„WIR FORDERN EINE UNVERZÜGLICHE Antwort:..“. Die Verteidigung Leningrads im Lichte von Dokumenten aus dem Parteiarchiv
Einleitende Bemerkungen
In dem vorgestellten Text werden vieldiskutierte Fragen der ersten Phase des Deutsch-Sowjetischen Kriegs aufgegriffen. Als Fallstudie dient die Verteidigung Leningrads in den Jahren 1941/42. Ausgangspunkt der Überlegungen des Autors, Andrej Sorokin, ist der von diesem konstatierte Umstand, dass in den letzten Jahren sowohl in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als auch im öffentlichen Bewusstsein zunehmend eine Neigung zur Mythologisierung und Heroisierung der Kriegsgeschichte zu beobachten sei. Dies wiederum habe zur Folge, dass Stereotypisierungen in immer größerem Maße das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis in den Hintergrund drängten. Da Mythen keine quellengestützten Fakten bedürften, blieben heute in den Archiven ganze Komplexe von Schlüsseldokumenten wie z.B. die Materialien des Staatlichen Verteidigungskomitees oder die persönlichen Fonds Stalins und anderer hochrangiger sowjetischer Politiker unbeachtet.
Seinem methodischen Grundprinzip einer „Rückkehr zu den Archiven als Basis der wissenschaftlichen Erkenntnis über den Krieg“ folgend, erschließt Sorokin eine Vielzahl schriftlicher Quellen zu den folgenden Themenbereichen: Charakter der Kampfhandlungen an den nordwestlichen und Leningrader Frontabschnitten, Kriegstauglichkeit und Kampfmoral der Roten Armee, Ausstattung der Truppen mit Waffen und Munition, professionelle Befähigung der Stalinschen Kommandokader, persönliche Rolle Stalins beim unmittelbaren Kommando über die Truppen sowie aus all dem folgend die Verluste an Menschenleben und Material in der Roten Armee.
Dabei kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Errichtung der Blockade Leningrads im Sommer/Herbst 1941 nicht zwangsläufig hätte erfolgen müssen, wenn es nicht zahlreiche Fehler bei der Organisation der Führung bzw. dem Zusammenwirken und der Versorgung der Truppen sowie gravierende Defizite bei der Ausbildung des höchsten Kommandostabs der Roten Armee gegeben hätte. Eine weitere wichtige Frage, der sich der Autor widmet, besteht darin, in welchem Maße die unter der Bevölkerung der Stadt in der ersten Phase der Blockade zu verzeichnende extrem hohe Todesrate durch die chaotische Durchführung der Evakuierung der in der Stadt lebenden Menschen bzw. durch den Umstand bedingt war, dass die forcierte Evakuierung von Industrieanlagen und Militärtechnik gegenüber der Evakuierung der Menschen Vorrang hatte. In dem Artikel wird ferner die moralische und psychologische Verfassung der für das Schicksal der Stadt verantwortlichen sowjetischen Bürokraten betrachtet. Sorokin versucht zu verstehen, inwieweit diese innerlich mobilisiert und auf die bevorstehenden harten Prüfungen psychologisch vorbereitet waren und inwieweit sie die Bereitschaft zeigten, das harte Schicksal der einfachen Blockadeopfer zu teilen.
Im Fazit seiner Ausführungen regt der Sorokin an, das sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch im öffentlichen Bewusstsein verbreitete Bild zu korrigieren, das mit dem Begriff „Blockade“ assoziiert werde. Da die Stadt kein ausschließlich passives Objekt äußerer Einwirkung war, sondern ein Akteur, der sich den zerstörerischen äußeren Kräften aktiv entgegenstellte und gewaltige Anstrengungen unternahm, um die Arbeit in den Betrieben, auf den Baustellen und in der Wissenschaft und der Technik aufrechtzuerhalten, schlägt er vor, nicht von einer Blockade, sondern von der Verteidigung Leningrads zu sprechen.
Andrej Sorokins Aufsatz erschien erstmals auf Russisch in der Zeitschrift „Zvezda“ (2014, Nr. 12, S. 176-192). Der Autor ist promovierter Historiker und Direktor des Russischen Staatlichen Archivs für Sozio-Politische Geschichte (RGASPI) in Moskau. Zu seinen Forschungsschwer-punkten gehören die politische und wirtschaftliche Geschichte Russlands.
„WIR FORDERN EINE UNVERZÜGLICHE ANTWORT...“Die Verteidigung Leningrads im Licht von Dokumenten aus dem Parteiarchiv
Eine unverzügliche Antwort forderte am 18. August 1941 um 0.30 Uhr Stalin von Ždanov und Kuznecov auf seine Direktive zum gleichzeitigen Vorrücken und Zusammenschluss der 54. Armee und der Leningrader Front.
Und auch wir fordern heute beim Blick auf die jüngere Vergangenheit eine Antwort. Und doch bleiben viel zu viele Fragen, die die russische Gesellschaft bis heute aufwühlen, unbeantwortet. Was nicht zuletzt daran liegt, dass wir nicht wirklich suchen und lieber spekulieren, als historische Fakten zu analysieren und Dokumente zu erforschen. Auf diese Besonderheit des russischen öffentlichen Bewusstseins hat vor hundert Jahren schon Ključevskij in seinem Tagebuch hingewiesen: „Wir haben uns wie Kinder und unreife Erwachsene für schöne historische Persönlichkeiten und dramatische Episoden interessiert, aber nicht für Geschichte. Den Grundstein des historischen Bewusstseins unserer Gesellschaft bildet die Anekdote.“ Wir wagen es, diese These des Klassikers der russischen Geschichtswissenschaft insofern anzufechten, als eine solche Herangehensweise an die historische Vergangenheit dem Massenbewusstsein einer jeden Gesellschaft (und keineswegs nur der russischen) und jeder Zeit eigen ist. Zu bedauern ist lediglich, dass die Stereotypen des Massenbewusstseins heute immer mehr in den Bereich der Wissenschaft vordringen und die wissenschaftliche Erkenntnis verdrängen bzw. deren Wert an sich in Frage stellen. Dabei vereint die Neigung zur Mythenbildung Vertreter aller möglichen gegensätzlichen Weltanschauungen. So wird das öffentliche Bewusstsein wahlweise mit ausschließlich heldenhaften oder ausschließlich negativen „Anekdoten“ gefüttert. Und natürlich kommen sowohl Anekdote als auch Mythos ohne Fakten und Dokumente aus.
Wahrscheinlich liegt darin der Grund, dass immer noch ganze Archivkomplexe uneingesehen sind, darunter auch Dokumente zur Geschichte des Großen Vaterländischen Krieg, ungeachtet ihrer Präsenz in der öffentlichen Diskussion. Das gilt auch für die Geschichte der Verteidigung Leningrads. Dokumente dieser Art gibt es viele. So werden z.B. im Russischen Staatlichen Archiv für Sozio-Politische Geschichte (RGASPI) die Fonds des Staatlichen Verteidigungskomitees, des Zentralen Stabs der Partisanenbewegung sowie die persönlichen Fonds Stalins, Ždanovs, Mikojans, Molotovs und anderer verwahrt. Der persönliche Fonds Stalins umfasst Materialien der Telefonate Stalins mit den Kommandeuren der Fronten, Befehle des Volkskommissars für Verteidigung usw. Einige dieser Fonds und vor allem der Stalinsche sind besser, andere wie die Dokumente des Technischen Sekretariats des Organisationsbüros des ZK der VKP(b) weniger bekannt. Die Nutzungslisten einer ganzen Reihe von Archivakten enthalten keinerlei Einträge: Sie hat noch nie jemand in den Händen gehalten – außer jenen, die diese Dokumente vor über siebzig Jahren verfassten, und den Archivaren, die sie beschrieben und in die staatliche Registratur aufgenommen haben. Solche Mappen gibt es z.B. im persönlichen Fonds Andrej A. Ždanovs.
Der Autor des vorliegenden Artikels hat in diesen Mappen keine Antworten gesucht, aber er stieß auf eine Reihe von Fragen, die das Feld für eine weitergehende geschichtswissenschaftliche Erforschung abstecken. Just diese im Zuge der Auseinandersetzung mit den Dokumenten aufgekommenen Fragen sollen an dieser Stelle dem interessierten Leser mitgeteilt werden.
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Unter den aufgezählten Dokumentensätzen des RGASPI sind vor allem jene von großem Interesse, die Verlauf und Charakter der Kampfhandlungen an der Nordwestlichen und an der Leningrader Frontlinie in der höchst dramatischen ersten Phase des Kriegs widerspiegeln. Wie wir alle wissen, nahm der Krieg für das Land einen überaus tragischen Anfang. Im Herbst 1941 drohte die Rote Armee eine Niederlage zu erleiden, in deren Folge das Überleben von Staat und Gesellschaft selbst auf dem Spiel stand. Über die Umstände dieser Niederlage geben zahlreiche Dokumente Auskunft.
Zunächst ist zu konstatieren, dass weite Teile der Armee offenbar keinerlei Kampfmoral zeigten. So teilte das Mitglied des Militärischen Rats der Nordwest-Front Korpskommissar Bogatkin dem Chef der Hauptverwaltung für Politische Propaganda Mechlis am 8. Juli mit: „Bis zum heutigen Zeitpunkt sind in den Einheiten – vor allem der Infanterie – immer noch mangelnde Standhaftigkeit [und] Angst vor dem Feind anzutreffen, insbesondere vor Luftwaffe und Panzern“.
Am 14. Juli schickte der Militärstaatsanwalt der Nordwest-Front, Blauberg, einen Bericht über den „Ermittlungsfall der Räumung der Pskover Befestigungsanlagen“ an das Mitglied des Militärischen Rats der gleichen Front, Generalmajor Viktor M. Bočkov, aus dem deutlich hervorgeht, dass die Befestigungsanlagen übergeben wurden, weil die zugeteilten 118. und 111. Schützendivision „ohne Feindberührung gehabt zu haben“ und ohne entsprechenden Befehl „den übereilten Rückzug antraten“. Dabei hätten die zurückweichenden Einheiten auch noch die über den Fluss Velikaja führende Brücke in Pskov gesprengt, wodurch die immer noch kämpfenden und unter dem Druck der überlegenen Kräfte [des Feindes] zurückweichenden Einheiten der Befestigungsanlagen selbst gezwungen gewesen seien, den Fluss unter Feindesbeschuss schwimmend zu durchqueren, was zu Verlusten geführt habe. Von insgesamt 215 schweren Maschinengewehren hätten nur neun über den Fluss gebracht werden können.
Am 24. Juli berichtete Štykov, 2. Sekretär des Leningrader Gebietskomitees und zu jener Zeit Mitglied des Militärischen Rats der Nordwest-Front, Ždanov von der 11. Armee: „Der Befehl des Kommandeurs der Armee [über den der Rückeroberung der Stadt Dno geltenden Gegenangriff; A. S.] wurde von den meisten Einheiten nicht umgesetzt. Und mehr noch: die 183. Schützendivision und die 202. Motorschützendivision verließen eigenmächtig das Schlachtfeld und zogen sich ins Hinterland zurück [...] die 202. Motorschützendivision zog sich in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli ohne jede Veranlassung ins Hinterland zurück [...] am 21. [Juli] wusste das Kommando nicht, wo seine Regimenter sind und was sie machen, wie die Lage bei den Nachbarn rechts und links ist, wer vor ihnen steht [...] Bei unserer Ankunft vor Ort haben sowohl in den Regimentern als auch bei der Führung der Division praktisch alle geschlafen [...] die 183. Schützendivision hat sich in der Nacht vom 20. auf den 21. weit ins Hinterland zurückgezogen [...] 70 Kilometer von der Front [...] das ist ein in der Geschichte einmaliger Rekord, dass eine Infanteriedivision innerhalb eines einzigen Tages solche Distanzen zurücklegt [...] Dabei handelte das Kommando der Schützendivision ohne jeden Befehl und ohne jede Erlaubnis [...] Jetzt läuft das Ermittlungsverfahren“.
Am 15.09.1941 wiesen Bulganin und Mereckov aus Valdaj Stalins Angebot zurück, Raketenwerfer neuester Bauart zu bekommen, da sie befürchteten, dass diese im Zuge eines möglichen ungeordneten Rückzugs in die Hände des Feinds geraten könnten: „Für jegliche Hilfe in Form von Panzern sind wir dankbar. Luft-Boden-Raketen haben wir gerade bekommen, ich fürchte mich mehr zu erbitten, da die Truppen wenig standhaft sind. Sobald die Lage günstiger ist, werde ich mich wieder melden“. Zum gleichen Thema äußerte sich am 31. August auch der Kommandeur der Artillerie der Roten Armee Voronov in einem an Stalin gerichteten Bericht aus Leningrad: „Es muss mit allen Mitteln dafür gesorgt werden, die Standfestigkeit unserer Infanterie im Kampf zu stärken.“ Vorwürfe dieser Art waren keineswegs nur an die Adresse der einfachen Mannschaftsgrade gerichtet. So wies Bogatkin in seiner bereits erwähnten Meldung an Mechlis ausdrücklich darauf hin, dass auch Kommandeure und Politoffiziere das Schlachtfeld verließen, was nur durch Gerichte und Erschießungen zu unterbinden war. Dabei wirkten sich, was die niederen Ränge betrifft, vor allem der Verlust der strategischen Initiative und die Niederlagen der ersten Kriegsphase negativ auf die Kampfmoral aus. „Die Infanterie agiert träge und unentschlossen“ – so beschrieben Vertreter des Kommandos immer wieder das Verhalten der sowjetischen Einheiten.
Natürlich fällt es im Lichte der angeführten Zitate schwer nachzuvollziehen, wie Bogatkin dennoch zu der Schlussfolgerung kommen konnte, der moralische Zustand der Fronttruppen sei in seiner großen Masse hervorragend. Bogatkin zeigte sich überzeugt, dass sowohl die einfachen Soldaten als auch die Kommandeure kämpfen wollten und sich nicht selten darüber empörten, dass „wir uns immer weiter und weiter zurückziehen“. Aber auch das gehört zur Wahrheit des Krieges. So auch an den Nordwestlichen und Leningrader Frontabschnitten, wo es übrigens anders als anderswo keine großen Einkesselungen und Durchbrüche gab – und dies nicht nur deshalb, weil dieser Frontabschnitt für die Wehrmacht recht bald zweitrangig wurde. Wir wissen von erfolgreichen Gegenschlägen der sowjetischen Truppen – im Juli 1941 bei Sol'cy, im August bei Staraj Russa und an anderen Orten. Bekannt ist die Aussage des Chefs des Generalstabs des deutschen Heeres, Halder, dass sich die Dinge im Norden nicht so entwickelten „wie sie sollten“. Der unerwartet langsame Vormarsch der Heeresgruppe Nord wurde zu einem der Gründe der „Kommandokrise“ der Wehrmacht, die ihren Höhepunkt Anfang September erreichte. Just dieses Aufblitzen von Kampfgeist, von dessen allgemeiner Verbreitung Bogatkin sich selbst und die Führung so gern überzeugen wollte, kam tatsächlich vor und sorgte schließlich, als es „überall“ auf die Armee übergriff, nicht nur für einen Stimmungswandel unter den Soldaten und Offizieren, sondern auch für den Kriegsgewinn.
Im Licht der oben zitierten Meldungen wirkt Befehl Nr. 270 des Oberkommandos der Roten Armee vom 16. August 1941 alles andere als willkürlich, der harte Strafen für Kommandeure und Politoffiziere sowie deren Familien vorsah, die fahnenflüchtig wurden oder sich in Kriegsgefangenschaft begaben.
Wenn man allerdings den Kontext betrachtet, wird in vielen der beschriebenen Fälle deutlich, dass sich das Verhalten der sowjetischen Truppen nicht allein durch fehlenden Kampfgeist erklären ließ. So wird in den Dokumenten immer wieder auf fehlende Munition sowie den Umstand verwiesen, dass „der Feind unsere Einheiten unter starkem Artillerie- und Granatwerferfeuer hält“.
Die Probleme der Kader der Roten Armee beschränkten sich nicht allein auf den vorübergehenden Verlust des Kampfgeistes. So machte der Kommandeur der Leningrader Front Fedjuninskij in einem telefonischen Bericht an den Stellvertretenden Chef des Generalstabs Vasilevskij vor allem „die schwache Führung von Seiten der mittleren Kommandoebene über ihre Unterabteilungen, Zug, Kompanie [so im Dokument; A. S.] für das Scheitern des Gegenangriffs am östlichen Frontabschnitt verantwortlich. In einigen Fällen müsse man direkt von Feigheit sprechen. Fedjuninskij gedachte das Problem zu lösen, ohne das Rad neu zu erfinden: „Vom Militärrat der Front wurden entschiedene Maßnahmen ergriffen, um den Vormarsch zu beschleunigen, Maßnahmen, die auch Repressionen einschließen“.
In dieser Anfangsphase des Kriegs durchliefen auch jene stalinschen Militärkader ihre Feuerprobe, die erst nach der totalen Säuberung des Kommandos der Roten Armee Ende der 1930er Jahre auf ihre Posten gekommen waren. In gleicher Weise stand auch die Qualität ihrer Ausbildung zur Prüfung. So hieß es in Befehl Nr. 0263 des Volkskommissars für Verteidigung vom 9. April 1942: „Im Laufe des Kriegs ist ein gravierender Mangel des bestehenden Ausbildungssystems unserer Kommandokader in aller Deutlichkeit zu Tage getreten. Dieser Mangel besteht darin, dass unsere Schulen unsere Truppenführer […] der Regimenter, Divisionen und Korps [und] die Kommandeure der Armee [zwar] für die Infanterie oder die Kavallerie ausbildet, ihnen aber [...] keine Ausbildung zu speziellen Waffengattungen (Luftwaffe, Artillerie, Panzer usw.) vermittelt, weswegen sie den Pflichten von Truppenführern nicht gerecht werden können“.
Stalin klagte mehrfach über die fehlende Initiative und Passivität des Führungsstabs. Einmal äußerte er sich im Gespräch mit Ždanov folgendermaßen über Vorošilov und den Kommandeur der Leningrader Front Popov: „Was machen Popov und Vorošilov? Woher kommt bei ihnen dieser Abgrund an Passivität und diese geradezu dörfliche Schicksalsergebenheit? Was sind das für Menschen – ich verstehe gar nichts mehr“. Damit lag Stalin natürlich richtig. Allerdings darf man auch nicht vergessen, wie der gleiche Stalin Ždanov, Vorošilov, Kuznecov und Popov Ende August 1941 am Telefon dafür abkanzelte, dass sie eben diese Initiative gezeigt und den Militärrat zur Verteidigung Leningrads eingerichtet hatten. In etwa die gleiche Richtung wie Stalin dachte auch Ždanov selbst in einem an diesen adressierten Schreiben: „Bei uns haben die Menschen noch immer nicht die Gewohnheit abgelegt, wie Gras zu wachsen, sie ziehen keine Schlüsse [und] analysieren nicht [...]“. Wie wir gesehen haben, ließen sich die Probleme allerdings nicht allein auf den höchsten Führungsstab beschränken. So konstatierte das Mitglied des Militärrats der Nordwest-Front Štykov am 24. Juli in einer Meldung an Ždanov: „Bei uns steht es schlecht um die Kommandeure, insbesondere um die Abteilungs- und Kompanie- […] [unleserliches Wort; A. S.]. Sie führen sehr schlecht“.
Schlecht bestellt war es auch um die Moral eines erheblichen Teils des Offizierskorps. So schrieb der Führer einer der Inspekteursgruppen und Sekretär des Leningrader Stadtparteikomitees Tjurkin am 25.05.1942 an Ždanov: „Wir sind gezwungen [...] einen harten Kampf insbesondere gegen den Alkoholmissbrauch des höheren Führungspersonals zu führen. Einige von ihnen sind buchstäblich dem Alkohol verfallen [...] [es folgt eine Aufzählung von Namen; A. S.]. Oberst XY hat es so weit getrieben, dass er seinen Feldrock mit zwei Orden versoffen hat!“.
Und auch fachlich waren viele der ihnen zufallenden Rolle nicht gewachsen. So berichtete das Mitglied des Militärrats Štykov in seinem bereits zitierten Schreiben vom 24. Juli an Ždanov: „Am 22.07. bin ich zum Stab der Front gefahren, habe den Kommandeur [der Front; A. S.] Sobennikov und Vatutin informiert [und] abgesprochen, was wie zu machen ist [...] Zunächst lief alles gut [...] Die Einheiten begannen den Vormarsch […] und trafen an einigen Orten nicht einmal auf Widerstand von Seiten des Feindes. Doch dann bekommen wir am 23.07. um 9.00 Uhr plötzlich die für uns vollkommen unerwartete Nachricht, dass sich Ivanov (16. Schützencorps) angeblich mit Zustimmung der Front auf die zweite Linie zurückgezogen hat [...] Das war ein schwerer Schlag für uns [...] Eine militärisch und politisch höchst wichtige Operation wurde vereitelt. Das grenzt doch schon an Verrat [...] Ivanov hat sich die Zweiteilung der Führung zunutze gemacht, d.h. der Befehl vom Stab der Armee hat ihm nicht gefallen, also hat er bei der Front anzurufen begonnen, um den Genossen Sobennikov von der Notwendigkeit eines Abzugs der Truppen zu überzeugen. Der Gen[osse] Sobennikov hat wohl geschwankt [und] [Ivanov] hat unter Verweis auf das Telefonat die Truppen abgezogen und [damit] praktisch die Operation vereitelt [...] Jetzt läuft ein umfassendes Untersuchungsverfahren. Sobennikov hat das Niveau eines Divisionskommandanten, aber nicht das Niveau des Kommandeurs einer Front“.
Wie schlecht es um die Disziplin stand, geht auch aus einer an Stalin adressierten Meldung Ždanovs, Govorovs und Popovs vom 26. Mai 1942 hervor, in der diese über einen Zwischenfall berichteten, der sich in der Stellung des 1247. Schützenregiments der 377. Schützendivision der 59. Armee zugetragen hatte. Als der Kommandeur der 28. Granatwerferbrigade Oberst S. am Kommandopunkt des Regiments Unterricht gab, gingen D. und B., zwei Kundschafter und frühere Strafbrigadler „singend und in angetrunkenem Zustand“ vorbei. S. trat aus dem Unterstand, forderte die beiden auf, das Singen einzustellen, und schlug dann zunächst auf den einen und dann auf den anderen Kundschafter ein. D. und B. wiederum eröffneten aus ihrer persönlichen Waffe das Feuer auf S. Dessen Begleiter schossen zurück, schließlich wurde B. getötet und D. verletzt und verhaftet. Dass es sich nicht um einen Einzelfall handelte, zeigt Befehl Nr. 0391 des Volkskommissars für Verteidigung vom 4. Oktober 1941 „Über Fakten der Ersetzung von Erziehungsarbeit durch Repressionen“, in dem mehrere konkrete Fälle angeführt werden, die dem beschriebenen ähneln. „In jüngster Zeit kommt es häufig zu Fällen illegaler Repression und gröbster Kompetenzüberschreitung von Seiten einzelner Kommandeure und Kommissare gegenüber ihren Untergebenen [...] Unbegründete Repressionen, Faustrecht und Handgreiflichkeiten [...] sind Erscheinungsformen von fehlendem Rückgrat und Kurzsichtigkeit, sie erreichen oft das Gegenteil des Gewollten, fördern den Verfall der Kampfdisziplin und der politisch-moralischen Verfassung der Truppen und können labile Kämpfer dem Feind in die Arme treiben“. Einen der Gründe sahen die Autoren des Befehls in dem Umstand, dass „einzelne Kommandeure und Politoffiziere bei schwierigen Kampfbedingungen den Kopf verlieren, in Panik geraten und die eigene Verstörtheit durch den grundlosen Gebrauch der Waffe überspielen“.
Es bedurfte gewaltiger Anstrengungen und härtester Maßnahmen (einschließlich von Strafmaßnahmen), um die Truppendisziplin und Kampfmoral der Armee sowie deren Bereitschaft zum Widerstand und zum Sieg wiederherzustellen. Davon zeugen Befehl Nr. 270 vom 16.08.1941 („Über die strafrechtliche Verantwortung von Kriegsdienstleistenden für den freiwilligen Übergang in die Kriegsgefangenschaft und die Überlassung der Waffe an den Feind“) und der berühmte Befehl Nr. 227 vom 28.07.1942 („Über Maßnahmen zur Stärkung der Disziplin und Ordnung in der Roten Armee und das Verbot des eigenmächtigen Rückzugs aus Kampfstellungen“), der die bekannte Losung „Keinen Schritt zurück“ enthielt, sowie eine Reihe weiterer Befehle.
Auffällig ist, dass das in vielen Meldungen beklagte fehlende Zusammenwirken einzelner Truppenteile selbst auf einem Level verzeichnet wurde, das zum Einmaleins der Kampfausbildung gehört. So wies etwa Bogatkin in seiner oben zitierten Meldung an Mechlis auf „fehlende Organisation und Verlust der Führung der Chefs über ihre Untergebenen während der Kampfhandlungen“ und „fehlendes Zusammenwirken von Truppenteilen“ hin: „Wenn Panzer und Infanterie angreifen, gibt es keine Luftwaffe, wenn die Infanterie angreift, keine Artillerie oder Panzer“ usw.
Der von Stalin nach Leningrad abkommandierte Kommandeur der Artillerie der Roten Armee Voronov berichtete diesem am 31.08.1941 ausführlich über solche Koordinierungsprobleme und fasste seinen ausführlichen Bericht folgendermaßen zusammen: „Die Schwachpunkte der Artillerie der Front sind: unbefriedigende Arbeit der Stäbe, schlechtes Zusammenwirken sowohl innerhalb der Artillerie selbst als auch zwischen dieser und anderen Waffengattungen, fehlende Kommunikationsmittel (Telefonkabel und Funkgeräte), fehlende Transportmittel und fehlende Mittel, diese Mängel zu beheben.
Stalin selbst sah sich mehrfach genötigt, der Führung der Leningrader Front die Grundelemente des Zusammenwirkens der verschiedenen Truppenteile zu erklären. Er forderte, sich an diese zu halten, so z.B. am 29. August: „In Leningrad gibt es jetzt viele KV-1-Panzer [KV-1, benannt nach Kliment Voroschilov; A. S.], Flugzeuge [und] Luft-Boden-Raketen. Warum kommt diese wichtige Technik nicht zum Einsatz [...]? Was kann irgendein Infanterieregiment gegen die deutschen Panzer ausrichten, wenn es vom Kommando ohne diese technischen Mittel [in den Kampf] gegen die Deutschen geschickt wird?“.
Am 8.11.1941 bläute er Ždanov und dem Kommandeur der Leningrader Front Chozin in einem Telefonat ein: „Ihr müsst wissen, dass die Infanterie ohne Panzer nicht losläuft. Nach dem Vorbereitungsfeuer der Artillerie muss man die Panzer vorschicken und erst nach den Panzern die Infanterie, nachdem man der Artillerie den Befehl erteilt hat, etwa 3-4 Kilometer östlich der Frontlinie unseren Panzern vorweg gegen den Feind zu schlagen [...] und überhaupt muss das Feuer im Zuge des Vormarsches [...] weiter verschoben werden [...] Es ist klar, dass die Luftwaffe und die Luft-Boden-Raketen das Ihrige machen müssen“. „Eine Infanteriedivision kann mit ihren Gewehren und Maschinengewehren gegen die Befestigungsanlagen des Feindes nichts ausrichten. Zuerst muss man durch Artillerie und Granatwerfer die Befestigungsanlagen zerstören, danach die Panzer losschicken und erst hinter den Panzern kann die Infanteriedivision ihre wahre Kraft zeigen“. Diese Belehrungen wiederholte er in den Gesprächen mehrere Male: „Die Panzer sind die Rettung eurer Infanterie und das Erfolgsgeheimnis eures Angriffs“. Ähnliche Belehrungen kamen auch aus dem Mund Šapošnikovs (Chef des Generalstabs) und Malenkovs, wenn sie die Telefonate in Abwesenheit Stalins in dessen Auftrag führten. Ždanov versicherte Stalin unterwürfig: „Wir werden die Arbeit der Artillerie so umstellen wie Sie befehlen“.
Aber die für die Verteidigung der Stadt Verantwortlichen konnten dieses Versprechen längst nicht immer erfüllen. Gleich mehrfach machte Stalin den Militärrat und das Kommando der Leningrader Front im Herbst auf die Notwendigkeit aufmerksam, bei den im September/November unternommenen Versuchen, den Belagerungsring um Leningrad zu durchbrechen, die zu diesem Zeitpunkt in ihrer Klasse besten schweren KV-Panzer einzusetzen, von denen es an der Leningrader Front mehr als an jedem anderen Frontabschnitt gab (was durch den Umstand zu erklären ist, dass sie vom Kirov- und vom Ižora-Werk bis zum letzten Moment hergestellt wurden, selbst dann noch, als deren langwierige Evakuierung bereits eingesetzt hatte). Um aber auch tatsächlich eingesetzt werden zu können, mussten die Panzer auf das gegenüberliegende Ufer der Neva gebracht werden. Mehrere Male stellten Stalin und Malenkov die immer gleiche Frage, ob es gelungen sei, die KV-Panzer über den Fluss zu schaffen, und jedes Mal erhielten sie die immer gleiche verneinende Antwort. Darüber berichtete Ždanov am 8. November. Schließlich teilte Ždanov Malenkov mit, dass die Mittel, um die KV über die Neva zu bringen, endlich gefunden seien. Diese Lösung bestand darin, Pontons bauen zu lassen, mit deren Bau gleich vier (!) Leningrader Unternehmen beauftragt wurden. In einem Gespräch, das Malenkov am 19. November mit Leningrad führte, ist eine symptomatische Passage enthalten. Malenkov: „War der Geländegewinn an der Front heute schwach?“ Kuznecov: „Völlig richtig, es gab sogar eigentlich keinen, da wir bis jetzt mit Sperrfeuer angegriffen und gegen den Mann geschlagen haben“. Malenkov: „Habt ihr wenigstens einen KV über den Fluss bringen können?“ Kuznecov: „Wir bringen heute Nacht einen rüber“. Erst am 1. Dezember teilten Chozin und Ždanov Stalin und Molotov schließlich mit, dass es ihnen gelungen sei, 20 KV-Panzer (und einige mittelgroße und kleine Panzer) auf das linke Ufer der Neva zu schaffen. So kostete diese naheliegende (aber nichtsdestotrotz lange nicht umgesetzte) Entscheidung wertwolle Tage, in denen die Schützendivision ungeachtet fehlender Unterstützung durch Panzer nicht von ihren Versuchen abließen, den Verteidigungsring des Feindes zu durchbrechen!
Weniger schlecht stand es an der Leningrader Front um die Artillerie. So resümierte Voronov in seinem bereits erwähnten Chiffre-Telegramm an Stalin: „Nach Menge und Kaliber der Artillerie ist die Leningrader Front der Artillerie des Feindes überlegen“.
Schlechter standen die Dinge bei der Luftwaffe. Nicht nur mangelte es in einem solch katastrophalen Maße an Flugzeugen, dass Malenkov einmal sogar misstrauisch bei Ždanov und Chozin nachfragte: „Wiederholt das noch mal, wie viele Kampfbomber habt ihr noch? Wirklich nur zwölf?“. Selbst das, was dem Kommando der Leningrader Front zur Verfügung stand, wurde nicht optimal eingesetzt. Am 4. September kanzelten Stalin und Šapošnikov. Vorošilov und Ždanov ab: „In Tichvin stehen zwei Luftwaffendivisionen, die 39. und die 2., beide stehen zu Ihrer Verfügung, aber sie werden von Ihnen nicht angefordert“. Hinsichtlich der Luftwaffe war die Lage so ernst, dass es eine Zeit lang zur Norm wurde, die Luftwaffe zur vorübergehenden Nutzung jenen Frontbereichen zur Verfügung zu stellen, die besonders auf Luftunterstützung angewiesen waren. So baten Ždanov und Chozin in ihrem bereits zitierten Gespräch mit Malenkov, dem Genossen Stalin zu berichten, dass am Folgetag die Frist ende, für die ihnen die Douglas und Tupolevs zugeteilt seien, und baten, deren Einsatzzeit zu verlängern.
Fehlende Bewaffnung, Munition und Ausrüstung waren in den Gesprächen der Vertreter des Oberkommandos der Roten Armee ein immer wiederkehrendes Thema. So berichtete der Bataillonskommissar Krymov („Hauptfeldwebel der Gruppe der Politoffiziere“) Ždanov am 21.07.1941 aus der 125. Schützendivision der 8. Armee der Truppen des nordwestlichen Frontabschnitts: „Laut Sollstärke soll es in jedem Regiment sechs 76mm-Geschütze, zwölf 45mm-Geschütze, 27 50mm-Geschütze, 18 82mm-Granatwerfer und vier 120mm-Granatwerfer geben, nichts davon ist heute in den Regimentern vorhanden. Statt 36 schwerer Maschinengewehre haben die Regimenter nur jeweils 2-4 Maschinengewehre. Leichte Maschinengewehre und andere automatische Waffen gibt es nur äußerst wenige. Panzerabwehrkanonen gibt es gerade mal drei statt 18, Flakgeschütze nur eines statt 12 [...] Es gibt nicht genug Granaten. Panzer und Panzerwagen sind nicht vorhanden. Unsere Luftwaffe steht der Einheit nicht zur Verfügung [...] Das Sanitätsbataillon der Division hat gerade einmal vier Fahrzeuge statt der vorgesehenen 50 [...] Großer Mangel herrscht an Sanitätsmaterial – Verbandsmaterial, Instrumente usw.“.
Der Mangel an Munition bestand permanent. In einem an Stalin adressierten Bericht über den Zustand der Artillerie der Leningrader Front nannte der Chef der Artillerie der Roten Armee Voronov fehlende bzw. nicht ausreichende Munition als Hauptprobleme. Und auch Anfang Dezember hatte die Versorgung mit Munition sich nicht gebessert – diesmal war es Ždanov, der Stalin von dem Problem berichtete. Der Mangel an Technik und Munition (der sowohl auf objektiven Gründen als auch auf individuelle Fehlentscheidungen zurückzuführen war) war es letztlich auch, der jene Form der Kriegsführung nach sich zog, die Kuznecov als „gegen den Mann schlagen“ beschrieb.
Ždanov versuchte sogar, dieser Form der Kriegsführung eine theoretische Basis zu geben und sie gegenüber Stalin zu rechtfertigen. So schrieb er am 5. Dezember 1941 an Stalin: „In diesen Tagen haben wir uns intensiv mit der Frage beschäftigt, wie sich die Mittel unseres Angriffs verbessern und vervollkommnen lassen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass unsere Misserfolge vor allem im schwachen Gebrauch der Feuerkraft der Infanterie ihre Ursache haben [...] Wir haben uns alle daran erinnert, was Sie im Finnischen Krieg angewiesen haben [...] und sind zu dem Schluss gekommen, dass man eine regelrechte Revolution in den Hirnen der angreifenden Armee vollziehen [...] und die Menschen von dem Gedanken abbringen muss, dass die Artillerie und die Luftwaffe alles für sie übernimmt [...] Wir denken, dass darin der Schlüssel unserer Erfolge liegt [...]“. Im weiteren folgt eine Passage, die alle vorhergehenden Überlegungen ad absurdum führt: […] Zumal wir fast keine 122mm-Geschütze, keine 152mm-Geschütze und Granaten für 120mm-Granatwerfer mehr, aber dafür 45mm-Geschütze und 50 Granatwerfer im Überfluss haben […] Diese einfachen Wahrheiten muss man ausnahmlos allen vor dem Kampf einbläuen […]“. Im Ždanov-Archiv gibt es ein Dokument (Notiz „Über die Verteidigung des Feindes bei Leningrad“), dessen Bestimmung nicht ganz klar ist, das aber wohl als Agitationsmaterial oder als eine Art Instruktion für den Gebrauch in der Truppen eingesetzt werden sollte. Seine Kernaussage lief wohl auf die folgenden Sätze hinaus: „Der Deutsche fürchtet den russischen Bajonettangriff und hält diesem nicht stand. Wenn du nun also die schwache Seite des Feindes kennst – gehe schneller zum Bajonettangriff über“.
Diese durch Mangel an Geschützen und moderner Bewaffnung erzwungenen Bajonettangriffe, für die auch noch eigens eine theoretische Basis geschaffen wurde, waren maßgeblich für die gewaltigen Verluste der Roten Armee in der Schlacht verantwortlich, die offensichtlich deutlich niedriger hätten sein können.
Stalin gab in den beschriebenen Situationen nicht ganz das gewohnte Bild ab. Es war es nicht er, der die sowjetischen Infanteristen zu den Bajonettangriffen trieb. Ganz im Gegenteil forderte er ein ums andere Mal von den Kommandeuren der Fronten und Armeen, die menschlichen Ressourcen zu schonen. Im Gespräch mit Popov teilte Stalin mit, dass man die von der Front angeforderte Division Klykovs nicht übergeben könne, da diese vollkommen frisch und überhaupt nicht ausgebildet und es ein Verbrechen sei, sie an die Front zu schicken: „Sie würden sowieso auseinanderlaufen und ihre Ausrüstung dem Feind überlassen. Wenn eure Leute nach Plan arbeiten könnten und von uns vor zwei Wochen vorausschauend 2-3 Divisionen angefordert hätten, stünden sie jetzt für euch bereit [...]“.
Aber die missliche Lage an der Front fordere ihren Tribut und ließ auch Stalin in bestimmten Momenten diktieren: „Vor keinerlei Opfern Halt machen: sich den Weg nach Osten freischlagen“. Das entscheidende Problem blieb, dass Menschen die einzige Ressource darstellten, die dem Kommando für Verteidigung und Angriff überhaupt zur Verfügung stand, was in kritischen Situationen zu extrem grausamen Entscheidungen führte.
Die Probleme bestanden in der Anfangsphase des Kriegs natürlich nicht allein in fehlender Bewaffnung, sondern auch in der Desorganisation der Truppenführung. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang ein Dialog über „verlorene Luftwaffendivisionen“ in dem bereits zitierten Telefonat Stalins mit dem Kommando der Leningrader Front, der sehr anschaulich demonstriert, wie groß das Chaos in den ersten Kriegsmonaten war. Stalin: „Was ist, braucht ihr wirklich keine Luftwaffe?“ Vorošilov, Ždanov: „Für uns ist das eine angenehme Überraschung […] Uns hat niemand darüber informiert, dass in Tichvin für unsere Front bestimmte Luftwaffendivisionen stehen“. Stalin: „Ihr habt uns nicht verstanden. Die beiden Luftwaffendivisionen sind eure eigenen alten Divisionen. Eure Front weiß bloß nichts von ihrer Existenz oder hat es vergessen [...] Ihr wisst oder wusstet einfach nicht und habt erst jetzt von uns erfahren, dass im Rayon Tichvin, und nicht etwa in Tichvin selbst, eure zwei Divisionen sitzen, die bis jetzt keinen Auftrag bekommen haben [...]“. Vorošilov, Ždanov: „Nein, wir haben nicht vergessen, dass es diese Divisionen gibt, aber diese Divisionen bekamen und bekommen ihre Befehle vom Chef der Luftstreitkräfte und nur das schlechte Flugwetter der letzten Tage hat verhindert, dass diese Divisionen eingesetzt wurden [...]“. Stalin: „Eins von beidem – entweder sind diese Divisionen für euch eine angenehme Überraschung oder sie waren euch schon lange bekannt. Ihr müsst euch schon entscheiden“.
Unkoordiniert waren auch die Aktionen ganzer Truppenverbände. Immer wieder rügte Stalin die Kommandeure dafür, das Hauptquartier nicht rechtzeitig informiert zu haben. So fragte Malenkov Ždanov und Chozin am 13.11.1941: „Hat bei euch wirklich am 12. November der Angriff begonnen, wo und mit welchen Kräften wird dieser Angriff geführt?“. Freilich ließ sich ein solcher Vorwurf mit Leichtigkeit auch in entgegengesetzter Richtung erheben. So schrieb Tjurkin nach seiner Rückkehr aus Moskau am 25.05.1942 an Ždanov: „Meine Empörung kennt keine Grenzen. Ihnen wird unter Verweis (Behauptung des Stabschefs) auf ein angeblich bestehendes Verbot des Hauptquartiers, das Dokument in vollem Umfang zu übermitteln, bis zum heutigen Tag nicht der Inhalt der letzten Anordnungen des Hauptquartiers übermittelt. Jetzt vergeht schon der zweite Tag, und ich weiß mit Bestimmtheit, dass Ihnen das Dokument auch ,mit eigenen Worten‘ nicht übermittelt wird“.
Das Kommando in Moskau zeigte sich mal besser, mal schlechter informiert als das Kommando vor Ort. So richtete Šapošnikov am 8.09.1941 den Vorwurf an Generalleutnant Gorelenko, über den Durchbruch bei Cvetaev früher durch ein Telefonat aus Lodejnoe Pole von General Zacharov als durch dessen [Gorolenkos] Stab informiert worden zu sein.
Ein in dieser Hinsicht symptomatisches Gespräch führte Stalin am 20.09.1941 mit Marschall Kulik, der eine Zeit lang die 8. Armee führte, die die Blockade von östlicher Seite durchbrechen sollte. Auf Stalins Vorschlag, die Armee in die Leningrader Front zu integrieren, wandte Kulik ein: „[...] Meine Verbindung nach Leningrad ist äußerst schlecht, mit Moskau ist die Verbindung vollständig gesichert. Es wäre besser, wenn der Generalstab unsere Aktionen koordiniert.“ Nun war es schon an Stalin zu widersprechen: „Aber der Generalstab hat [noch] weniger Verbindung mit der Leningrader Front als ihr. Für den Generalstab ist es sehr schwer, eure Aktionen mit den Aktionen der Leningrader Front zu koordinieren […]“.
Wäre es im Sommer/Herbst 1941 möglich gewesen, die Errichtung der Blockade Leningrads zu verhindern? Zahlreiche Fehlkalkulationen bei der Organisation der Truppenführung, beim Zusammenwirken der verschiedenen Waffengattungen, bei der taktischen Ausbildung und bei der Ausrüstung, die sofort ins Auge fallen, wenn man sich mit den zugänglichen Dokumenten bekannt macht, zeugen zumindest davon, dass es nicht zwangsläufig zur Blockade hätte kommen müssen.
* * *
Für das Schicksal unzähliger Einwohner Leningrads spielte der unzureichende Organisationsgrad sowohl der Verteidigungsmaßnahmen als auch der Evakuierung der Stadt eine tragische Rolle. Die Probleme Leningrads und die an diesem Frontabschnitt drohenden Gefahren wurden in Moskau schon bald nach dem Einmarsch der Wehrmacht offensichtlich. Die in Leningrad und an den Zugangswegen nach Leningrad entstandene Lage konnte Moskau nicht genehm sein. Am 22.08.1941 rügte Stalin Ždanov, Vorošilov, Kuznecov und Popov für die mit Moskau nicht abgestimmte Gründung des Militärrats zur Verteidigung Leningrads und zeigte sich äußerst verwundert darüber, dass sich die Leningrader Führung mit der Wählbarkeit der Kommandos der Arbeiterbataillone einverstanden erklärt hatte (letzteres wundert freilich auch uns). Zudem wies er ausdrücklich auf die Verzögerung der Evakuierung der Bevölkerung hin, rügte das fehlende Verständnis für die Verpflichtung, das Hauptquartier über die eingeleiteten Verteidigungsmaßnahmen zu informieren, und kritisierte Fehler beim Aufbau der Verteidigung, Passivität und ausbleibende Gegenangriffe. „Aus eurem Befehl über die Gründung des Verteidigungsrats geht hervor, dass sich die Verteidigung Leningrads darauf beschränkt, mehr oder weniger schlecht bewaffnete Arbeiterbataillone zu gründen, die nicht eigens durch die Artillerie gestützt werden […] Vielleicht ist in eurem Verteidigungsplan, wenn ihr denn überhaupt einen habt, ja eine Artillerieverteidigung vorgesehen, aber der Regierung und dem Hauptquartier ist davon nichts bekannt. Wir fordern, dass Ždanov und Vorošilov uns ausnahmslos alle ihre, die Operationen betreffenden Pläne mitteilen. Sie machen das leider nicht, sie haben sich in nicht nachvollziehbarer Weise dafür entschieden, eigenmächtig zu handeln, und erlauben sich Fehler, die sich auf die Qualität der Verteidigung Leningrads auswirken […] Ihr seid einfach unorganisiert und fühlt euch für eure Taten nicht verantwortlich, weshalb ihr auch wie auf einer isolierten Insel agiert, ohne auf irgendwen Rücksicht zu nehmen […]“. Im Zuge dieses denkwürdigen Gesprächs machte Vorošilov ein vielsagendes Eingeständnis über die Qualität und Bewaffnung der erwähnten Arbeiterdivisionen. So hatte die Führung der Verteidigung der Stadt in die Krasnogvardejsker Befestigungsstellungen eine aus Leningrader Arbeitern zusammengestellte Division gesetzt, die praktisch keinerlei Ausbildung erhalten hatte: „Am 19. waren wir gezwungen, die dritte Arbeiterdivision in die Befestigungsstellung zu stellen, die nur zur Hälfte mit [nicht automatischen] Gewehren bewaffnet war. Außerdem gibt es in der Befestigungsstellung 14 Maschinengewehrbataillone, von denen nicht eines vollständig mit Maschinengewehren bewaffnet ist und 25-50% nichtautomatische Gewehre haben.
Ende August – Anfang September treffen wir immer wieder die gleichen an die Adresse der Leningrader Führung gerichteten Invektive Stalins: „Die mir unbegreifliche Untätigkeit des Leningrader Kommandos beunruhigt mich“, „Ich fürchte, dass Leningrad auf idiotische Weise übergeben wird und alle Leningrader Divisionen in Kriegsgefangenschaft geraten“, „Uns empört euer Verhalten, das darin Ausdruck findet, dass ihr immer nur den Verlust von Ortschaften mitteilt. Vielleicht habt ihr ja schon vorab entschieden, Leningrad zu übergeben?“. Angesichts der unbefriedigenden Lage entsandte Moskau eine hochrangige, von Molotov und Malenkov geführte Kommission nach Leningrad, um die Dinge vor Ort zu klären und die Führung in Ordnung zu bringen, da man offenbar nicht davon ausging, dass dies mit den in Leningrad ansässsigen Kräften möglich war. Zu den Hauptaufgaben, denen sich die Kommission „im Laufe des ersten Tages“ widmete, gehörte neben der Klärung der Lage der vor Ort vorhandenen Artillerie und Luftstreitkräfte, einer möglichen Unterstützung durch Matrosen sowie Fragen der Evakuierung und der Lebensmittelversorgung auch die „Aussiedlung von 91 000 Finnen und 5 000 Deutschen. Die Resultate der Tätigkeit dieser hochrangigen Kommission warten noch auf ihre Erforschung. Bekannt ist allerdings, dass Vorošilov am 26. September aus Leningrad und aus der kämpfenden Truppe komplett abgezogen wurde.
Mehrfach wurde Ždanov von Stalin „für die Verzögerung der Evakuierung der Bevölkerung“ gerügt. Erstmals war diese Kritik Mitte des Sommers 1941 zu hören. Und auch noch ein halbes Jahr (!) später ertönte die gleiche Kritik auf dem Höhepunkt des schrecklichsten Blockadewinters, diesmal von Seiten Mikojans, der Ždanov am 14. Januar aufforderte, die Evakuierungsmaßnahmen zu forcieren: „Nach den [uns] vorliegenden Informationen werden die zur Beschaffung von Lebensmitteln nach Vojbokalo fahrenden Fahrzeuge nur in geringem Umfang zur Evakuierung der Leningrader Bevölkerung eingesetzt [...] Die Evakuierung muss intensiviert werden, um Leningrad von überflüssigen Essern zu entlasten, indem man in vollem Umfang die zum Transport von Lebensmitteln genutzten Fahrzeuge einsetzt“. Mikojans Intervention war offenbar dadurch motiviert, dass die „Eisstraße“ (wie die spätere „Straße des Lebens“ in den Dokumenten genannt wird) allem Anschein nach zunächst vor allem dazu bestimmt war, Versorgungsfragen zu lösen. Und selbst in dieser Funktion wurde ihr zunächst kaum ernsthafte Bedeutung beigemessen. Formal wurde die Entscheidung über den Bau der „Eisstraße“ am 19. November auf Initiative Ždanovs vom Militärrat der Leningrader Front getroffen, tatsächlich wurde allerdings bereits am 18. November der erste Strang gelegt und die ersten Fahrzeuge fuhren am 22. November über das Eis. In einer an Chozin (Kommandeur der Leningrader Front) gerichteten Direktive bestätigte Stalin am 27.11.1941 diese Entscheidung, erklärte aber rundheraus, dass er die Sache für wenig verlässlich halte und ihr keine ernsthafte Bedeutung für die Leningrader Front beimesse. Das Ziel bestand weiterhin darin, den Belagerungsring zu durchbrechen. Erst nach dem Scheitern dieser Aufgabe sollte sich die wahre Bedeutung dieser Transportader zeigen. Die Gesamtlänge der Strecke betrug 308km in einer Richtung, wobei das Fahrtempo so niedrig war, dass die Transporte für die Strecke 10 Tage brauchten. Nach der Verdrängung der Deutschen aus Tichvin verkürzten sich im Dezember 1941 Streckenlänge (111km) und Fahrzeit auf den zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Streckensträngen. Die täglich auf den Weg gebrachte Transportmenge stieg innerhalb weniger Monate von 376 Tonnen im November/Dezember auf 3 395 Tonnen im April.
Vom 21.01. bis zum 20.04.1942 wurden über die Trasse 514 069 Menschen evakuiert. Just mit diesen Angaben operierte Mikojan in seinen Berichten, und es war sicher kein Zufall, dass er Ždanov gerade einmal eine Woche vor dem erstgenannten Datum zur forcierten Evakuierung der Zivilbevölkerung gemahnt hatte. Die Frage, warum die Massenevakuierung über die Eisstraße erst Ende Januar auf Zuruf Moskaus begann, gehört zweifellos zu den wichtigsten [Fragen], die an die Führung der Stadt zu richten sind. Die verbreitete Ansicht, dass die tatsächliche Zahl der Evakuierten bis zum heutigen Tag nicht bekannt ist, bedarf eindeutig der Korrektur. Von Januar 1942 an wurden alle Evakuierten präzise erfasst. So wurden über die bereits genannten Zahlen hinaus in der Schifffahrtsperiode vom 22.05. bis zum 7.01.1943 weitere 528 400 Menschen und über die Eisstraße vom 24.12.1942 bis zum 30.03.1943 83 011 Menschen aus Leningrad evakuiert.
Man muss sagen, dass die bei der Evakuierung zu verzeichnenden organisatorischen Fehler nicht allein den örtlichen Behörden angelastet werden können. Der gleiche Vorwurf ist auch an Moskau zu richten. Die Evakuierungsmaßnahmen waren in vielerlei Hinsicht nicht gänzlich durchdacht und zuweilen chaotisch. Das lässt sich kaum leugnen. Hätte es anders sein können? Wahrscheinlich nicht. Den Umfang der Transportfahrten solchen Maßstabs vorauszusehen und fehlerfrei zu berechnen, war unter den gegebenen Umständen kaum möglich. So stoppte Stalin z.B. am 28. August zunächst die vom Staatlichen Verteidigungskomitee einen Tag zuvor verkündete Evakuierung des Kirov- und des Ižora-Werks, um die gesamte Panzerproduktion im Verfügungsbereich der Front zu belassen. übermittelte Ždanov und Kuznecov aber am 4. Oktober erneut den „Vorschlag Moskaus“, Anlagen, Ingenieure, Techniker und Facharbeiter der mit der Produktion von Panzern und Panzerkanonen beschäftigten Fabriken – Kirov, Ižora und Fabrik Nr.174 – „aus Leningrad nach Osten zu bringen und 50 fertige Panzerkanonen in Leningrad zu lassen“. Dabei schlug Stalin sogar vor, „das Čeljabinsker Traktorenwerk in Kirov-Werk und Uralmaš in Ižora-Werk umzubenennen“. Angesichts dieser Entscheidungen, die die Leningrad verteidigenden Truppen praktisch ohne Militärtechnik ließen, lässt sich vermuten, dass das Oberkommando zu diesem Zeitpunkt das Szenario einer Übergabe der Stadt nicht mehr ausschloss. Jedenfalls wurde später, als sich die Verteidigungslinie stabilisiert hatte, der Versuch unternommen, die Evakuierung zu stoppen. So fragte Malenkov am 19. November bei Kuznecov an, ob es nicht möglich wäre, kurzfristig in Leningrad die Produktion von KV [-Panzern] wiederaufzunehmen. Aber es sollte schon zu spät sein, da die Anlagen und ein Großteil der Arbeiter dieser und anderer Rüstungsbetriebe bereits aus der Stadt geschafft worden waren.
Die gleiche Geschichte erzählt auch die Evakuierung der Anlagen des Rangierbahnhofs von Volchovstroj. Zunächst nach Uzbekistan zu Čirčikstroj evakuiert, wurden sie bereits im Januar 1942 mit zwei Militärzügen (70 Waggons) in die entgegengesetzte Richtung gesendet.
Natürlich drängt sich die Frage auf, inwieweit sich diese ungeordnete Evakuierung und das daraus resultierende organisatorische Chaos bei der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern negativ auf die Verteidigung der Stadt auswirkte und zu einem der Gründe der in der ersten Phase der Blockade extrem hohen Todesrate unter der Bevölkerung wurde.
Es ist anzumerken, dass der Umfang der im Winter 1941/42 aus Leningrad herausgeschafften Evakuierungsfrachten gewaltig war. Ihr Transport erforderte 3 677 Eisenbahnwaggons. In der Schifffahrtsperiode 1942 wurden 141 000 Tonnen Industrieanlagen, 139 Lokomotiven und 1 058 Eisenbahnflachwagen abtransportiert. Inwieweit es gerechtfertigt war, dem Abtransport all dieser Frachten gegenüber der Evakuierung der Menschen den Vorrang zu geben, ist eine weitere Frage, deren Erforschung noch aussteht. Die Evakuierung von Industrieanlagen wurde über zwei Jahre lang fortgesetzt! Erst am 12. November 1943 fasste das Staatliche Verteidigungskomitee auf Vorschlag Mikojans, Kosygins und Ždanovs Beschluss Nr. 4544, dem zufolge die „Evakuierung von Industrieanlagen aus der Stadt Leningrad eingestellt“ werden sollte.
Man muss festhalten, dass die bei der Organisation des Lebens in der eingeschlossenen Stadt begangenen Fehler allem Anschein nach auch schon den Zeitgenossen nicht verborgen blieben. So lässt sich in den Papieren Ždanovs ein persönlicher Brief des Mitglieds des Militärrats der 67. Armee (und späteren Chefs der Politverwaltung der Leningrader Front) Tjurkin an Ždanov finden, in dem dieser schrieb: „[…] Die Vorbereitung auf das Frühjahr ist offenkundig gescheitert und dutzende Menschen sind verhungert oder haben wegen der unerträglichen Bedingungen die Heimat verraten. Aber das alles blieb ungestraft“.
Zur Ehrenrettung der Führung des Landes und der Stadt ist anzumerken, dass die Evakuierung der Zivilbevölkerung mit der Zeit zunahm. So wurden in der sommerlichen Schifffahrtsperiode 1942 weitere 539 597 Menschen (darunter 448 010 Zivilisten) und im Winter 1942/43 weitere 88 932 Menschen aus Leningrad herausgebracht, obwohl auf Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees nur 300 000 Personen evakuiert werden sollten.
Die Qualität der über die Stadt und die Truppen ausgeübten Führung war in vielerlei Hinsicht von der moralischen und psychologischen Verfassung der Vertreter der herrschenden Klasse abhängig. So stellt sich die Frage, in welcher Verfassung die Leningrader Elite den Herausforderungen der Blockade heranging (wie auch die Elite des gesamten Landes an die Herausforderungen der ersten Kriegsphase begegnete), inwieweit sie innerlich mobilisiert und psychologisch auf die bevorstehenden Prüfungen vorbereit war. In den im RGASPI verwahrten Akten der Abteilung für Parteiorgane des Büros des ZK der KPdSU für die RSFSR findet sich ein von Ivan T. Ivankin gezeichnetes, an Nikita S. Chruščev adressiertes Schreiben vom 15.03.1955 „Zum Beschluss ,Über den Gen. Malenkov, G.M.‘ des Januarplenums des ZK der KPdSU“, in dem Ivankin (in den Kriegsjahren Leiter der Agitpropabteilung des Vyborger Rayonsparteikomitees, Ende der 1940er Jahre Sekretär des Novgoroder Gebietskomitees) den Inhalt eines Gesprächs wiedergibt, das er kurz vor dessen Verhaftung mit Petr S. Popkov geführt hatte. Im Verlauf des Gesprächs habe sich Popkov bei Ivankov über Malenkov beschwert, der sie „zähnefletschend“ bei Josef V. Stalin verleumdet und ihnen allerlei Schauermärchen angedichtet habe. Unter diesen „Schauermärchen“ wurde auch das folgende genannt: „[...] Als Hitlers Truppen unmittelbar vor Leningrad standen, sind Kuznecov als Sekretär des Stadtparteikomitees und Mitglied des Militärrats der Leningrader Front sowie Kliment Vorošilov als Kommandeur der Leningrader Front bei Andrej Ždanov angeblich hartnäckig dafür eingetreten, Leningrad zur offenen Stadt zu erklären, wie es die Italiener mit Rom gemacht haben. Sie motivierten das damit, dass wir nicht die militärischen Kräfte hätten, die Stadt zu verteidigen, und bei einer Verteidigung […] die historischen und kulturellen Schätze Leningrads zerstört würden“. Unabhängig davon, inwieweit Malenkovs „Anschuldigungen“ der Wahrheit entsprachen, lässt schon die Diskussion einer solchen Frage an sich darauf schließen, dass das soziale Milieu, in dem sie aufkam, sich psychologisch in einer höchst instabilen Verfassung befand. Übrigens schloss allem Anschein nach auch die oberste Führung des Landes im Herbst 1941 eine Übergabe Leningrad keineswegs kategorisch aus. Neben einigen indirekten Hinweisen wie etwa der Evakuierung von für die Verteidigung bzw. Versorgung der Stadt zentralen Unternehmen finden sich auch einige Dokumente, die ein solches Szenario nahelegen. So übermittelte Vasilevskij (zu jener Zeit Stellvertretender Chef des Generalstabs) dem Kommandeur der Leningrader Front Fedjuninskij am 23. Oktober telefonisch Stalins Anweisung, den Belagerungsring zu durchbrechen und eine „stabile Verbindung“ zur 54. Armee herzustellen, was nicht nur dem Ziel dienen sollte, „die Truppen der Leningrader Front zu versorgen, sondern vor allem auch den Truppen der Leningrader Front einen Ausweg zum Abzug nach Osten verschaffen“ sollte, um im Fall einer Übergabe Leningrads nicht in Kriegsgefangenschaft zu geraten. Dieser Gedanke wurde gleich zweimal wiederholt, wobei am Ende fast wörtlich das Kutuzov'sche „für uns ist die Armee wichtiger“ zitiert wird. Und noch ein weiteres Mal ist „weniger von der Rettung Leningrads als vielmehr von der Rettung und dem Abzug der Armee der Leningrader Front“ in einem Gespräch zwischen Vasilevskij und dem Kommandeur der Nordwest-Front Chozin die Rede, der in Richtung der Truppen Fedjuninskijs vorstieß, um den geschlossenen Belagerungsring zu durchbrechen.
In jedem Fall ließ die Stimmung innerhalb der Elite ohne Zweifel zu wünschen übrig. Davon zeugt auch ein Schreiben Ždanovs an Stalin vom 9.06.1942, in dem dieser eingestand: „Bei allen goldenen Eigenschaften des Volks von Leningrad muss man jederzeit darauf achten, dass niemand den Kopf hängen lässt. Elemente der Depression gibt es nicht wenige und das auch innerhalb des Aktivs, und sie werden durch die lang andauernde Blockade genährt“.
Natürlich sind viele Aspekte der Blockade auch weiterhin kaum erforscht. So wissen wir von einigen Beschlüssen, aufgrund derer die Versorgungsnormen der Truppen und der Bevölkerung erhöht wurden. Am 22. April 1942 teilte Mikojan Stalin die Gesamtdaten der „vom 1. Dezember 1941 bis zum 21. April 1942 über die Eisstraße an das Westufer des Ladogasees transportierten, für die Bevölkerung der Stadt Leningrad und die Truppeneinheiten der Leningrader Front bestimmten Lebensmittel“ mit. Im Zuge dieser Arbeit wurden laut Mikojan nach den neuen vom Staatlichen Verteidigungskomitee am 11. Februar bestätigten erhöhten Normen Lebensmittelvorräte für 2-5 Monate angelegt (Mehl für 60 Tage, Graupen, Nudeln und Konzentrate für 59 Tage, Fleisch, Fleischprodukte und Fisch für 162 Tage, Fette für 163 Tage, Zucker, Konditorwaren, Marmelade und Konfitüre (umgerechnet in Zucker) für 121 Tage. Nach der sommerlichen Schifffahrtsperiode reichten die Lebensmittelvorräte dank extremer Anstrengungen sogar für 4-5 Monate. So errechnete Mikojans Apparat Anfang Dezember 1942, dass die Lebensmittel noch bis Anfang April 1943 reichen würden. Zugleich ordnete Mikojan in einem der erwähnten Chiffre-Telegramme, in denen es um eine Zuteilung von Lebensmitteln oberhalb der Normen ging, an, dass „die von den Nahrungsmittelunternehmen der Stadt Leningrad aus den genannten Rohprodukten erhaltenen Lebensmittel im Rahmen der festgelegten Zuteilungsnormen verbraucht werden“ sollten, und wies auf diese Weise darauf hin, dass eine Erhöhung der Versorgungsnormen nicht zu vertreten war. Welche Überlegungen dieser Entscheidung zugrundelagen, ob die Anlegung solcher (nicht vielleicht doch übermäßiger?) Lebensmittelvorräte wirklich gerechtfertigt war oder ob es nicht geboten gewesen wäre, die Zuteilungsnormen für die Bevölkerung auf Kosten dieser Vorräte zu erhöhen – das sind weitere Fragen, auf die eine Antwort zu suchen ist. Schließlich legte Befehl Nr. 313 des Volkskommissars für Verteidigung vom 22. September 1941 („Über die Regelung der Versorgung der Roten Armee mit Lebensmitteln und Fourage“), der die Mindestbestände an vorzuhaltenden Lebensmitteln regelte, für die Leningrader Front ein Limit von 20 Tagen und für die übrigen Fronten und Armeen sogar von nur 15 Tagen fest. Ein höheres Limit galt nur für die Karelische Front und selbst in diesem Fall waren es lediglich 30 Tage. In den zugänglichen Dokumenten sind keinerlei Hinweise auf ein Bestreben – von welcher Seite auch immer – enthalten, die Versorgungsnormen durch Aufbrauchen der vorhandenen Vorräte anzuheben.
Vor die Notwendigkeit gestellt, Fragen dieser Art zu entscheiden, handelte das bürokratische System sowjetischer Prägung alles andere als schnell. So vergingen mehrere Wochen, bis der Stellvertretende Vorsitzende des Rats der Volkskommissare Voznesenskij dem Leningrader Stadtparteikomitee (Kuznecov) und dem Leningrader Sowjet (Popkov) am 5. März 1942 in einem Chiffre-Telegramm mitteilte, dass der Rat der Volkskommissare den die Bezahlung der Arbeiter, ingenieur-technischen Mitarbeiter und Angestellten der vorübergehend stillgelegten Unternehmen der Stadt Leningrad betreffenden Beschluss des Leningrader Stadtparteikomitees der VKP(b) vom 16. Februar 1942 bestätigte. Mit anderen Worten mussten tausende Menschen mehrere Wochen lang auf eine Entscheidung warten, ohne das Geld zu erhalten, mit dem sie die ihnen zustehende Brotration hätten kaufen können. Und wir wissen dabei immer noch nicht (da das entdeckte Dokument keine entsprechenden Informationen enthält), wieviel Zeit verging, bis das Stadtkomitee seinen Beschluss ausgearbeitet hatte.
Moskau verfolgte die Entwicklung in Leningrad höchst aufmerksam. Im harten Winter 1941/42 teilte Mikojan Ždanov mehrfach die Verladung von Lebensmitteln oberhalb der vereinbarten Mengen mit.
In einem ersten solchen Chiffre-Telegramm teilte der Chef der Hauptverwaltung für Lebensmittelversorgung der Roten Armee Pavlov Ždanov mit, dass „560 Tonnen Sojabohnen, 40 Tonnen Sojamehl, 100 Tonnen Milchpulver, 50 Tonnen Trockenquark, 500 Tonnen Speck [und] zusätzlich 700 Kilogramm Saccharin auf Kosten Moskaus verladen“ worden seien. Am 18. Januar teilte Mikojan die Verladung von 120 Waggons Trockengemüse und Trockenfrüchten aus Uzbekistan mit. Am 27. und 30. Januar informierte Mikojan Ždanov in einem Chiffre-Telegramm über Lieferungen „oberhalb der für Januar vorgesehenen Sätze“. Am Abend des 13. Februar teilte Mikojan Ždanov in einem Chiffre-Telegramm mit, dass der Rat der Volkskommissare die Volkskommissariate für Lebensmittelbeschaffung, Lebensmittelindustrie und Fleischindustrie sowie den Zentralverband der Konsumgenossenschaften verpflichtet habe, im Februar über die für Februar bereits angewiesenen Mengen hinaus eine erhebliche Menge Lebensmittel und Waren zu verladen, um für die Zeit der frühjährlichen Schlammperiode in Leningrad Lebensmittelvorräte anlegen zu können. Wie es scheint, leistete sich das Zentrum nur ein einziges Mal einen „Patzer“. So enthielt das oben erwähnte Chiffre-Telegramm die Mitteilung, dass das Volkskommissariat für Fischindustrie verpflichtet worden sei, bis zum 25. Februar 5 000 Tonnen Fisch entsprechend den Liefermengen für Januar und Februar zu verladen. Das war praktisch das Eingeständnis, dass der Plan für die Januarlieferungen nicht erfüllt worden war. Muss man eigens erklären, was dies für die Bewohner der Stadt bedeutete? Wir wissen nicht, wer genau den nicht gelieferten Fisch erhalten sollte – die Zivilbevölkerung der Stadt, Einheiten der Roten Armee, die Ostseeflotte, der Führungsapparat oder vielleicht die Arbeiterkantinen – dies ist aber angesichts der Tatsache, dass zu jener Zeit alle Kategorien von Verbrauchern unter Lebensmittelmangel litten, nicht wirklich entscheidend ist. Die Frage, ob es sich hier um einen Ausnahmefall handelte, erfordert weitere Forschungen. In den Dokumenten des technischen Sekretariats des Organisationsbüros des ZK finden wir eine Tabelle der vorgesehenen, aber bis zum 1. Januar 1942 aus Mangel an Schienenfahrzeugen nicht durchgeführten Transporte. Insgesamt erreichten bis zum genannten Datum 3 354 Waggons ihren Empfänger nicht, von denen wiederum 387 für die Leningrader Front (248 mit Graupen und 149 mit diversen anderen Lebensmitteln) und 433 für die Karelische Front bestimmt waren. Mehr als alle anderen litt die West-Front mit 1 055 Waggons.
Soweit den Dokumenten zu entnehmen ist, wurden die Versorgungsnormen in der Stadt ausgearbeitet und kamen nicht von oben. So teilte z.B. Mikojan Ždanov in einem Chiffre-Telegramm vom 10. Januar 1942 mit, dass er die in dessen Telegramm anvisierten „Normen der Lebensmittelversorgung der Arbeiter und Truppen“ für „annehmbar“ halte. Im gleichen Chiffre-Telegramm unterband Mikojan den Versuch Ždanovs, die alte Ordnung „wiederherzustellen“, die Kantinen der Rüstungsbetriebe außerhalb des Kartensystems zu beliefern. „In den Kantinen sollen Brot und Fleisch vollständig und Graupen zur Hälfte nach Karten angerechnet werden“. Ždanov hatte offenbar auf diese Weise versucht, die den Arbeitern der Rüstungsbetriebe zustehende Ration über die Speisung in den Kantinen am Kartensystem vorbei zu erhöhen. Spuren anderer ähnlicher Versuche konnten wir nicht finden.
Von organisatorischen Problemen zeugt auch ein Schreiben Mikojans an Ždanov vom 30. Juni 1942, dessen Kopie er am Vorabend Molotov, Malenkov und Berija zur Kenntnisnahme zukommen ließ. In diesem Schreiben wies Mikojan auf Probleme bei Transport und Entladung von Lebensmitteln über den Ladogasee hin: So stauten sich die Schiffe unentladen am Westufer, was wiederum zur Folge hatte, dass sich am Ostufer die für Leningrad bestimmten Frachten stapelten. Mikojan warnte Ždanov, dass man die Verladung nach dem Juliplan erst in Angriff nehmen werde, wenn sich der Transport über den Ladogasee spürbar bessere.
„Die Stimmung bei uns ist gut, das Beunruhigendste ist, dass wir Hunger haben“, schrieb Ždanov am 5. Dezember 1941 an Stalin. Inwieweit die Vertreter der Parteinomenklatur der Stadt, deren Bevölkerung massenhaft den Hungertod starb, tatsächlich selbst hungerten, ist eine Frage, der traditionell große Aufmerksamkeit gilt. Im RGASPI ließen sich keine Dokumente finden, die Licht auf diese Frage werfen könnten. Ich wage allerdings den von vielen möglicherweise als Provokation empfundenen Gedanken zu äußern, dass diese Frage eindeutig überbewertet wird. Herrschende und Beherrschte wurden niemals und nirgendwo in der Geschichte gleich mit Lebensmitteln oder anderen Gütern versorgt. Es ist kaum vorstellbar, dass dies ausgerechnet unter den Bedingungen einer eingeschlossenen Stadt oder in anderen Krisensituationen anders sein sollte. Das Problem der Leningrader (wie auch der gesamten sowjetischen) Elite bestand allerdings darin, einer herrschenden Klasse anzugehören, die unaufhörlich die Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit proklamierte. So war dieses Prinzip im Bewusstsein der breiten Massen höchst präsent und wurde in einer extrem vereinfachten Form kultiviert – eben als Egalität in allen Bereichen, was wiederum der Tatsache geschuldet war, dass der Diskurs über den Sozialismus – von den Bolschewiki selbst befördert – höchst primitiv geführt wurde. Wenn wir heute versuchen, die Leitung der Stadt zu überführen, sich mehr um die eigene Versorgung und den eigenen Konsum gekümmert zu haben (was per definitionem so sein sollte), sind wir noch immer in sowjetischen Denkmustern mit seinen vulgärsozialistischen Vorstellungen von einem idealen Gesellschaftsaufbau gefangen, den es nie gab und auch nie geben konnte. Auf einem anderen Blatt steht natürlich, dass es unabhängig von diesen Überlegungen wichtig wäre zu verstehen, in welchem Maße die Leningrader Elite zur Selbsteinschränkung bereit war, bzw. wie groß das Missverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten beim Konsum tatsächlich war.
Bei der Analyse der die Versorgung der eingeschlossenen Stadt beleuchtenden Dokumente sollte man den allgemeinen Kontext nicht aus dem Auge verlieren. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass sich die Versorgungsprobleme (auch im Lebensmittelbereich) nicht allein auf Leningrad beschränkten. Selbst bei der kämpfenden Truppe war die Versorgungslage zu diesem Zeitpunkt äußerst angespannt und dies nicht nur am Leningrader Frontabschnitt. So war die Hauptverwaltung für Heereslogistik (Intendantur) der Roten Armee Anfang Januar 1942 genötigt, sich dringlich um die Frage der Lebensmittelversorgung der im Gebiet Kirov gelegenen Militäreinheiten und Hospitäler zu kümmern, die ohne Zuweisungen für Mehl, Graupen, Hafer und Heu geblieben waren. Ähnliche Versorgungsprobleme gab es im Januar 1942 auch an der Karelischen Front. Wie aus der Korrespondenz hervorgeht, konnte die Eisenbahn das Transportvolumen nicht bewältigen.
Im Februar 1942 berichtete der Militärkommissar der Intendantur der Kalininer Front Fedotov dem Sekretär des ZK Andrej A. Andreev, dass die Versorgungslage der Truppe angesichts ausgebliebener Nachschublieferungen für Dezember 1941 und Januar 1942 überaus angespannt sei: „Abgesehen davon wurden die 3. und die 4. Armee der Front angeschlossen, ohne für diese rechtzeitig Lebensmittel zuzuteilen“. Laut den Politberichten der Kommissare der Einheiten kam es wegen Auszehrung zu Todesfällen. Eine Reihe von Schützen- und Luftwaffeneinheiten waren aus Mangel an Lebensmitteln, Munition und Treibstoff für Kampfoperationen nicht einsatzbereit.
Am 18. Februar versah Malenkov einen vom Sekretär des ZK der KP(b) Estlands Nikolaj Karotamm erhaltenen Bericht an Mikojan, Ščadenko und Chruščev handschriftlich mit dem Vermerk „eilt“, der ähnliche Klagen über den Stand der Lebensmittelversorgung in den kurz zuvor formierten estnischen Divisionen enthielt. „Die Menschen sind extrem ausgezehrt […] es gibt nichts zu essen. Wir bitten dringend um Hilfe; die Ernährungslage ist ungewöhnlich schlecht, kein Gemüse, keine Graupen. Unregelmäßig Mehl und Brot. Ohne jede Vorräte [...]“, das sind Zitate aus den dem Schreiben an Malenkov beigefügten Telegrammen, die Karotamm aus den Einheiten erhalten hatte. Und das vor dem Hintergrund dessen, dass die Aufstellung nationaler Einheiten für Stalin tatsächlich „eine große politische Frage“ war.
***
Der Schock der Niederlagen des Jahres 1941 wurde allmählich überwunden. Armee und Land hatten schon in den Abgrund geblickt, die Katastrophe aber schließlich doch abwenden können. Erreicht wurde dies durch gemeinsame Anstrengungen sowohl des nicht besetzten so genannten „Großen Landes“ als auch jener, die von diesem abgeschnitten waren.
Generell wäre es angebracht, nicht von der Blockade, sondern von der Verteidigung Leningrads zu sprechen. Die Stadt war nicht bloß Objekt äußerer Einwirkung, sondern Subjekt, ein Akteur, der den zerstörerischen äußeren Kräften aktiv Widerstand leistete und bis zum Ende standhielt. Die Stadt überlebte nicht einfach nur, obwohl selbst das unter den gegebenen Umständen schon eine Heldentat gewesen wäre. Die Stadt kämpfte und leistete gewaltige Anstrengungen, um die Arbeit in den Fabriken, auf den Baustellen und in Wissenschaft und Forschung aufrechtzuerhalten. Und diese Arbeit diente nicht nur dem eigenen Überleben. Die Rüstungsbetriebe der Stadt produzierten weiter für das „Große Land“, für die gesamte Sowjetunion. Im schwierigsten – ersten – Moment der Organisation der Verteidigung Moskaus bat der gerade aus Leningrad abkommandierte Žukov in einem persönlichen Brief Ždanov, ihm mit einer Douglas einige Dutzend dringend benötigte Granatwerfer zukommen zu lassen. Am 9. Dezember 1941 wandte sich Malenkov unter Verweis auf Stalin mit einem ähnlichen Anliegen an Kuznecov: „Wir brauchen dringend Infanteriegeschütze, 120mm-Granatwerfer, 82mm-Granatwerfer [...] Wir brauchen natürlich auch 50mm-Granatwerfer.
Am Ladogasee wurden gewaltige Erdarbeiten in den Häfen durchgeführt, neue Anlegestellen errichtet und Schiffe gebaut. Es wurde ein Programm zum Neubau und zur Reparatur von Schiffen für die Ostseeflotte realisiert. Just in Leningrad wurden ungeachtet der Blockade die ersten militärisch genutzten Stationen zur Übertragung von Radiosignalen entwickelt und in Serie produziert. Hier wurden auch die ersten Radarsysteme für Flugzeuge bzw. zur Ortung entwickelt. Das Institut für Impfstoffe und Seren produzierte ab März 1942 „Bakteriophage gegen Dysenterie“ für die gesamte Sowjetunion. Leningrader Ingenieure entwickelten im Zuge der Vorbereitung auf den neuerlichen Blockadewinter 1942/43 das einzigartige Projekt des Baus zweier Eisenbahnstränge, bei dem das künstliche Anfrieren von Eis zum Einsatz kommen sollte. Im Frühjahr/Sommer 1942 wurde aufgrund eines Beschlusses des Staatlichen Verteidigungskomitees vom 25. April innerhalb von nur anderthalb Monaten auf dem Grund des Ladogasees die zu diesem Zeitpunkt längste Pipeline gelegt (Gesamtlänge 33km, davon 21km über den Grund des Sees), dank derer es möglich wurde, die Stadt mit Flugbenzin, Kerosin und Autobenzin zu versorgen und auf dem See zusätzliche Transportkapazitäten für Lebensmittel, Munition und andere Güter zu schaffen. Der erfolgreiche Betrieb der später als „Straße des Lebens“ bekannten Eisstraße, die Transporte der sommerlichen Schifffahrtsperiode, der Bau der einzigartigen Pipeline sowie zahlreiche weitere erfolgreiche Maßnahmen zum Schutz der Verbindungswege – all dies gab den Autoren einer für Ždanov ausgearbeiteten analytischen Notiz mehr als genug Anlass mit vollem Recht konstatieren zu können: „Der Kampf der blockierten Stadt für die Verbindung mit der Außenwelt […] war von vollem Erfolg gekrönt“.
Leider gehört diese (übrigens von niemandem außer dem Autor des vorliegenden Aufsatzes je gelesene) überaus aufschlussreiche und informative Notiz zur Sorte jener Dokumente, die in der sowjetischen Geschichtsschreibung und Propaganda jenen Ton der Beschreibung der Ereignisse des Großen Vaterländischen Krieges setzten, der bis heute ungeachtet all seiner offenkundigen Schwächen nicht überwunden ist. Durch und durch getränkt von dem – wie wir betonen möchten vollauf legitimen – Pathos des Sieges ihrer Verfasser, die ihren Beitrag zum allgemeinen Sieg geleistet hatten, ignoriert sie jegliche Fragen nach den Verlusten an Gütern und Menschenleben und lässt gänzlich eine Analyse der begangenen Fehler außer Acht – als ob es diese niemals gegeben hätte.
Eine Auflistung all dessen, was für die Verteidigung der Stadt getan wurde, würde lange dauern (und das ist Sache der nächsten Etappe dieser Arbeit), aber abschließen lässt sie sich mit der folgenden Feststellung: Leningrad war keine sterbende, sondern eine kämpfende Stadt, kein Konzentrationslager, sondern eine belagerte Festung. Sowohl die Zivilbevölkerung als auch die Militärs Leningrads hielten stand und siegten ungeachtet aller Umstände, ungeachtet der Niederlagen und Misserfolge der Anfangsphase des Großen Vaterländischen Kriegs. Welche Faktoren genau diesen Umschwung hervorriefen, das Land vor dem Abgrund bewahrten und schließlich zum Sieg führten – das zu klären, ist die dankbare Aufgabe der Analyse der historischen Erfahrung, die der eingangs dieses Aufsatzes zitierte Ključevskij bereits ein Jahrhundert zuvor in poetischer Form formulierte: „ [...] Wenn die Geschichte irgendetwas lehren kann, dann ist das das Verständnis seiner selbst, der klare Blick auf die Gegenwart.“
Aus dem Russischen übersetzt von Lars Nehrhoff, Köln