielten, Gegenstand von Diskussionen, die auch in der späteren russischen Historiografie ihre Fortsetzung fanden. Ohne an dieser Stelle auf explizit rechtsradikale Positionen einzugehen, sollen im Folgenden die von moderaten Historikern in diesem Zusammenhang vorgebrachten Argumente angeführt werden.
Aleksej Voronežcev stimmt Nelipovič zwar grundsätzlich zu, dass die Deutschen Russland gegenüber bedingungslos loyal eingestellt gewesen seien und die Initiative, diese ausnahmslos alle für illoyal zu erklären, vom Staat ausgegangen sei, widerspricht ihm aber auch in zahlreichen Punkten. So erklärt er die von Nelipovič vertretenen Thesen (es habe keine „Germanisierung“ der baltischen Völker gegeben; die russische Regierung habe versucht, mithilfe der Liquidationsgesetze die Land- und Nationalitätenfrage zu lösen; jeder Russlanddeutsche habe allein aufgrund seiner deutschen Herkunft als verdächtig gegolten) für reine „Spekulation“.
Bezeichnend ist die von Voronežcev vertretene Hypothese, dass „die allermeisten Staaten wohl auch heute im Fall eines großen Konflikts ungeachtet aller vorgeblichen Toleranz zu präventiven und repressiven Maßnahmen gegen die Abkömmlinge feindlicher Staaten“ greifen würden, die seine pseudopatriotische Haltung erkennen lässt und angesichts einer gar zu simplen Übertragung auf den heutigen Kontext an mangelnder Wissenschaftlichkeit leidet.
Nach Einschätzung Tamara Černovas hat die heutige Historiografie zahlreiche frühere Einschränkungen überwinden können und sich auch moralisch-psychologischen Aspekten der „Beziehungen zwischen verschiedenen Mentalitäten“, dem Verhältnis zwischen den früheren Kolonisten und ihrer nichtdeutschen Umwelt oder der Reaktion der Vertreter der Staatsmacht vor Ort zugewandt. Dabei vertritt sie die These, dass die Deutschen angesichts des von der Autokratie verfolgten Kurses ihrerseits jegliche Loyalität gegenüber dem Zaren verloren hätten.
Gleich mehrere Historiker verweisen in ihren Arbeiten darauf, dass sich die Russlanddeutschen nahezu durchgängig patriotisch verhielten, was vor allem in Form von Lebensmittelspenden und anderen Hilfsmaßnahmen für die Front Ausdruck fand.
Nach Einschätzung Rešetovs entbehrten die von den Hurra-Patrioten gegen die Russlanddeutschen vorgebrachten Vorwürfe jeglicher Grundlage, da sich die an der Unteren Wolga ansässigen Russlanddeutschen zu keinem Zeitpunkt von ihrer russischen Heimat abgewandt und dieser in den schweren Jahren 1914–17 alle in ihrer Macht stehende Hilfe geleistet hätten.
Natürlich liegt es nahe, nach den Folgen der Kampagne des „Kampfes gegen die deutsche Dominanz“ nicht nur für die Russlanddeutschen, sondern auch für das politische Schicksal Russlands als Ganzem zu fragen. Dabei zeigen sich die heutigen Forscher deutlich reflektierter als ihre Vorläufer. So stellt Šubina in ihrer Dissertation die Frage, ob die (auch heute noch aktuelle) Suche nach einer einenden nationalen Idee auf der Basis von Fremdenfeindlichkeit überhaupt möglich sei.
Aleksandr Kadol weist darauf hin, dass die Instrumentalisierung der Ideologie der „deutschen Dominanz“ durch Staat und Gesellschaft das gesamtgesellschaftliche Klima in Russland vergiftet habe. So schreibt er etwa: „Oft spielte die Frage der politischen Loyalität bzw. Illoyalität (die rein fiktiv und deshalb sowohl aus moralischer als auch aus juristischer Sicht völlig unzulässig war) eine zentrale Rolle, wenn es darum ging, die Umsetzung dieser Maßnahmen zu begründen“. Die regionalen Behörden sorgten dafür, „dass die gesamte Gesellschaft von einer allgemeinen Spionagemanie erfasst wurde, und riefen zu Überwachung, Denunziantentum und banaler Verleumdung auf. All dies ging mit einer Intensivierung der über die deutsche Bevölkerung ausgeübten polizeilichen Kontrolle, mit dem Verbot deutscher Vereine und Organisationen und der deutschen Sprache, mit der Drangsalierung von Pastoren und Geistlichen, mit einer Kampagne zur Aufdeckung vorgeblicher Verschwörungen sowie mit der Suche nach Stützpunkten der deutschen Armee in den Siedlungen und anderen Spionagemythen einher. Einmal eingeleitet, ließen sich die Repressionsmaßnahmen nicht einfach stoppen“.
Die Angst vor feindlichen Agenten nahm in ganz Russland manische Züge an. In verschiedenen Regionen des Landes wurden gigantische Spionageorganisationen „aufgedeckt“. Nach Einschätzung Kadols resultierte diese Entwicklung aus dem Zusammenbruch des Wertesystems: „Der Gesellschaft mangelte es an echtem Patriotismus, der das ganze Volk hätte einen können, da der russische Patriotismus zur Zeit des Krieges eher ,fadenscheinig‘ war […] Die praktische Ausformung der national-patriotischen Idee diktierte die politische Polizei“.
Sobolev vertritt die These, die Ideologen der Liquidationspolitik habe nicht in erster Linie die tatsächliche Beseitigung des „deutschen Einflusses“ interessiert, sondern in weit größerem Maße die laute Begleitmusik: „Durch keinerlei objektive ökonomische Gründe gerechtfertigt und tragisch in ihren Folgen – so muss man die in den Jahren des Ersten Weltkriegs auf breiter Front durchgeführte Kampagne des Kampfes gegen die sogenannte ,deutsche Dominanz‘ charakterisieren“.
Eine etwas andere Position nimmt Šubina ein, die die These vertritt, dass die Angst vor einer friedlichen Eroberung des Landes durch den Kriegsgegner vor dem Hintergrund aufgeheizter nationaler Gefühle und allgemeiner Spionageangst zwar völlig übersteigerte Formen angenommen habe, für die Sorge vor einer „deutschen Dominanz“ aber durchaus objektive Gründe vorgelegen hätten. So habe das reichsdeutsche Kapital eine starke Stellung in der russischen Industrie, im Finanzwesen und im Handel eingenommen. Ein erheblicher Teil der Kolonisten habe in den Grenzregionen gelebt. Und die in Kriegszeiten übliche Nervosität habe die Angst vor Spionen wachsen lassen.
Letztendlich können wir uns den von Lykosov gezogenen Schlussfolgerungen anschließen: „Der Krieg wurde zu einer Bewährungsprobe des russischen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Systems, das sich den Herausforderungen der neuen Bedingungen nicht gewachsen zeigte, so dass sich die rechten Kräfte vor die Wahl gestellt sahen, zwischen Konservatismus und Patriotismus zu wählen, zwischen dem Bestreben, Traditionen und Werte der Agrargesellschaft zu bewahren, und der Notwendigkeit, das Land zu modernisieren, um den Herausforderungen des Westens effektiv etwas entgegensetzen zu können. Ungeachtet aller Versuche, einen Kompromiss zwischen diesen beiden Alternativen zu finden, konnten die Rechten keinen Ausweg aus dem Dilemma finden.
Die Bolschewiki wiederum konnten die modernisierungsfeindlichen, antikapitalistischen Stimmungen der Massen erfolgreich aufgreifen und die traditionellen ethnischen Kategorien in Klassenkategorien übersetzen“.
Abschließend lassen sich einige verallgemeinernde Schlüsse ziehen. Die der Frage des „Kampfes gegen die deutsche Dominanz“ gewidmete Historiografie ist sehr umfangreich. Bis heute beschäftigen sich zahlreiche Forscher mit dem Thema. Die meisten Arbeiten stammen aus den 1990er und 2000er Jahren, als die der Frage gewidmete Forschungsarbeit einen wahren Durchbruch erlebte. In dieser Zeit wurden zahlreiche interessante Dissertationen und Artikel verfasst, in denen die Verbreitung antideutscher Stimmungen in der Regierung und in verschiedenen Gesellschaftsschichten sowie die Tätigkeit der politischen Parteien analysiert und zum Teil auch die den Ereignissen von Seiten der Russlanddeutschen entgegengebrachte Haltung betrachtet wurde.
Als wichtigste Erkenntnisse, die wir diesem „historiografischen Durchbruch“ der letzten Jahrzehnte zu verdanken haben, sind unseres Erachtens die folgenden Hauptthesen zu nennen:
Die Vorgeschichte der antideutschen Kampagne geht bis in die Zeit Aleksandrs III. zurück und war einerseits durch die deutsche Reichsgründung und andererseits durch den Kurs in Richtung einer nationalstaatlichen Ausrichtung des Russischen Reiches bedingt. Der Krieg ließ die in Regierung und Gesellschaft schon längst entstandene Haltung nur deutlich zu Tage treten.
Geklärt sind die der antideutschen Hysterie zugrundeliegenden Ursachen, unter denen an erster Stelle die angespannte politische Lage im Land zu nennen ist, die ein patriotisches Zusammenrücken erforderlich zu machen schien.
Den Forschern ist es gelungen, auch über die traditionell besser erforschten Liquidationsgesetze hinaus eine Vorstellung davon vermitteln, welche konkreten Erscheinungsformen die antideutschen politischen Aktionen annahmen. Was wiederum die Enteignung des deutschen Landbesitzes betrifft, sind die heutigen Historiker zu der Erkenntnis gelangt, dass das Ausmaß der entsprechenden Aktionen deutlich geringer war als früher angenommen und diese in vielen Landesteilen von der Bevölkerung nicht unterstützt wurden.
Geklärt wurde auch, dass sowohl das russische Parlament als auch das Sonderkomitee für den Kampf gegen die deutsche Dominanz bei der antideutschen Kampagne eine untergeordnete Rolle spielten, während der Ministerrat die entscheidende Kraft darstellte, der sich wiederum nicht dazu durchrang, dem Kampf gegen die Liquidation des „Deutschtums“ entschieden entgegenzutreten.
Ein großer Teil der Historiker ist sich einig, dass die antideutsche Kampagne der Kriegszeit sowohl den deutschen Kolonisten als auch dem russischen Volk als Ganzem große Schäden zugefügt hat.
Letztlich standen unter den Bedingungen des Krieges die Traditionen und Werte der Agrargesellschaft, die in der Ideologie der Rechtskonservativen und im Massenbewusstsein des Volkes Ausdruck fanden, mit der Notwendigkeit in Konflikt, das Land zu modernisieren. Die Unfähigkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, half den Bolschewiki, die modernisierungsfeindlichen Stimmungen der Massen so umzuformulieren, dass es nicht mehr um ethnische, sondern um Klassenkategorien ging.
Als weiterbestehende Forschungslücken lassen sich die folgenden Punkte hervorheben: Das Thema des Kampfes gegen die „deutsche Dominanz“ ist nur in einzelnen Teilbereichen erforscht, während eine verallgemeinernde Arbeit auch weiterhin fehlt. Praktisch überhaupt nicht erforscht sind mögliche Parallelen zwischen der antideutschen Kampagne in Russland und ähnlichen gegen den jeweiligen Kriegsgegner gerichteten Kampagnen in Deutschland oder bei den westlichen Verbündeten Russlands. Es gibt nur sehr wenige Forschungsarbeiten, die sich den antideutschen Stimmungen in Staat und Gesellschaft mit Blick auf die Vorkriegszeit widmen. Unzureichend rekonstruiert ist die Chronik der Hauptereignisse der antideutschen Kampagne. Mit Blick auf die Frage der Deportation besteht weiterer Forschungsbedarf. Nicht abgeschlossen ist die Diskussion über die Loyalität bzw. Illoyalität der Russlanddeutschen. Praktisch noch vollkommen unerforscht ist die Reaktion der Russlanddeutschen selbst auf die von Staat und Gesellschaft ausgeübte Willkür.
Aus dem Russischen übersetzt von Lars Nehrhoff, Köln