Die Einstellung der einheimischen Bevölkerung in der besetzten Ukraine zur Verfolgung der Roma (1941–1944)
Einleitende Bemerkungen
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahr 1933 wurde ein Übergang im Umgang mit „Zigeunern“ von den bis dahin prägenden spätabsolutistischen Vorstellungen zu einer auf rassistischen Ansichten basierenden Zigeunerpolitik eingeleitet. Statt Zwangsassimilation und Sesshaftmachung setzte sich der NS-Staat insbesondere nach 1938 die Verfolgung und Ausmerzung der als „minderwertig“ und „gemeinschaftsschädlich“ stigmatisierten Sinti und Roma zum Ziel. Die in Bezug auf diese Bevölkerungsgruppe ergriffenen Maßnahmen wiesen viele Parallelen zur Judenverfolgung auf: von Deportationen in das deutsch besetzte Polen und einer Radikalisierung nach Ausbruch des Deutsch-Sowjetischen Kriegs bis hin zur Verschleppung von Sinti und Roma aus zahlreichen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas in Konzentrationslager, wo sie mehrheitlich umgebracht wurden.
Die Opferzahlen unter den osteuropäischen Roma, die von der Vernichtung viel stärker betroffen waren als die mehrheitlich im deutschsprachigen Raum lebenden Sinti, sind schwer zu schätzen. Insgesamt wird von ca. 50 000 im Dritten Reich und im besetzten Europa ermordeten Menschen ausgegangen. Dazu kommen zahlreiche Opfer in Satellitenstaaten wie Rumänien und Kroatien, für die bislang keine zuverlässigen Angaben vorliegen. Ebenso bedarf das Schicksal der in Serbien und Ungarn ansässigen Roma weiterer Erforschung. Insgesamt weisen die die Verfolgung der „Zigeuner“ in den ost- und südosteuropäischen Ländern sowie in den besetzten sowjetischen Gebieten betreffenden Kenntnisse große Lücken auf, was angesichts eines deutlich höheren Anteils der Roma an der dortigen Gesamtbevölkerung die Notwendigkeit weiterer Forschung umso dringlicher erscheinen lässt.
1941–1944 wurden in den besetzten ukrainischen Gebieten von der Wehrmacht, den Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes sowie von den lokalen Verwaltungsorganen und der Hilfspolizei über 20 000 „Zigeuner“ ermordet. Die tatsächliche Opferzahl dürfte noch deutlich höher liegen, wenn man auch die im rumänisch kontrollierten Gouvernement „Transnistrien“ lebenden „Zigeuner“ berücksichtigt, die dort infolge von Erschießungen, Deportationen, Hunger und Epidemien ums Leben kamen.
Mit Verweis auf sowjetische Bevölkerungsstatistiken der Vorkriegszeit behaupten einige Forscher, mit 20 000 Ermordeten wäre praktisch die gesamte auf dem Territorium der Ukraine (ohne Transnistrien) lebende Romabevölkerung den NS-Besatzern zum Opfer gefallen. Andere – wie z.B. N. Bessonov – vertreten dagegen die Ansicht, dass sich ungefähr die Hälfte der in den besetzten sowjetischen Gebieten lebenden Roma retten konnte. Diese Widersprüche in den Einschätzungen und Interpretationen lassen sich nur beseitigen, wenn man sich systematisch mit der Frage beschäftigt, die bis heute auch für die gesamte die NS-Zigeunerpolitik während des Zweiten Weltkriegs betreffende Forschung von zentraler Bedeutung bleibt: Lässt sich der Umgang mit den in den besetzten sowjetischen Gebieten lebenden „Zigeunern“ als einheitlich, geplant und zentral gesteuert beschreiben oder wurde dieser doch mehr durch situative Entscheidungen der Besatzer vor Ort bestimmt und weist daher wesentliche lokale Besonderheiten und Unterschiede auf?
Ungeachtet des großen Ausmaßes der menschlichen Verluste blieb das Schicksal der ukrainischen Roma während der Besatzung lange Zeit unerforscht. Erste Anzeichen eines wissenschaftlichen Interesses an dem Thema ließen sich in der Ukraine in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren verzeichnen, wobei die entsprechende Forschungsarbeit durch Impulse aus der Holocaustforschung positiv beeinflusst war. Vor diesem Hintergrund scheint es kein Zufall zu sein, dass die den Genozid an den ukrainischen Roma betreffende Forschungstätigkeit auch institutionell eng mit der Erforschung des Holocaust verbunden ist. Vor allem war es das 2002 gegründete Ukrainische Zentrum für die Erforschung der Geschichte des Holocaust in Kyïv (ukr. Ukraïns’kyj Centr vyvčennja istoriï Cholokostu), das wichtige der Geschichte der Zigeunerverfolgung gewidmete Forschungsprojekte initiierte und entsprechende wissenschaftliche Tagungen durchführte. In der (seit 2005 erscheinenden) Zeitschrift des Zentrums wurden Ergebnisse der die Geschichte der Zigeunerverfolgung betreffenden in- und ausländischen Forschung präsentiert. Auch ein der Geschichte der ukrainischen Zigeuner insbesondere zur Zeit des Zweiten Weltkrieges gewidmetes Internet-Portal wird auf der Webseite des Zentrums betrieben. Neben dem Kyïver sollte auch ein weiteres der Erforschung des Holocaust in der Ukraine gewidmetes Zentrum erwähnt werden, das (wenn auch in geringerem Umfang) die Erforschung der Geschichte der Romaverfolgung betreibt: das Ukrainische Institut für Holocaust-Studien in Dnipro.
Der Autor des folgenden Beitrags Mikhail Tyaglyy (ukr.: Mychajlo Tjahlyj) ist einer der führenden ukrainischen Spezialisten für die Geschichte der Juden- und der Romaverfolgung in der besetzten Ukraine. Seit 2005 ist er im Ukrainischen Zentrum für die Erforschung der Geschichte des Holocaust und seit 2007 auch als verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift „Cholokost i sučasnist’“ tätig. Zuletzt leitete Tyaglyy das dreijährige Forschungsprojekt „Der Genozid an den Roma (Zigeunern) während der Besatzung der Ukraine (1941–1944): Erforschung, Unterricht, Gedenken“. Dieses Projekt endete im Oktober 2016 mit einer Konferenz.
Der im Rahmen des oben erwähnten Projektes entstandene vorliegende Artikel widmet sich einigen bislang wenig erforschten Aspekten der Romaverfolgung in den Jahren 1941–1944. Den Ausgangspunkt des Artikels bildet die Überlegung des Autors, dass die Besatzer weder im rumänisch noch im deutsch kontrollierten Teil der Ukraine über ausreichende eigene Ressourcen verfügt hätten, um ihre Politik gegenüber Roma systematisch zu verfolgen. Diese Politik sei von den Tätern nicht im luftleeren Raum durchgeführt worden, auf verschiedene Art und Weise seien daran zahlreiche Vertreter der Mehrheitsbevölkerung beteiligt gewesen. In diesem Kontext gewinnt die Erforschung der von der lokalen Bevölkerung in der Frage der „Lösung der Zigeunerfrage“ eingenommenen Haltung stark an Bedeutung. Der Autor beleuchtet die den Roma entgegengebrachte Einstellung verschiedener Gruppen der einheimischen Bevölkerung und setzt sich exemplarisch mit den wichtigsten militärpolitischen Akteuren bzw. ihren Agenden auseinander, die Einfluss auf die Geschehnisse in den besetzten Gebieten nahmen – mit der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) und den sowjetischen Partisanen. Außerdem wird in dem Artikel die Rolle der Zivilverwaltung und der Hilfspolizei bei den gegen die Roma gerichteten Aktionen erläutert.
Die faktenreiche Darstellung Tyaglyys verdeutlicht, wie wichtig eine Berücksichtigung der Einstellung der Mehrheitsbevölkerung für die Betrachtung von Genozid-Phänomenen wie der Romaverfolgung ist. Wie die angeführten betreffenden Beispiele zu verschiedenen Regionen zeigen, gehörte die „Aufspürung“ und „Registrierung“ der Roma sowie deren Übergabe an die Besatzer zu den Routineaufgaben vieler lokaler Verwaltungen. Die zur Verhaftung, Transport und manchmal auch zu Erschießungen der Roma herangezogenen Einheiten der lokalen Hilfspolizei (sogenannte Schutzmannschaften) führten Vernichtungsaktionen zuweilen aus eigenem Antrieb ohne entsprechende Befehle von Seiten der Besatzungsmacht durch. Die Beobachtung des Autors, dass ehemalige Kämpfer des nationalistischen Untergrunds bei späteren Veröffentlichungen selektiv vorgingen und kompromittierendes Material unter den Tisch fallen ließen, dürfte in der aktuellen ukrainischen Forschung für weitere Debatten sorgen.
Die Einstellung der einheimischen Bevölkerung in der besetzten Ukraine zur Verfolgungder Roma (1941–1944)
Bei der Erforschung des Schicksals und Lebens der Roma auf den besetzten Territorien der Ukraine, von denen über 20 000 Menschen der Vernichtung zum Opfer fielen, blieb bisher ein wichtiger Aspekt des Forschungsgegenstandes auf der Strecke: das Verhältnis der lokalen Bevölkerung zu Verfolgung und Vernichtung der Roma. Neben der Untersuchung der Absichten und Taten des hauptverantwortlichen Akteurs der Vernichtungsmaßnahmen, also des NS-Apparats, erscheint diese Frage auf den ersten Blick zweitrangig. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass in Folge der Besatzungspolitik und Errichtung einer politischen Verwaltung auf den besetzten Gebieten vor allem die deutschen und rumänischen Straforgane für den Massenmord an der Zivilbevölkerung und die ‚Sonderbehandlung‘ der Bevölkerungsgruppen, die als Rassenfeinde oder als potenziell gefährlich für die ‚neue Ordnung‘ eingestuft wurden, verantwortlich sind. Gleichzeitig ist aber auch unumstritten, dass die von der Besatzungsmacht geplanten und durchgeführten Maßnahmen gegen die Roma bei weitem nicht immer in einem luftleeren Raum einer Dichotomie zwischen ‚Täter‘ und ‚Opfer‘ vollzogen wurden. Gruppen, Gemeinden oder kompakte Siedlungsgebiete der Roma befanden sich in Nachbarschaft zu der restlichen einheimischen Bevölkerung, bestehend aus Ukrainern, Polen, Russen und anderen Ethnien oder waren fest in die Gesellschaft integriert. Aufgrund von Ressourcen- und Personalmangel wurde es für die Besatzer notwendig, die einheimische Bevölkerung in die Verwaltung einzubinden, um die Befehle der deutschen und rumänischen Machthaber, die Bestimmungen in Bezug auf verschiedene Gruppen der Gesellschaft einschlossen, auszuführen. Die Haltung der Bevölkerung hatte einen substanziellen Einfluss auf das Geschehen, so auch bei der Lösung der ‚Zigeunerfrage‘ – sowohl auf individueller Ebene, also der einzelnen Menschen und einstiger Nachbarn, als auch auf organisatorischer Ebene der ersten und unteren Führungsschicht, aber auch der unterstützenden Funktionäre vor Ort und in der militärpolitischen Verwaltung. Ohne die Analyse und Einbeziehung des Verhältnisses der Nachbarn anderer Zugehörigkeiten zu den verfolgten Roma und seiner unterschiedlichen Ausprägungen in Abhängigkeit von regionalen Spezifika, der breiten Wahrnehmung der Roma in ihrem Umfeld am Vorabend des Krieges, der Geschichte der Vorkriegsbeziehungen sowie des Einflusses einer Reihe von ideologischen, sozialen, beruflichen, materiellen und psychologischen Faktoren auf die Ereignisse im Ausnahmezustand, würde der Versuch, die Schicksale der Roma auf den besetzten Gebieten der Ukraine zu rekonstruieren, einseitig ausfallen.
Arbeiten zu diesen Fragen sind bislang ausgeblieben. Einer der Gründe dafür ist das Fehlen einer produktiven Methodologie. Nimmt man die grundlegenden Monografien, welche die Ereignisse auf den von der Wehrmacht eingenommenen sowjetischen Territorien fokussieren, etwa von Michael Zimmermann, Guenter Lewy oder die vor kurzem erschienene Monografie von Martin Holler, fällt auf, dass das Narrativ der Romaverfolgung und -vernichtung von den Autoren im Wesentlichen nach dem Täter-Opfer-Schema dargestellt wird: eindimensional, ohne Berücksichtigung etwaiger Faktoren wie ‚Zaungäste‘. Allein Nikolaj Bessonov erörtert die Frage nach der Beziehung der Nachbarn zu den Verfolgten und führt nicht lediglich Fakten auf, sondern versucht zudem, auf ihrer Grundlage eine Auswertung vorzunehmen und Gesetzmäßigkeiten in den Verhaltensweisen der Bevölkerung im Umfeld der Roma herzuleiten.
Bessonov kommt zu dem Schluss, die slawische Bevölkerung habe „die ethnische Minderheit der Roma im Gegensatz zu den Juden unterstützt.“
Dieser Artikel versucht, auf der Grundlage vorliegender Quellen zweierlei zu untersuchen: zum einen die Taten/Tatbestände der Verbrechen zulasten der Roma, verübt von verschiedenen Schichten der einheimischen Nicht-Roma zu betrachten sowie die Gründe und Motivationen herauszufinden, die zu diesen Taten geführt haben; zum anderen den alltäglichen, sozialpsychologisch geprägten öffentlichen Raum zu rekonstruieren, in dem der Genozid an den Roma ausgeführt wurde, und die wichtigsten Ursachen und Mechanismen zu identifizieren. Jener Raum setzte sich aus einer Wechselwirkung vieler Faktoren zusammen: erstens aus traditionellen Vorstellungen über Roma, die unter den ukrainischen Zeitgenossen vorherrschten; zweitens aus ideologischen Einstellungen und entsprechender Propaganda, die lokale Akteure während der Besatzungszeit betrieben; drittens aus Bildern der Massenkultur, die über die Massenmedien und aus kulturellen Einrichtungen heraus zusätzlich die Entwicklung der Ereignisse prägten.
Was die Haltung zu der ‚Zigeunerfrage‘ seitens kollektiver Akteure auf ukrainischem Gebiet in der Besatzungszeit betrifft, muss in erster Linie die Aktivität der beiden führenden Kräfte betrachtet werden: der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), im späteren Verlauf auch der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), und der sowjetischen Partisanenbewegung.
Die kollektive Dimension: unabhängige militärpolitische Akteure und ihr Verhältnis zu den Roma mit besonderem Fokus auf OUN, UPA sowie sowjetische Partisanen
Betrachten wir zu Beginn die ‚Zigeunerfrage‘ aus den ideologischen und politisch-propagandistischen Blickwinkeln von OUN und UPA. Was den ersten Aspekt betrifft, lässt sich feststellen, dass die ‚Zigeunerfrage‘ in den Visionen der nationalistischen Ideologen und Aktivisten über die zukünftige Gestaltung des ukrainischen Staates solange keinen zentralen Platz einnahm, wie sie nicht mit den Ordnungsvorstellungen und dem gewünschten sozialen Gesellschaftsgefüge kollidierte. Mit anderen Worten: Unter einem ethnischen Gesichtspunkt spielte diese Frage als solche keine Rolle und wurde von den Urhebern des ukrainischen Projekts nicht weiter beachtet, sofern es um sesshafte Roma ging, die in die Sozialstrukturen der Gesellschaft integriert waren. Anders verhielt es sich mit nomadischen Roma, die den Kriterien für nützliche Mitglieder der Gesellschaft nicht entsprachen und für die gesellschaftliche Ordnung und Stabilität vermeintlich eine Bedrohung darstellten. Die nomadische Lebensweise wurde mit einer kriminellen Gesinnung und der Notwendigkeit staatlicher Kontrolle und sogar Beseitigung assoziiert. Ein Beispiel für diese Meinung ist das Dokument mit dem Titel Vorschläge der OUN (Andrij Mel’nyk) für Strukturen und Kompetenzen der Ministerien des zukünftigen ukrainischen Staates, das in der Zeit vor dem 22. Juni 1941 verfasst worden war. In diesem Entwurf schlug der Verfasser vor, zu den Verantwortungsbereichen des zukünftigen Innenministeriums die „Angelegenheiten höriger Zigeuner und Beschäftigungsloser“ zu zählen, die wiederum mit der „Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Einrichtungen für Zwangsarbeit und Strafkolonien für Minderjährige“ zusammenfallen sollten. Dieser Ansatz zeugt von der Bereitschaft, umherziehende Roma im rechtlichen Kontext dem kriminellen Milieu zuzurechnen und bei der Lösung von mit Kriminalität verbundenen Problemen anstelle des sozialen das ethnische Prinzip der Identifizierung anzuwenden. Demzufolge liefen alle umherziehenden Roma, die vollkommen legalen Tätigkeiten nachgingen und nicht gegen das Gesetz verstießen, aus den vielen verschiedenen Lagern Gefahr, in die Kategorie ‚Kollektivverbrecher‘ zu fallen. Dieselbe Strategie im Bereich der Kriminalprävention wird auch in dem Dokument Allgemeine Anleitung des Sicherheitsdienstes der OUN (Stepan Bandera) vorgeschlagen, das vermutlich 1941 in Umlauf kam. Für eine erfolgreiche Durchführung von Razzien durch Milizbeamte wurde empfohlen, den Einsatzort gründlich zu inspizieren und vor allem die „Orte, an denen illegal Wodka verkauft wird, die Häuser, in denen Zigeuner, Landstreicher usw. übernachten sowie die Häuser politisch verdächtiger Personen usw.“ gut zu kennen.
Die ‚Zigeunerfrage‘ nahm einen wichtigen Platz in der nationalistischen Propaganda ein – wenn auch einen weniger Prominenten als die ‚Judenfrage‘. In der Propagandaliteratur, die sich an UPA-Streitkräfte und Zivilbevölkerung richtete, wurden Roma hin und wieder als eine derjenigen Gruppen dargestellt, die unheilbringend, überflüssig und deshalb los zu werden seien. Eines der OUN-Flugblätter, die sich an die Rotarmisten richteten, rief sie dazu auf, nicht für „Juden, Zigeuner und sonstiges Gesocks“ zu kämpfen.
Im August 1943 wird in der Botschaft der UPA-Führung an die Ukrainer des Cholmer Lands und Podlachiens hervorgehoben, dass der Erzfeind der Ukraine, Moskau, „für die Vernichtung des ukrainischen Volks […] Einheiten von Zigeunern, Moskowitern, Juden und anderem Gesindel, so genannte ‚Rotpartisanen‘“ entsende. Die Materialen zur politischen Vorbereitung von Viktor Juriïv beinhalten einen Aufruf des UPA-Führungsstabs der Turiv-Gruppe an die Ukrainer Polesiens von Anfang 1944, der die historisch bedingten und zeitgemäßen Befürchtungen aus der Sicht jener zeigt, die eine Entwicklung der ukrainischen Staatlichkeit auf der Grundlage eines monoethnischen Nationalismus anstrebten: „Da ziehen die Schergen hordenweise in die Ukraine ein: Juden, Tataren, Zigeuner und allerlei anderes Lumpenpack. Und wieder versprechen sie das Blaue vom Himmel: ‚Alles wird gut, von uns bekommt ihr alles, begebt euch nur in unsere Obhut.“
Blieb es bei diesem Verhältnis zu den Roma lediglich bei Aufrufen und propagandistischen Dokumenten oder wurde dadurch auch das tatsächliche Verhalten den Roma gegenüber bestimmt? Bessonov führt entsprechende Beispiele aus zahlreichen Interviews mit Roma an, die Opfer der Verfolgung waren. Er vergleicht in den Zeitzeugenberichten der Roma ihre Einschätzungen über ukrainische Nationalisten und sowjetische Partisanen: „Während sowjetische Partisanen als Brüder wahrgenommen wurden und die Roma sich sogar unter den Besatzern an ‚gute Deutsche‘ erinnerten, hatten sie für Bandera-Anhänger kein gutes Wort übrig. […] Bandera-Anhänger waren für Roma Banditen, die für die Vernichtung der Zivilbevölkerung verantwortlich gemacht wurden, also der Polen, Juden, Russen und natürlich auch der Roma. An Fälle, in denen es bei Misshandlungen, Schmähungen und Schlägereien geblieben war, dachten die einstigen Nomaden als ein großes Glück zurück.“
Aus den Äußerungen der von Jerzy Ficowski und Nikolaj Bessonov befragten polnisch und russisch sprechenden Roma, aber auch aus den vom USC Shoah Foundation Institute durchgeführten Interviews mit ukrainischen Roma sowie aus anderen Quellen, lässt sich folgern, dass der Höhepunkt der Romaverfolgung durch ukrainische Nationalisten auf das Jahr 1943 fiel und vor allem in Wolhynien stattfand, wo die UPA ihre Partisanenaktivität gegen deutsche und sowjetische Kräfte aufnahm und gleichzeitig ethnische Säuberungen an den polnischen Einheimischen durchführte. In Ficowskis Archiv lagern Erinnerungen polnischer Roma, die Verfolgungen in Wolhynien überlebt haben. Besondere Aufmerksamkeit sollte dem mehrseitigen Zeugnis des polnischen Roma Tadeusz Wajs gewidmet werden, der sofort nach Kriegsende die Auslöschung eines großen Lagers beschrieben hat, das sich aus Überlebensgründen in kleinere Gruppen aufteilen musste und im Laufe des Jahres 1943 auf verschiedenen Stationen Halt machte, darunter Šums’k (im Gebiet Ternopil’), Kremenec’, Teremne (Rivne-Gebiet), Lanovyči (Lemberger Gebiet), Ostroh, das Dorf Majkov (Rivne-Gebiet), das Dorf Bucharov (Rivne-Gebiet), Baranivka (Gebiet Žytomyr), das Dorf Chodoky (Gebiet Ternopil’). Während die ukrainische Zivilbevölkerung, also die Einwohner der Dörfer, in seiner Erzählung als Helfer figurieren, werden andere Ukrainer, die er manchmal mit dem Begriff „Bandera-Anhänger“ bezeichnet, als Täter dargestellt. Ein ähnlich eindrückliches Beispiel ist die Lyrik der Dichterin und Roma Bronislava Wajs, bekannt unter dem Künstlernamen Papusza, die in den Gedichten über ihre Kriegserlebnisse ein Bild voller Trostlosigkeit und Flucht vor „Deutschen“ und „Ukrainern“ zeichnet: „Deutsche und Ukrainer kommen zu uns, sie bringen den Tod uns und den Juden“, schreibt sie, wobei sie die Verfolger in ethnische Kategorien zusammenfasst, ohne ihre Hintergründe zu differenzieren. Eine ähnliche Vorstellung vermitteln die nachkriegszeitlichen Erinnerungen des Roma Edward Dębicki.
Informationen zu romafeindlichen Ausfällen lassen sich nicht nur in Quellen der Roma finden. In seinem Bericht über antipolnische und antijüdische Maßnahmen der UPA erwähnt ein ehemaliger UPA-Kämpfer, dass im Herbst 1943 die Nationalisten unter der Leitung von Anton Škytak einen Angriff auf ein Romalager verübten, das sich unweit der beiden Dörfer Ploske und Halivka im Bezirk Staryj Sambir befand: „Die OUN-Kämpfer hackten alle Zigeuner kurz und klein, die sie kriegen konnten.“
Für eine umfassende Erklärung der Situation in Wolhynien sollte ein weiterer wichtiger Umstand ethnographischer Art bedacht werden: Die Heterogenität der Roma in Wolhynien zu der Zeit. Die Vielfalt der Romagemeinschaften ist ein entscheidender Faktor, der bei jeder historischen Episode mit Bezug zu den Roma beachtet werden sollte. Die Roma in Wolhynien bestanden aus mehreren ethnischen Gruppen. Eine dieser Gruppen waren die ukrainischen Servitka-Roma, hauptsächlich in Städten und Dörfern lebende sesshafte ukrainischsprachige Roma, die dem orthodoxen Glauben angehörten und vor allem Schmiederei und Landwirtschaft betrieben. Erst lange nach Beginn der Okkupation schenkten ihnen die deutschen Besatzer Aufmerksamkeit, im Mai oder Juni 1942, als die ‚Zigeunerfrage‘ auf verschiedenen Ebenen des ukrainischen Reichskommissariats Thema wurde. Eine weitere Gruppe waren polnische Roma, die in Wolhynien nicht einheimisch waren, ihre nomadische Lebensweise beibehielten und Polnisch sprachen. Im Gegensatz zu den Servitka-Roma waren die polnischen Roma der einheimischen Bevölkerung wenig vertraut und wurden als Ausländer wahrgenommen. Folglich müssen gerade die Vertreter polnischer Roma am stärksten das Misstrauen von Seiten ukrainischer nationalistischer Partisanen erregt haben, als während des Krieges 1943 von der UPA antipolnische ethnische Säuberungen initiiert wurden, wobei auch Roma Opfer der – zuweilen tödlichen – Gewalt wurden. Sich als ukrainische Roma auszugeben, war eine Überlebensstrategie, die sowohl in der Lyrik von Papuscha als auch in den Erinnerungen von T. Wajs und E. Dębicki Erwähnung findet.
Warum wurden die Roma vor dem Hintergrund der Gesamtsituation zur Zielscheibe der Verfolgungen von Seiten ukrainischer Nationalisten? Die Antwort auf diese Frage ist mit der Wahrnehmung der Roma durch die Kämpfer der ukrainischen Widerstandsbewegung verbunden. Neben den bereits erwähnten ideologisch-propagandistischen Ansichten über Roma als kollektiv „asoziales Element“ und ethnisch andersartigen Bevölkerungsteil, der bei der Schaffung eines homogenen ukrainischen Raums und der Stiftung einer Staatlichkeit auf dieser Grundlage ein Hindernis darstellte, bestand aller Wahrscheinlichkeit nach ein weiterer Grund darin, dass um 1943 herum viele Roma ihre Rettung in sowjetischen Partisaneneinheiten gesucht und bereits gefunden hatten. In der internen Dokumentation der Formationen des ukrainischen Widerstands finden sich viele Belege dafür, dass unter den Kämpfern der anderen Seite nicht wenige Roma waren. So heißt es auch in Volodymyr Makars Aufzeichnungen Pivnično-zachidni ukraïns’ki zemli. Zbrojna samooborona ukraïns’koho narodu [Nordwestliche ukrainische Gebiete. Bewaffnete Selbstverteidigung des ukrainischen Volkes], einer Zusammenstellung von Meldungen der politischen Abteilung des Sicherheitsdienstes (im Weiteren SB) der OUN und des Aufklärungsdienstes der UPA in Wolhynien und Polesien, die mit Ende Juni 1943 datiert sind, dass
[…] die bolschewistischen Partisanen bereits 1942 ganz Polesien und den nördlichen Waldstreifen Wolhyniens unter ihre Kontrolle gebracht haben. Ihre Reihen bekommen ständig Zuwachs von roten Fallschirmjägern: Moskowitern, Weißrussen, flüchtigen Polen, Juden und Zigeunern, und seit dem Rückzug der UPA auch von Ukrainern aus den abgebrannten Dörfern sowie zwangsmobilisierten Bauern.
Ähnliche Darstellungen zu Roma, die in den Feindesreihen kämpfen, finden sich in zahlreichen Berichten verschiedener UPA-Einheiten, der Unterabteilungen des SB und der politischen Abteilungen der OUN. Mehrere Ausschnitte dieser Dokumentation werden in Folgenden aufgelistet:
Datum | Dokumentenbezeichnung | Inhalt | Quelle |
Anfang August 1943
| Bericht des gesellschaftspolitischen Kreisreferenten über die Situation auf dem Boloto-Territorium (Kreis Pinsk) | […] die roten Partisanen setzen sich aus verschiedenen Nationalitäten zusammen. Es gibt dort Russkis, Zigeuner, Polen, Weißrussen, Usbeken, es gibt auch Ukrainer, vor allem aus den Ostregionen, und ehemalige kommunistische Aktivisten. Ihre größten Errungenschaften bestehen im Sprengen von Eisenbahnschienen, Liquidieren der ukrainischen Befreiungsbewegung, Raubüberfällen an der Bevölkerung, Gewalttaten […] | Litopys UPA. Nova serija. [Chronik der UPA. Neue Reihe], Bd. 11, Toronto 2007, S. 256. (CDAVO, f. 3833, op. 1, spr. 128, ark. 3 f.) |
Anfang September 1943 | Zusammenfassung über gesellschaftspolitische Ereignisse, zusammengestellt vom Kreisleiter von Luck. Gesellschaftspolitischer Rückblick Kreis Luck | Am 12.8. sind im Bezirk Rošyšče, in der Gegend der Dörfer Bohušivka, Prylisne, Kolonie Emilin, bolschewistische Fallschirmjäger aufgetaucht. In derselben Nacht wurde die Eisenbahnlinie in die Luft gesprengt. Die Rotpartisanen führen gewaltsam eine Mobilisierung in den nördlichen Territorien durch. Unter ihnen sind Juden, Weißrussen, Ljachen, Zigeuner, Moskowiter u.ä. Gesindel. | Litopys UPA. Nova serija. [Chronik der UPA. Neue Reihe], Bd. 11, Toronto 2007, S. 98. (CDAVO, f. 3833, op. 1, spr. 125, ark. 6-10)
|
15. Oktober 1943 | Bericht über die Tätigkeit des Sicherheitsdienstes im Zeitraum vom 15.9.–15.10.1943 | Abschnitt 3. Die Stärke der Feinde und ihre Taktik besteht in der Bekämpfung unserer Bewegung […]. Bei den roten Partisanen haben alle Zuflucht gefunden, die von den Deutschen oder den Ukrainern verfolgt werden: Polen, Juden, Kosaken, Zigeuner usw. | Litopys UPA. Nova serija. [Chronik der UPA. Neue Reihe], Bd. 2, Toronto 1999, S. 309. (CDAVO, f. 3838, op. 1, spr. 55, ark. 1-5) |
3. Dezember 1943 | Bericht des politischen Gebietsreferenten über die Organisationstätigkeit Gebiet [Rivne] 3/3 | Die Roten. Die Partisanen sind im Bezirk Oleksandrija aktiv, in den Dörfern Metkiv, Rubne und S[ys’k]. Ihre Mitglieder sind: Kommunisten, Ukrainer (einheimische Bevölkerung), Ljachen, Juden und Zigeuner. Ihre Aufgabe besteht darin, so viele wie möglich von unseren Männern auszumerzen. Den Polen gegenüber sind sie wohlgesonnen. Sie verbreiten die Propaganda, dass die Bolschewiken bald da sein werden. | Litopys UPA. Nova serija. [Chronik der UPA. Neue Reihe], Bd. 11, Toronto 2007, S. 693. (CDAVO, f. 3838, op. 1, spr. 51, ark. 43 f.) |
Dezember 1943 | Chronik über die Tätigkeit der OUN-Einheiten im Bezirk Stolin, Militärbezirk „Zahrava“, Bezirk Stolin | Nr. 50. Im Dorf Beresičy haben sich die Zigeuner, Juden und anderes Geschmeiß versammelt, von wo aus sie sich organisieren und aufbrechen, um Dörfer zu plündern. | Litopys UPA. Nova serija. [Chronik der UPA. Neue Reihe], Bd. 14, Toronto 2010, S. 456. (CDAVO, f. 3838, op. 1, spr. 51, ark. 43-44) |
Von diesen Aufzeichnungen ausgehend lässt sich darauf schließen, dass die allgemein negative internalisierte Meinung ukrainischer Widerstandskämpfer von den Roma als unerwünschtes Element während den aktiven Kriegshandlungen zusätzlich durch die Tatsache verstärkt wurde, dass es Roma gab, die auf der Seite der Feinde kämpften. Sowohl die wenigen erhaltenen Berichte der Roma selbst als auch die Tagebücher und Memoiren der ehemaligen Partisanen belegen das Engagement der Roma in sowjetischen Partisanentruppen. Den umfassendsten Überblick über die Beteiligung der Roma an der Partisanenbewegung bietet der zweite Band von Bessonovs Werk Cyganskaja tragedija 1941–1945 [Die Tragödie der Roma 1941–1945] mit dem Titel Vooružennyj otpor [Bewaffneter Widerstand]. Auch Papusza spricht in ihrem bereits erwähnten Poem mehrmals von sowjetischen Partisanen als einzige Möglichkeit zur Rettung für Roma und Juden.
Die Entscheidung über die Aufnahme der Roma in die Truppen fiel unterschiedlich aus und hing unter anderem davon ab, was der Kommandant der Truppe von den Roma hielt. Mykola Šeremet, der 1943 im Partisanenverband von Černihiv-Wolhynien kämpfte, hinterließ beispielsweise in seinem Tagebuch am 22. März 1943 einen Eintrag darüber, wie mehrere Romnija im Wald zu seinem Partisanentrupp stießen:
Auf einmal kam eine Gruppe Zigeunerinnen zu uns. Ich hatte sie schon vor langer Zeit gesehen. O[leksij] F[edorovyč] empfing sie neben seinem Zelt, verwahrlost, in langen schmutzigen Röcken, nur ihre Augen glühten, wie Kohlenstücke, schwarze Haarsträhnen fielen aus den Kopftüchern. Die Deutschen und die Polizei verfolgten und töteten sie genauso wie Juden […] verstohlen, heimlich durchstreiften sie die weißrussischen Wälder, auf der Suche nach Rettung und Hilfe bei den Partisanen.
Die älteste der Zigeunerinnen erzählte:
„Wir sind keine Nomaden, sondern sesshafte Roma. Unter der Sowjetmacht haben wir in Hojnyky in der Streichholzfabrik gearbeitet. Mein Mann und meine Brüder sind in der Roten Armee. Als die Deutschen gekommen sind, haben sie unsere Familien ermordet, die Kinder lebend in Brunnen geworfen.“
„Wo sind eure Männer?“, fragen wir sie.
„Alle sind in der Roten Armee oder bei den Partisanen. Zwei Alte bewachen unser Lager. Sie haben zwei Granaten, mehr Waffen haben wir nicht.“
„Wovon lebt ihr?“, fragen wir weiter, „Wahrscheinlich von Wahrsagerei?“
„Nein, meine Falken. Wahrsagerei haben die Zigeuner früher gemacht, weil sie Hunger hatten. Jetzt sind wir keine Wahrsager mehr und singen auch nicht mehr. Schwere Zeiten sind angebrochen. Nehmt uns und unsere Kinder mit“, flehten sie uns an.
„Wir geben euch mehrere Pferde und einen Karren, wir helfen euch“, entschied O[leksij] F[edorovyč], „aber mitkommen könnt ihr nicht.“
In dieser Episode beschränkte sich die Hilfe seitens der Partisanen darauf, dass sie den Frauen ein Mittel zur Fortbewegung zur Verfügung stellten. In vielen anderen Partisanentrupps aber übernahmen Roma – darunter auch Frauen – verschiedene Aufgaben, darunter kochen, spähen, kämpfen oder Pferdehaltung.
Vor allem darin bestand zu dieser Zeit der tragische Teufelskreis der Lage und der Rettungsstrategien der Roma: In den Reihen der nationalistischen Partisanen konnten sie keinen Schutz suchen, da diese eine ethnisch homogene Ukraine anstrebten. Deshalb schlossen sie sich den sowjetischen Partisanen an, wodurch sie in den Augen ukrainischer Nationalisten immer mehr zu Feinden der ukrainischen Sache wurden. Nur wenige Ausnahmen sind bekannt. So finden die Roma beispielsweise in einem Bericht des politischen Referenten des Bezirks Cumansk vom 24. Oktober 1943 aus dem Hinterland der UPA in Wolhynien Erwähnung, wo sie mit 50 Personen unter den nationalen Minderheiten wahrscheinlich die Mehrheit darstellten. Der Verfasser des Berichts beschreibt die neutrale Beziehung zwischen der Widerstandsbewegung und den Roma: „Die Zigeuner erklären, dass kein Weg uns an der Macht vorbeiführen wird (ein Zigeuner mache keinen Kommissar), wir aber ‚sollen leben‘.“
Darüber hinaus ist es bei diesen Betrachtungen wichtig, nicht nur die ideologisch-politischen Einstellungen und Erwägungen der Kriegszeit zu berücksichtigen, sondern auch die im Laufe der vorhergehenden Jahrhunderte tradierten und als Teil der traditionellen Kultur überlieferten stereotypen Vorstellungen über die Roma, die im nationalistischen Umfeld verbreitet waren. Es ist bekannt, dass jede Art von Stereotypen, die unter Vertretern einer Gruppe gegenüber Vertretern einer anderen Gruppe vorherrschen, in Zeiten der Stabilität und friedlichen Koexistenz keine wesentlichen Auswirkungen auf den Umgang miteinander haben und lediglich latente Ansichten bleiben. Unter extremen Bedingungen jedoch können diese schlummernden Vorurteile erwachen, negativ auf die Dynamik der Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen oder Individuen einwirken und zu einer zusätzlichen Eskalation der Gewalt führen.
In der ukrainischen Folklore und Literatur des 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts gibt es viele Beispiele für die Repräsentation der Roma. Vor allem handelt es sich dabei um ein Massiv aus Sprichwörtern und Redewendungen, die Aufschluss über die landläufigen Vorstellungen von Alltag und Lebensweise der Roma, ihren Charaktereigenschaften sowie ihren Familienbeziehungen geben. Neben positiven Eigenschaften, wie Freiheitsliebe, Findigkeit oder Fertigkeiten in der Schmiedearbeit, wurden auch negative Aspekte aufgeführt, darunter Gaunerei, Betrug, Faulheit, Gottlosigkeit oder Autoritarismus in der Familie. Laut Forscherin Eva Myl’čarčyk riefen die Roma in traditionsverhafteten Gesellschaftsschichten „Begeisterung, Interesse, gleichzeitig aber auch Besorgnis, Angst und den Wunsch, sich abzugrenzen“ hervor.
Zu welchem Grad hatten die ukrainischen Partisanenkämpfer solche Ansichten geerbt und die in der breiten Bevölkerung verbreiteten Vorbehalte und Vorurteile gegenüber den Roma übernommen? Ausgehend vom sozialen Hintergrund der UPA-Kämpfer, können sie zum großen Teil einer traditionsverhafteten Gesellschaftsschicht zugerechnet werden, kamen sie doch oftmals aus dem ländlichen Raum und nicht mehr als die Grundschule oder wenige Klassen der Sekundarschule absolviert. Somit stellten sie einen fruchtbaren Boden für die Reproduktion solcher Vorstellungen dar. Manche Berichte über „die Zigeuner“ aus der Kriegszeit sind erhalten. Es gibt keine Forschungsarbeiten, die speziell den kollektiven Vorstellungen über die Roma im ukrainischen Kulturraum gewidmet sind. Deswegen werden hier einzelne Fragmente betrachtet, die von Vertretern der ukrainischen nationalistischen Bewegung stammen. Solcherlei Aussagen sind selten, aber punktuell tauchen sie in den Erinnerungen ehemaligen Kämpfer der OUN und UPA auf. Ein äußerst eindrucksvolles und informatives Zeugnis hat der einstige UPA-Kämpfer Ivan Lyko hinterlassen, der in seinen Memoiren Na hrani mriï i dijsnosti [An der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit] unter anderem beschreibt, wie er in einem galizischen Dorf plötzlich gemerkt habe, dass es sich bei der Familie, die ihn zum Abendessen in ihr Haus eingeladen hatte, um Zigeuner handelt:
Die Türe öffnete die Mutter des jungen Mädchens, eine typische Zigeunerin, ihr Bruder, der zu diesem Zeitpunkt im Zimmer war, gab mir durch sein Äußeres die Gewissheit, dass ich in eine Zigeunerfamilie geraten war. Vorbehalte der Zigeunerrasse gegenüber hat man seit der Kindheit, wenn man immer wieder von den Alten hört, dass Zigeuner Diebe sind, die sich von Tierkadaver ernähren, dass sie aus der Erde ausgraben, zuweilen halbverwest, was bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Die Mutter tischte auf: Wurst, Schinken, ein Milchbrot und einen Viertelliter selbstgebrannten Schnaps. Das Glas leerte ich ohne mir groß Gedanken zu machen, aber als ich anfing, den Schinken zu essen, schien mir, als würde mir dieser ‚im Munde wachsen‘. Mich bei der Gastgeberin und dem Mädchen damit rechtfertigend, dass ich gerade erst gegessen hatte, legte ich mir im Kopf zusammen, wie ich aus der Situation herauskommen könnte. Zu meinem Glück sah ich den Braunen, der den Hügel zur Zigeunerhütte hinaufstieg, und als er ins Haus eintrat und meldete, dass die Kämpfer aus dem Dorf abzögen, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich bedankte mich bei den Gastgebern für ihre Gastfreundschaft, küsste das junge Zigeunermädchen zum Abschied und versprach ihr, sie beim nächsten Mal zu besuchen und länger Zeit mit ihr zu verbringen.
Unter anderem wird durch diesen Abschnitt deutlich, dass die Vorstellungen des Verfassers von der Gesellschaft geteilt wurden, deren Vertreter er in dieser Situation gewesen ist. Ein einzelnes kleines Kapitel hat der damalige Teilnehmer der Widerstandsbewegung Mykola Terefenko in seinen Memoiren Na hrani dvoch svitiv [An der Schwelle zweier Welten] den Zigeunern gewidmet. Er beschreibt darin unter anderem, wie er in der Slowakei mit Kameraden ins Haus einer Zigeunerfamilie zum Abendessen eingeladen wurde:
Ich gucke, die [die Romagastgeberin; M.T.] gießt das Wasser aus dem großen Topf mit den gekochten Kartoffeln und füllt sie in eine große Schüssel (für zehn Liter). Alle greifen zu. Ich mache es ihnen gleich, das Leben hat mich schon auf manch eine Probe gestellt, nur mein Kamerad greift nicht nach dem Löffel und isst nicht. Die alte Zigeunerin blickt ihn an und sagt: ‚Essen Sie, Herr. Ich weiß, warum Sie nicht essen‘, meint sie, ‚weil alle uns nachsagen, dass wir Aas essen, das stimmt aber nicht. Gucken Sie doch, wie gut das Fleisch ist. Wir haben es beim Nachbarn gekauft. Es ist durchaus gut. ‘ Aber mein Kamerad aß nicht. Er meinte, er sei nicht hungrig, ich aber aß, obwohl ich den Gedanken hatte, dass das Rind vielleicht schon vor dem Schlachten verreckt war. Weiß der Teufel. Wenn sie nicht daran sterben, warum soll ich daran sterben. Zu Brühe und Kartoffeln reichte die Zigeunerin das Fleisch, jedem eine große Portion. Ich aß alles auf. Als sie fertig mit dem Abendessen waren, standen alle auf, auch wir. Ich dankte der Gastgeberin und lobte ihre Kochkünste, aber sie war unzufrieden, weil mein Kamerad nicht gegessen hatte. Wir beide verabschiedeten uns und gingen. Obwohl ich dachte, dass gleich eine ‚Revolution‘ in meinem Bauch losgehen würde, passierte nichts dergleichen. Dieses Abendessen heiterte mich sogar etwas auf. Ich dachte daran, dass solch arme Menschen wie die Zigeuner trotzdem so menschlich und gastfreundlich waren.
Natürlich lässt sich nicht einfach eine direkte Verbindung zwischen den oben beschriebenen Vorurteilen im kollektiven Bewusstsein und Fällen von Verfolgung und Mord an den Roma durch ukrainische Nationalisten herstellen. Die Situation war wesentlich komplexer. In diesen Auszügen geht es nicht um die Feindseligkeit der UPA-Kämpfer gegenüber ihren Gastgebern. Allerdings muss an dieser Stelle auch angemerkt werden, dass in den beiden Fällen sesshafte Roma beschrieben wurden, die damals als unabdingbarer Bestandteil des ländlichen Lebens galten. Was die Nomaden unter den Roma betraf, so war es um diese in den Augen der ukrainischen Untergrundkämpfer ganz anders bestellt. Die damals weitverbreiteten Ressentiments haben wahrscheinlich einen Einfluss darauf gehabt, wie UPA-Streitkräfte mit herumziehenden Roma umgingen, wenn sie an Waldwegen auf ihre Lager stießen. Wie bereits erwähnt, wussten die ukrainischen Nationalisten auch von der starken Beteiligung der Roma an den Truppen der sowjetischen Partisanen. Auch die unter den militärischen Gruppen übliche Vorstellung, dass in den Romalagern Spionage gefördert und praktiziert wurde, ist in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen. Diese Gemengelage an Stereotypen führte oft zu physischer Gewalt nationalistischer Partisanen gegen die Roma.
Selbstverständlich geben die Quellen der OUN und UPA dazu keinerlei Auskunft, wurden die Archive doch in den Nachkriegsjahren gründlich gesäubert. Eine Ausnahme bildet folgendes Beispiel: Der vorhin bereits erwähnte Ivan Lyko schreibt in seinen Memoiren, 1946 habe ihn ein Bezirksführer mit dem Pseudonym ‚Čornota‘ [die Schwärze] von der Notwendigkeit der Liquidierung einer sechsköpfigen Romafamilie in einem galizischen Dorf mit dem Argument überzeugen wollen, dass ein Familienmitglied vermeintlich ein „Denunziant“ sei. Lyko weigerte sich und erfuhr am nächsten Tag, dass die gesamte Familie auf Befehl von ‚Čornota‘ hingerichtet worden sei. Dass die Roma neben anderen ,Fremdvölkern‘ durch den SB der OUN ausgelöscht werden sollten, bezeugte 1944 bei einem Verhör Ivan Javorskyj, Kommandant des Bezirks-SB Mlyniv des Rivne-Bezirks. Es ist eine weitere Episode, die die Vernichtungslogik der Vertreter von SB-OUN offenlegt. Der frühere Kommandant des Unterbezirks Nr. 67 in Wolhynien, L. Kul’čyns’kyj mit dem Pseudonym ‚Javir‘ [der Bergahorn], sagte bei den sowjetischen Behörden darüber aus, dass auf seinem Territorium im Dorf Novomalyn nahe der Stadt Ostroh im August 1943 eine Gruppe Zigeuner aufgetaucht war. Er stellte ihnen ein Haus zur Verfügung, ein Grundstück und Samen zur Bewirtschaftung, doch im Oktober tötete eine Gruppe SB-OUN-Kämpfer diese Roma. ‚Javir‘ meldete dies dem Kommandanten des Bezirks und bekam die Antwort, dass die Roma „als unsichere Elemente“ liquidiert werden müssten. Die Unvoreingenommenheit einzelner OUN-Mitglieder widersprach anscheinend den allgemeinen Grundsätzen, die damals innerhalb der Organisation dominierten.
Zur Beteiligung der Bevölkerung an den Maßnahmen der Nazis gegen die Roma: Verhalten von örtlichen Verwaltungsbehörden und Hilfspolizei
Lokale Verwaltungsbehörden: Die Rolle der lokalen Administration bei der Verfolgung der Roma ist bis heute ebenfalls nicht hinreichend erforscht, tritt allerdings reliefartig in den Dokumenten und Zeugnissen zu Tage, die mit der Nachkriegstätigkeit der sowjetischen Behörden verbunden sind, und nicht etwa in deutschen Quellen. Statistik- und Wirtschaftsverwaltungsstellen von Kommunen und Gemeinden, die oft mit Aufgaben in Bezug auf die jüdische Bevölkerungsgruppe beauftragt wurden, sollten auch die Roma registrieren und nach deren Ermordung Buch über ihre Hinterlassenschaften führen. Im Folgenden werden einige Beispiele aufgeführt, wobei die Territorien der Verwaltungseinteilung der gegenwärtigen Ukraine entsprechend bezeichnet werden.
Gebiet Rivne: Das drastischste in den Archiven erhaltene Beispiel von Registrierungsmaßnahmen gegen Roma innerhalb eines Bezirks im besetzten Teil der Ukraine ist die Rundverfügung der Bezirksverwaltung der Stadt Vysock, die nicht nur eine Anfrage an die ihr unterstellten Dorfverwaltungen, sondern auch Handlungsanweisungen enthält: „Auf Anordnung des Herrn Gebietskommissars vom 7. VII. 1942 befehle ich unverzüglich per Sonderbote eine Aufstellung über die Zigeuner zu schicken, die sich auf Ihrem Territorium auf Durchreise befinden oder dauerhaft wohnhaft sind.“ Manchmal wurden von der Leitung der Ortsverwaltungen sogar Schritte gegen Roma initiiert. So erließ der Verwaltungsleiter des Bezirks Korec’ am 17. November 1942 folgenden Befehl für die Polizei der Stadt Vysoc’k zur Ausführung im Dorf Bohdanivka, das in seinem Verwaltungsbereich lag: „Es sind unverzüglich Polizeikräfte nach Bohdanivka auszusenden, um die Aussiedlung zweier Zigeunerfamilien auszuführen. Ihr Eigentum soll gegen Empfangsbescheinigung vom Dorfältesten des Dorfes Bohdanivka entgegengenommen werden. Ihr Wohnraum soll Umgesiedelten zugeteilt werden.“
Es ist klar, dass der Verwaltungsleiter Jurij Halyns’kyj mit dem Begriff „Aussiedlung“ etwas anderes meinte. Vermutlich wollte er nicht durch eindeutige Formulierungen die gesamte Verantwortung für die Maßnahmen und ihre Folgen übernehmen: mit der gewählten Formulierung hatte die Polizei selbst zu entscheiden, wie sie mit den Roma umgehen wollte.
Gebiet Wolhynien: Das Oberhaupt des Bezirks Rošyšče veröffentlichte am 9. Juni 1942 für die Leitungen der dem Bezirk unterstellten Dörfer einen Erlass über eine Reihe von Maßnahmen, die unverzüglich ausgeführt werden sollten. In einem Punkt des Rundschreibens heißt es: „Es wird den Zigeunern untersagt, in den Dörfern herumzuziehen. Wenn sie irgendwo auftauchen, soll dies sofort dem Sicherheitsdienst des R[ajons] gemeldet werden.“ Zweifellos hat dieser Erlass die Funktionäre der Dorfverwaltungen dazu verpflichtet, die Romalager den örtlichen Abteilungen der deutschen Gendarmerie oder Polizeistellen zu melden, was das tragische Schicksal dieser Roma besiegelte.
Gebiet Černihiv: In der Stadt Kozelec im Černihiver Gebiet führte der Leiter der Meldestelle, O. Potanin, auf Befehl der Gendarmerie die Erfassung der Einwohner durch. Er bekam die Anweisung, dass neben die Namen von Juden der Buchstaben ‚J‘ und neben die Namen von Roma der Buchstabe ‚Z‘ vermerkt werden sollte. Auf sein Geheiß machte die Mitarbeiterin der Meldestelle entsprechende Vermerke im Namensregister. Im September 1942 verhaftete die Gendarmerie nach dieser Aufstellung 30 Roma, die im Anschluss nach Černihiv abtransportiert und erschossen wurden.
Krim. In Staryj Krym wurde im März 1942 vom Oberhaupt der Stadt, K. Arcyševs’kyj eine Liste über 20 Roma erstellt, die in Stadt und Umgebung wohnhaft waren. Nach eigener Aussage leitete er die Liste an die Gendarmerie weiter, die alle auf dieser Liste Genannten verhaftete und nach Feodosija verbrachte, um sie zu erschießen.
Gebiet Sumy: In der am 27. Juni 1942 von der Bezirksverwaltung der Stadt Romny veröffentlichten Rundverfügung für die Dorfältesten des ihnen unterstellten Territoriums heißt es: „gemäß der Verfügung des Kommandeurs der Sicherheitspolizei in Černihiv über die Meldung von Zigeunern, ordne ich an, dass von den Ältesten das persönliche Erscheinen der auf ihrem Territorium wohnhaften Zigeuner für die Erfassung beim zuständigen Polizeiführer sicherzustellen ist. Den Zigeunern werden für die Niederlassung und den Aufenthalt Bereiche zugeteilt, die sie ohne Erlaubnis nicht verlassen dürfen. Für die Umsiedlung in die einzelnen ihnen zugeordneten Wohnorte müssen die Zigeuner unverzüglich, wie oben beschrieben, zur Erfassung erscheinen.“
Gebiet Donec’k: In der Juzivka-Region erreichte die Dorfältesten am 16. Januar 1943 eine Rundverfügung aus der Bezirksverwaltung Hryšyne, in der unter anderem „auf Anweisung des Gendarm“ gefordert wurde, anzugeben, ob es in ihrem verwalteten Raum „Menschen mit Abstammung von Juden oder Zigeunern“ gäbe.
Selbst, wenn für Roma keine gesonderten Registrierungsmaßnahmen durchgeführt wurden, war den Besatzungsorganen über die Abteilungen für statistische Erfassung in den kommunalen oder regionalen Verwaltungen die Information über den Verbleib von Roma zugänglich gemacht worden – zumindest, was die sesshaften Roma betraf. In vielen Siedlungsorten wurde die Information über die Zusammensetzung der Einwohner monatlich aktualisiert. Solche monatlichen statistischen Erfassungen werden bis heute in den Beständen der kommunalen oder regionalen Verwaltungsarchive aufbewahrt. Deswegen ist bekannt, dass beispielsweise in Vinnycja im Laufe des Jahres 1943 und Anfang des Jahres 1944 unter den Vertretern von 37 Ethnien neben ‚Juden‘ und ‚Halbjuden‘ fast jeden Monat drei ‚Zigeuner‘ registriert wurden. In der Abteilung für Statistik der Stadtverwaltung von Kyïv wurden im ersten Quartal des Jahres 1942 unter den 65 ethnischen Gruppen eine 40 Personen umfassende Gruppe ‚Zigeuner‘ gezählt, darunter zwölf Männer und 28 Frauen.
Neben den regelmäßigen statistischen Berechnungen führten die Behörden der lokalen Selbstverwaltung einmalige Volkszählungen durch. So wurde nach dem Einzug der Wehrmacht in die Stadt Feodosija bei der Organisierung der Stadtverwaltung eine Volkszählung durchgeführt. Unter den 44 ethnischen Gruppen wurden in der Stadt auch eine zehn Personen starke Gruppe ‚Zigeuner‘ erfasst.
Ungeachtet der geografischen Entfernung dieser Orte zueinander und der Tatsache, dass Wolhynien, das Kyïver Gebiet, das Sumy-Gebiet, der Donbas und die Krim zu diesem Zeitpunkt verschiedene administrativ-territoriale Entitäten und sogar unterschiedliche Okkupationszonen bildeten, zeigen sich große Parallelen. Vor allem wurden die Maßnahmen zur Identifizierung und Tötung der Roma in den erwähnten Dokumenten wie bürokratische Routinehandlungen dargestellt, die scheinbar für die örtlichen Verwaltungsbehörden nichts Außergewöhnliches darstellten. Davon zeugt die Tatsache, dass sie bereit waren, ähnliche Aufgaben selbst ohne einen Befehl ‚von oben‘ durch die deutsche Führung auszuführen. Trotz der Vagheit von Formulierungen wie „den Sicherheitsdienst des Rajons in Kenntnis setzen“, „Aussiedlung durchführen“, „das persönliche Erscheinen der Zigeuner für ihre Erfassung sicherstellen“ u.ä., bleibt die Frage danach, was sich genau hinter ihnen verbarg. Könnte diese Vagheit darauf hinweisen, dass die Verfasser dieser Anordnungen sich darüber bewusst waren, dass den unter diese Maßnahmen fallenden Roma ein Todesurteil drohte? Die im Weiteren angeführten Aussagen lassen keinen Zweifel darüber und geben mehrheitlich mit den Worten einstiger Mitarbeiter der Hilfspolizei eine erschöpfende Antwort auf die Frage, wie die Roma „ausgesiedelt“ wurden und was sie danach erwartete.
Lokale Hilfskräfte: In letzten Jahren hat die Forschung zur Rolle der vor Ort rekrutierten Hilfsstreitkräfte in der nationalsozialistischen Politik zur Repression verschiedener Gruppen der Bevölkerung zugenommen, vor allem bei der ‚Endlösung der Judenfrage‘. Die Frage über das Ausmaß ihrer Beteiligung am Genozid der Roma ist bislang ebenso wie diejenige nach der Motivation offengeblieben. Vertreter lokaler Schutzmannschaften wurden von den Deutschen für den Appell, die Konvoibegleitung und manchmal auch für die Hinrichtung der Roma eingesetzt. Mancherorts hat die Ortspolizei bei der Verhaftung oder beim Sammeln und der anschließenden Begleitung der Roma zum Hinrichtungsort assistiert: Die Morde selbst aber haben die deutschen Unterabteilungen begangen. In vielen Fällen gibt es jedoch Grund anzunehmen, dass die örtliche Polizei auf eigene Initiative selbst die Verhaftung, den Konvoi und die Hinrichtung der Roma durchgeführt hat. Auch haben einzelne Formationen oder Bedienstete lokaler Sicherheitsbehörden, die entsprechenden deutschen Strukturen unterstellt waren, die ‚Zigeunerfrage‘ zu ihren Zuständigkeiten gezählt.
Gebiet Dnipropetrovs’k: Am 26. November 1942 erließ Kuz’menko, das Oberhaupt des dem SD unterstehenden Hilfskriminaldienstes, einen Befehl für den Hilfskriminaldienst der Stadtverwaltung in Kamjanske (1936–1941 und 1943–2016 Dniprodzeržyns’k), dem zufolge von nun an ‚Zigeuner‘ gemeinsam mit „‚Juden‘, ‚Kommunisten‘, ‚Kriegsgefangenen‘, ‚Partisanen‘ und anderen Gruppen zur Kategorie ‚politische Angelegenheiten‘ gezählt werden sollten. Zweifellos machte diese weit gefasste Definition der Gruppe die Verhaftung und Übergabe der Roma an den SD möglich – auch der sesshaften Roma, die in die Gesellschaft integriert waren und feste Wohnsitze und Arbeitsplätze hatten.
Gebiet Cherson: Am 8. Mai 1942 (nach anderen Angaben im Juni oder Juli) wurden im Dorf Kalančak 13-16 einheimische Roma aus der Petrovs’kij-Kolchose und der Kolchose ‚Neues Leben‘ ermordet. Mit der Hilfe der örtlichen Polizeikräfte sammelten die Deutschen die Roma und brachten sie zum Erschießungsort. Die beiden deutschen Gendarmen, aber auch der Hauptmann der Bezirkspolizei und seine Untergebenen, reisten einzig aus diesem Anlass ins Dorf an. Den Polizisten wurde die Abholung aller Roma befohlen, denen wiederum erklärt wurde, dass sie nach Skadovs’k umgesiedelt werden sollten. Diese Roma waren allesamt sesshaft und in Kolchosen tätig. Als der Wagen mit den Roma und das begleitende Kraftfahrzeug zwei Kilometer aus dem Dorf heraus und hinter den Garten der Kolchose ‚Roter Partisan‘ gefahren war, wurden die Roma aus dem Wagen geholt und zum Panzerabwehrgraben geführt. Mehrere Polizisten wurden in die Bezirkspolizei zurückbeordert, während die Gendarmen, der Hauptmann der Bezirkspolizei und zwei Polizisten die Roma erschossen: unter ihnen waren sechs Frauen, fünf Kinder und zwei alte Menschen. Einige Polizisten wollten das Eigentum der Ermordeten untereinander aufteilen und stritten darüber, dass „einige bessere Sachen der Erschossenen abgekriegt hatten und einige schlechtere.“ Schließlich wurde das Eigentum der Opfer durch den Hauptmann der Bezirkspolizei verteilt.
Im Örtchen Syvaš (heute eine Siedlung städtischen Typs im Bezirk Novotroïc’ke) hat die Unterabteilung der Bezirkspolizei auf dem Territorium der Sowchose ‚Pariser Kommune‘ im Mai 1942 über 30 sesshafte Roma aus der Kolchose erschossen, darunter Frauen, Kinder und alte Menschen. Unter Beteiligung dieser Unterabteilung wurden im selben Monat 15 Roma aus dem Dorf Pavlivka im Bezirk Heničes’k erschossen.
Gebiet Černihiv: Die städtische Hilfspolizei der Stadt Černihiv spielte eine wichtige Rolle bei den Vergehen gegen die Roma in der Stadt und Umgebung, welche oben bereits erwähnt wurden. Es war die Polizei, die im August 1942 eine Säuberungsaktion organisierte und die Roma im Gebäude des städtischen Gefängnisses sammelte, von wo aus deutsche Einheiten des SD die Roma zur Hinrichtung abtransportierten. So werden die Ereignisse von Augenzeugen beschrieben:
[…] Der lange Treck der Zigeuner aus dem gesamten Gebiet mit ihren Kibitken und Zelten, vollgestopft mit Daunenkissen und Federbetten, mit schmuddeligen Zigeunerkindern, ihren Müttern und Großmüttern, wurde zum Gefängnis getrieben. Vielleicht hätten sich die Zigeuner in den Wäldern zerstreut, aber die Polizei täuschte ihnen vor, dass sie nach Serbien umgesiedelt werden sollten. Als der Zigeunertreck, der sich in Begleitung der von der Sommerhitze gequälten Polizisten ohne Eile die Belinskij-Straße entlangschleppte, sich dem hinteren Tor des Gefängnisses näherte, verstanden die Zigeuner, was für ein Serbien sie erwartete. Die Frauen heulten, klagten, die Kinder weinten, die Männer hasteten umher, suchten ein Schlupfloch, um aus der tödlichen Falle zu entkommen, aber vergebens.
Auf Anweisung des Befehlshabers der Bezirkspolizei der Stadt Varva verhafteten örtliche Polizeikräfte im Dorf Antonivka im Bezirk Varva eine Gruppe Roma: insgesamt elf Personen, darunter Oleksandra Čekalenko und ihre beiden minderjährigen Kinder, Uljana Mojsejvna Vasylenko mit minderjähriger Tochter, Marija Mojseïvna Čepjalenko und ihre vier Kinder sowie Anna Ivanivna Chavenko. Wertgegenstände und sonstiges Eigentum der Roma wurden beschlagnahmt, bevor sie ins Gefängnis der Stadt Pryluky und danach ins Gefängnis von Černihiv kamen, wo sie schließlich hingerichtet wurden.
In der Stadt Nižyn verhaftete die Ortspolizei im Herbst 1942 eine einheimische Romafamilie, die aus 15 Menschen bestand und auf der Berezans’ka-Straße wohnhaft war, und internierte sie im lokalen Gefängnis. Von August bis September 1942 nahm die örtliche Polizei im Dorf Dmytrivka, Bezirk Bachmač, fünf oder sechs Romafamilien fest, die laut Zeugen „etwa 20 Jahre lang im Dorf Dmytrivka sesshaft waren und in der Kolchose arbeiteten.“ Sie wurden aufs Revier der Bezirkspolizei und im Anschluss nach Bachmač gebracht, wo sie erschossen wurden. Im Dorf Baturin, das heute ebenfalls im Bezirk Bachmač liegt, griff die örtliche Polizei im März 1943 mehrere Roma-Kolchosemitglieder auf. Augenzeugenberichten zufolge suchten Polizisten ihre Höfe auf, zwangen sie, ihre Wertsachen mitzunehmen, und versammelten sie auf dem Hof des Polizeireviers. Sogar eine gemischte Familie, bei der die Frau Ukrainerin und der Mann Rom war, wurde zusammen mit ihren drei Kindern in Gewahrsam genommen. Ein Zeuge erinnerte sich, dass der Transport in die Stadt Borzna ging, wo sie, Gerüchten zufolge, in einer Scheune verbrannt wurden.
Gebiet Kirovohrad: Im Mai 1942 traf die Unterabteilung der deutschen Gendarmerie und die örtliche Polizei unter dem Kommando Ivančenkos, des Polizeichefs des Dorfes Novoukraïnka, in der Getreide-Sowchose ‚Lenin‘ nahe des Dorfes ein. In der Sowchose arbeiteten 72 Roma. Sie wurden zusammengerufen, zwei Kilometer von der Sowchose weggeführt und im Wald erschossen. Zeugen erzählten, dass ein Teil des Eigentums der Roma von den Polizisten untereinander aufgeteilt wurde. Im August 1943 beteiligten sich in Budorac’ka balka nahe des Dorfes Ternova balka ca. 15 Einheimische, darunter Wachangestellte des SD-Gefängnisses in Kirovohrad (dem heutigen Kropyvnyc’kyj) und des SD-Lagers ‚Ternova balka‘ (im Dorf Kompaniïvka nahe Kirovohrad gelegen) zusammen mit einem deutschen SD-Trupp aus vier Männern an der Erschießung von 30-40 Roma, die gemeinsam in einem Romalager lebten und unweit des Dorfes Adžamka verhaftet und der Partisanentätigkeit beschuldigt wurden. Dabei schlitzten zwei Wachmänner mit einem Bajonett den Bauch einer schwangeren Romni auf. Unter der Leitung von O.F. Šapošnyk, des Polizeioberhaupts im Dorf Cybulevo, Bezirk Znamjanka, erschossen Polizeibeamten im Sommer 1943 an einem Sägewerk, zwei bis drei Kilometer vom Dorf entfernt, im Wald Čornyj lis, 19 Roma aus einem Lager in der Umgebung.
Gebiet Donec’k: In der Stadt Artemivka (heute Bachmut) wurden zwischen März und April 1942 an die 900 Roma verhaftet und unter Mitwirkung der Polizei vor Ort unter Führung ihres Kommandeurs Vasiljev und seines Stellvertreters Maljutyn ermordet.
Gebiet Mykolaïv: Im Sommer 1943 wirkten mehrere Polizisten der Bezirkspolizei des Bezirks Veselynove (im heutigen Gebiet Mykolaïv) bei der Hinrichtung von knapp 100 Roma in der Nähe des Dorfes Veselynove im Gebiet Annivs’ka balka mit, wobei sie die Roma bei lebendigem Leib in einen Brunnen geworfen haben sollen. „Was sie [die örtlichen Streitkräfte] taten, war die ‚Strafe Gottes‘“, erinnert sich Maryna Alikajeva, die sich während der Okkupation nach Mykolaïv flüchtete.
Krim: Im Dorf Abakly-Toma im Bezirk Džankoj erstellten der Dorfälteste, sein Stellvertreter und der Schreiber im Auftrag der deutschen Gendarmerie im März 1942 eine Liste von über 60 der im Dorf ansässigen Roma. Als am 28. März ein Gaswagen eintraf, halfen sie dabei, die Roma zusammenzurufen und in den Wagen zu treiben. Später wurde bekannt, dass die Roma aus dem Dorf Abakly-Toma getötet und ihre Leichen im nordöstlichen Teil der Stadt Džankoj aus dem Wagen geworfen wurden. Im Nachbardorf Burlak-Toma wurden 45 Roma ebenfalls unter Mithilfe des Dorfältesten und zweier Polizisten in einen Gaswagen gepfercht. Es handelte sich dabei nicht um Nomaden: Für die lokale Bevölkerung waren die Opfer keine Fremden von außerhalb. Nach den Worten eines der Zeitzeugen waren diese Roma „Einheimische aus dem Dorf Burlak-Toma. Vor dem Krieg waren sie Mitglieder unserer Kolchose und haben gut gearbeitet. Unter den Vergasten waren auch Komsomol-Mitglieder und Alte.“ Nach dem Krieg betonten Dorfälteste und Polizisten bei ihren Verhören, dass sie nicht gewusst hätten, für welche Zwecke die von ihnen zusammengestellten Romalisten gebraucht wurden. Die Tatsache, dass die Vernichtung der Roma nach ihrem Abtransport bekannt wurde, stellte für die Dorfältesten und Polizisten kein Hindernis dabei dar, das Vermögen der Opfer untereinander aufzuteilen. Der eine nahm die Hose, den Sarafan, die Matratze, der andere das Kleid, das Grammophon, den Anzug usw. Einer der Polizisten erzählte: „Vom Gut, dass von den erstickten Roma geblieben war, habe ich für 60 Eier zwei Zentner Weizen eingetauscht, für ein vier Monate altes Ferkel und 60 Eier habe ich von den Deutschen eine Kuh bekommen, die denselben Roma gehört hatte.“ Viele Augenzeugen berichteten nach dem Krieg, dass die Roma nicht nur in den bereits erwähnten, sondern auch in vielen anderen Dörfern des Bezirks Džankoj ansässig gewesen seien und dort überlebt hätten, da die Ältesten dieser Dörfer der deutschen Besatzungsmacht keine Informationen über ‚ihre‘ Roma zur Verfügung gestellt und sie in der Regel als Krimtataren ausgegeben hatten. Vor dem Hintergrund der kulturell-religiösen Ähnlichkeiten konnten diese Einwohner tatsächlich als Tataren durchgehen. Es ist durchaus möglich, dass die Ältesten dieser Dörfer ahnten, was den Roma drohte, und deswegen solche Falschangaben machten.
Über die Problematik der ethnischen Identifizierung können nach dem Krieg getätigte Aussagen Hinterbliebener Aufschluss geben. Bei den Befragungen durch sowjetische Organe der Staatssicherheit bezeichneten diese sich als Tataren und bestanden zudem darauf, dass die Umgekommenen ebenfalls ethnische Krimtataren gewesen seien, die Dorfältesten sie allerdings an die Deutschen als ‚tatarische Zigeuner‘ denunziert gehabt hätten. Unter anderem gab ein in den Protokollen als Tatare bezeichneter Augenzeuge an: „Im März 1942, während der Okkupation unseres Bezirks durch die Deutschen, wurde ein Teil unserer tatarischen Bevölkerung, 45 Personen, durch den Ältesten Kryvoručka als ‚tatarische Zigeuner‘ zusammengerufen, obwohl es allesamt sesshafte Tataren, Arbeiter und Arme waren. Ich persönlich war Augenzeuge, wie alle Verhafteten im Hof des Ältesten Kryvoručka von den Deutschen in ein Gaswagen geladen wurden, das indes gekommen gewesen war.“ Dadurch drängt sich geradezu die Schlussfolgerung auf, dass in der Gesellschaft keine einheitliche Meinung über die ethnische Zugehörigkeit dieser Bevölkerungsgruppe herrschte. Manche, einschließlich der Opfer selbst, zogen es vor, als Tataren zu gelten, anderen widerstrebte es, Sinti und Roma als ‚die ihrigen‘ zu akzeptieren.
Zugleich hat in anderen Regionen der besetzten Ukraine die örtliche Hilfspolizei oft nicht nur bei den Verhaftungen mitgewirkt, sondern auch unmittelbar an den Hinrichtungen der Roma, ungeachtet deren sozialen Status und ihrer Lebensweise.
Kiever Gebiet: Ende 1941 oder Anfang 1942 sammelte und erschoss die deutsche Gendarmerie mit Unterstützung der Ortspolizei in der Stadt Korsun’-Ševčenkivs’kyj 14 Roma. Im August 1942 beteiligte sich die Ortspolizei an dem Massaker an 250 sesshaften Roma aus der Kolchose ‚des 9. Januars‘ in der Umgebung der Stadt Obuchiv.
Gebiet Chmel’nyc’kyj: Fünf Mitglieder der Ortspolizei des Dorfes Antonivka (heute im Bezirk Chmel’nyc’kyj) erhielten im Sommer 1942 von der Gendarmerie den Befehl, fünf Romafamilien mit insgesamt 20 Personen, die ihr Lager in der Umgebung der Stadt Proskurov (heute Chmel’nyc’kyj) aufgeschlagen hatten, zu verhaften. Ein ehemaliger Polizist berichtete später den Untersuchungsbeamten über die Ausführung dieser Aufgabe folgendes:
Mit Gewehren bewaffnet liefen wir zu Fuß Richtung Proskurov. Vor dem Ort Ružičnja sahen wir auf der Wiese aufgeschlagene Zelte der Zigeuner, die ihre Pferde weideten. Wir erreichten ihr Lager und befahlen ihnen, sich zu sammeln. Es waren 20 Personen auf vier Fuhrwerken. Sie gehorchten, spannten die Pferde, setzten ihre Familien in die Wagen und wir führten sie in dem Konvoi aus Fuhrwerken zum Dorf Antonovka, wo wir von Polizisten aus Jarmolincy erwartet wurden. Denen übergaben wir die Zigeuner, die von den Polizisten dann in ihren Fuhrwerken nach Jarmolincy getrieben wurden. Ihr weiteres Schicksal ist mir nicht bekannt.
Im Sommer 1943 kämmten Polizisten aus Kamjanec’-Podil’s’kyj den Humenec’kyj-Wald ab, wo sie etwa 50 Roma festnahmen, von denen 15 Männer und der Rest Frauen und Kinder waren. Die Arrestanten wurden zum Erschießungsort an einem Sandsteinbruch nicht weit vom Dorf Makiv im Bezirk Dunajevci gebracht, wo eine deutsche Untereinheit, unterstützt durch die Ortspolizei, die Roma erschoss. Im Dorf Pečes’ky (heute im Bezirk Chmel’nyckyj) stellte der Ortskommandant Anfang 1943 eine fünfköpfige Romafamilie, die einige Tage zuvor erst ins Dorf gekommen war, unter Arrest, weil sie bei der Bevölkerung Kleidung für Lebensmittel eintauschte. Der Kommandant konfiszierte das Pferd der Roma und schickte sie zur deutschen Gendarmerie von Proskuriv, wo sie erschossen wurden. Laut Zeugenbericht meinte der Kommandant am darauffolgenden Tag im Pferdestall des Dorfes zu den 20 anwesenden Bauern: „Das Pferd der Roma kann benutzt werden, es gibt sie nicht mehr, sie wurden erschossen.“
Poltava-Gebiet: Um die entsprechenden Anordnungen zu erfüllen, wurden in der Stadt Kobeljaky unter Mitwirkung des Leiters der Stadtpolizei 80 Roma und 70 „Jugendliche mit Abstammung von Juden und Roma“ verhaftet und erschossen. Die Hinrichtungen fanden auf der anderen Seite des Flusses Vorskla an Panzergräben statt.
Gebiet Sumy: Am 9. Januar 1943 wurden die ukrainischen Bauern aus dem Dorf Lenins’ke (heute Spas’ke) im Bezirk Krolevec’ zur Taufe bei der Romafamilie Prokota eingeladen. Viele Ukrainer und Roma kamen zusammen. Wie später einer der ukrainischen Einwohner bezeugte, fielen spät abends betrunkene „verdammte Bestien der Polizei“ brüllend ins Haus ein „und fingen an unter Beschimpfungen die Eingeladenen aus dem Haus zu jagen, die Zigeuner, Zigeunerinnen und [ihre] Kinder jedoch ließen sie nicht weg […] Danach wurden alle 17 Menschen, die noch im Haus geblieben waren, auf den Schlitten gesetzt und in Richtung Krolevec‘ weggefahren. Am nächsten Tag wendete ich mich an Polizeiobermeister Ščerban’, um mein Geschirr aus dem Haus wiederzubekommen. Ščerban’ fing an zu fluchen und meinte: ‚Euch alle muss man mit den Zigeunern wegschicken.‘ Den Worten des Augenzeugen zufolge wurden insgesamt 32 Erwachsene und Kinder aus diesem Dorf ermordet.
Gebiet Wolhynien: An einem frostigen Samstagabend beobachtete die junge jüdische Frau Ženja Černjavs’ka auf ihrem Heimweg im Städtchen Rohizne im Bezirk Demydiv, wie „auf der Landstraße vielleicht 20 Fuhrwerke mit Roma in einem Konvoi von der Polizei begleitet in Richtung der Stadt Berestečko fuhren.“ Später begriff sie, dass die Roma dort erschossen wurden. Tetjana Markovs’ka, die sich im Spätsommer 1942 mit einem Romalager bei der Stadt Sarny aufhielt, berichtete davon, dass etwa ein Jahr nach Kriegsbeginn die Gewalt an Roma durch Deutsche mit Unterstützung örtlicher Polizeikräfte anfingen. Ihre Eltern und Verwandten kamen um, während es ihr gelang, zu flüchten. Ihrer Meinung nach griffen die Nazis und die Polizisten mit solcher Brutalität durch, weil sie glaubten, dass die Roma den sowjetischen Partisanen Unterstützung leisten würden.
Eine emotionale Schilderung voller schrecklicher Einzelheiten über das 1942 durch die deutsche Gendarmerie und die Ortspolizei verübte Massaker an den Roma in der Umgebung der kleinen Stadt Lokač hinterließ der Jude Michael Diment, ein Überlebender des Ghettos in Lokač. Seinen Erinnerungen zufolge wurde dem Judenrat des Ghettos „am 16. April befohlen, 30 kräftige, mit Spaten ausgerüstete Männer am kommenden Tag zur Verfügung zu stellen. Der Befehl löste Panik aus. Wozu die Spaten?“
Um 5 Uhr morgens nahmen ein Wachmeister in Gestapouniform und 10 Polizisten die 30 Männer mit. Sie brachen Richtung Kozlov auf. Angstvoll blickten wir ihnen nach. Sie gingen zum Hügel in der Nähe der Ziegelfabrik. Dort machte die Kolonne halt. Seit dem Vortag wurden an der Ziegelfabrik Fuhrwerke mit Roma erwartet. Nach einer Weile hörten wir Schüsse und laute Schreie. Was war dort los? Wir waren ratlos. Die Schreie verstummten, aber die Schüsse waren noch zu hören.
Die kräftigen Männer, die nach dem Gemetzel zurückgekommen waren, erzählten von 114 Roma. Die Deutschen hätten sie in den umliegenden Dörfern gesammelt und zu Fuß den Hügel hochgetrieben. Die Deutschen hätten versprochen, für alles zu sorgen, was die Inhaftierten brauchten, dass diese Essen, ein Dach über dem Kopf und Boden bekommen würden. Den Roma wurde gesagt, dass sie ab jetzt sesshaft werden sollten, dass sie nicht länger in Dörfern umherziehen und um Essen betteln müssten.
Als die Polizei frühmorgens kam, schliefen die Roma noch. Sie wurden geweckt und angewiesen, eine Reihe am Hügel zu bilden, vorgeblich zum Nachzählen. Als alle in der Reihe standen, tat der Leiter der ukrainischen Polizei so, als würde er zum Wachtmeister gehen, um ihm das Kommando zu übergeben. Aber als er weit genug weg war, fingen der Wachtmeister und andere Polizisten aus dem Hinterhalt an zu schießen. Die Roma konnten nicht fliehen – sie waren praktisch gegen die Wand gestellt. Die Kinder versteckten sich unter den Röcken ihrer Mütter und starben so. Die Mörder gingen von einer Krippe zur anderen und erschossen die Kleinkinder. Sofort nach dem Massaker besahen die Polizisten die Opfer, sie suchten nach Wertsachen. Wir gruben buddelten? tiefe Gruben, trugen die Leichen hin und begruben sie im Massengrab. Einige von ihnen waren noch am Leben.
Diese grauenerregenden Ereignisse und das tragische Schicksal der Roma riefen bei den Bewohnern des Ghettos tiefe Verzweiflung hervor.
Ende August 1942 umzingelte eine Gruppe von Polizisten der Bezirkspolizei des Bezirks Ratne (heute in Wolhynien) auf dem Weg von der Kleinstadt Ratne zum Dorf Zabolottja eine Gruppe von zehn bis zwölf Roma. Sie wurden nach Ratne abgeführt, wo sie am Stadtrand von Polizisten ermordet wurden. Im Juni 1943 verhaftete eine andere Gruppe von Polizisten im Dorf Zabolottja vier Romamänner. Sie wurden eineinhalb bis zwei Kilometer aus dem Dorf hinaus in den Wald gefahren, wo sie hingerichtet und verscharrt wurden. Im Sommer 1942 verhafteten die Polizisten der Bezirkspolizei im Wald unweit des Dorfes Sil’cja Hirnyc’ki 35-40 Roma, brachten sie nach Ratne und erschossen sie in der Nähe des Friedhofs.
Gebiet Žytomyr: Im Juli 1942 beteiligten sich Einwohner von Žytomyr, welche ebenfalls Mitarbeiter der Kripo waren, an Fahndungen und Verhaftungen in der Stadt. Sieben oder acht Romafamilien, die in der Moskovs’ka- bzw. Sennaja-Straße wohnten, wurden in der Folge erschossen. Im Mai 1942 verhafteten Polizisten der Bezirkspolizei von Janušpol’ im Wald in der Nähe des Dorfes Moločka auf Befehl der dortigen Gendarmerie über 40 nomadierende Roma. Einige Tage später begleitete eine Gruppe von bis zu 20 Polizisten unter dem Kommando der SD aus der Stadt Berdyčiv und dem Leiter der Bezirkspolizei die Roma zu einer Grube in der Nähe der Zuckerfabrik, wo die SD-Mitarbeiter und Polizisten sie erschossen.
Betrachtet man die Gesamtheit der Gewaltakte gegen die Roma unter Mitwirkung der örtlichen Hilfspolizei, gibt es bei nahezu der Hälfte der heute bekannten knapp 30 Vorfälle solcher Art in den vorliegenden Quellen keine Hinweise darauf, dass einheimische Polizisten die Verhaftungen und Ermordungen nicht ohne Beteiligung oder Befehl seitens der deutschen Führung ausgeführt hätten. Dementsprechend stellt sich die Frage, warum Verwaltungsleiter der Kreise und Kommunen sowie Polizeikommandanten es für notwendig erachteten, die Roma zu eliminieren. Eine klare Antwort auf diese Frage lässt sich aufgrund mangelnder Quellen nicht geben. Es gab aber auch eine andere Seite dieser Tendenz. In Anbetracht der Hilfe, die Roma auf der Krim von muslimischen Komitees bekamen, ist es augenscheinlich, dass Gemeinden die Möglichkeit hatten, die schlimmsten Nazi-Verbrechen abzumildern und auf die Gesamtsituation einzuwirken, wenn ihre Vertreter von der kulturell-historischen Verbindung zu den Roma überzeugt waren. Es gibt Belege dafür, dass ähnlich wie auf der Krim auch in Odessa einige muslimische Roma von ihren tatarischen Nachbarn vor der Erschießung gerettet wurden. Viele Roma, die das Glück hatten, zu überleben, erinnerten sich an Fälle, bei denen die Ortsverwaltung, z.B. der Dorfälteste, den Roma Ausweise über eine ukrainische Volkszugehörigkeit ausstellten, die Unentbehrlichkeit der Roma für das Dorf bekundeten oder in anderer Weise versuchten, Roma vor der Ermordung zu schützen oder warnten vor bevorstehenden romafeindlichen Überfällen. Zahlreiche Beispiele sind überliefert. So warnte der Vorsitzende der Verwaltung eines Dorfes nahe der Stadt Monastyryšče im Čerkasy-Gebiet die Familie von Halyna Markovs’ka und sechs weitere Romafamilien vor einem geplanten Pogrom gegen Roma, sodass sie fliehen konnten; im Dorf Novolutkivka im Kirovohrader Gebiet stellte der Dorfälteste einer Romafamilie eine Bescheinigung darüber aus, dass sie Ukrainer seien; eine Romni aus dem Dorf Čudvy, Kostopil’-Bezirk im Gebiet Rivne, berichtete: „[Die Deutschen] wollten uns umbringen. Aber im Dorfrat, sagte man, hätte es der Dorfälteste nicht zugelassen. Der Dorfälteste bat: ‚Lasst sie, tötet sie nicht, sonst haben wir keinen Schmied mehr.‘“ In der Stadt Vaškivci im Norden des Černivci-Gebiets warnte der Älteste die Romni Anila Wajs vor einer drohenden Erschießung, was ihrer großen Familie die Rettung ermöglichte; die 1914 geborene Roma Dajka Ohly berichtete, dass nach der Verhaftung ihres Vaters, der ein Kolchose-Bauer im Bezirk Zaporižžja war, der Dorfälteste alle Hebel in Bewegung gesetzt habe, um dessen Freilassung zu erwirken. Die Dorfbewohner bezeugten, dass ihr Vater dort aufgewachsen sei, „nirgendwo hinfährt und verstanden wird als Russe.“ Der 1927 geborene Roma-Zeitzeuge Volodymyr Osmanov erinnerte sich, dass im Cherson-Gebiet die Einheimischen darum baten, die Roma nicht zu erschießen: „Das ganze Dorf hat sich auf unsere Seite gestellt. So sehr haben sie, die Armen, mitgelitten. Sie haben zu Gott gebetet, damit wir nicht erschossen werden.“ Diese und andere Beispiele zeugen von einer zentralen Gesetzmäßigkeit: Je mehr die Roma in ihr lokales Umfeld integriert und dementsprechend der örtlichen Bevölkerung näher bekannt waren, desto größere Aussichten hatten sie, während der nazistischen Besatzung Hilfe von ihren Nachbarn zu bekommen. Leider ist das nicht überall der Fall gewesen und auch entsprechende Voraussetzungen für solche engeren Beziehungen waren bei weitem nicht immer gegeben.
Die ‚Zigeunerfrage‘ in den Medien und der Propaganda auf den besetzten ukrainischen Gebieten: Mittel zur Mobilisierung oder Mythenbildung?
Der Jude Viktor Fajnštein floh als Jugendlicher in die Ostukraine, um Schutz zu suchen. Er erinnert sich in seinen Memoiren daran, noch Ende 1941 im Dorf Myropillja im Sumy-Gebiet ein kleines, aus zwei Teilen bestehendes KZ-Lager entdeckt zu haben. In einem Teil dieses Lagers wurden Juden inhaftiert, im anderen befanden sich Großfamilien von Roma mit ihren pferdelosen Fuhrwerken. Er schreibt:
Ich lief ziellos auf einer breiten Straße entlang und dachte darüber nach, was ich soeben gesehen hatte. Dass die Deutschen alle Juden und Roma vernichteten, wusste ich. Aber während die faschistische Propaganda die Ausrottung der Juden laut herausschrie und versprach, die Welt von der jüdischen Pest zu befreien, wurde die Vernichtung der Roma verschwiegen. Und das, obwohl in den von den Deutschen herausgegebenen Zeitungen von einem nutzlosen Volk, von Taugenichtsen, Gaunern und Pferdedieben geschrieben wurde.
Diese Beobachtung illustriert, auf welche Weise deutsche Behörden und heimische Intellektuelle – Letztere waren für die Herausgabe von Zeitungen im besetzten Gebiet zuständig – die ‚Zigeunerfrage‘ in den Massenmedien der besetzten Ukraine zu präsentieren versuchten. Das oben angeführte Zitat vergleicht die mediale Beleuchtung der Schicksale derjenigen zwei Bevölkerungsgruppen, die als ‚überflüssig‘ gebrandmarkt wurden und als auszulöschen galten. Deshalb erscheint es auch für die weitere Analyse sinnvoll, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Gründe aufzuzeigen in der Art und Weise der durch die Besatzer sowie einheimische Autoren erfolgten Berichterstattung zur ‚Juden-und Romathematik‘.
In der wissenschaftlichen Literatur finden sich verschiedene Erklärungsversuche für den Sinn und Zweck des massiven medialen Einsatzes antisemitischer Propaganda sowohl im Dritten Reich als auch auf den besetzten sowjetischen – darunter auch ukrainischen – Gebieten.
Eine Auffassung besagt, dass die aktiv antisemitische Komponente der Propaganda ein weiteres effektives Mittel der ‚endgültigen Lösung der Judenfrage‘ darstellte, weil sie zum einen in den Augen der Gesellschaft die Diskriminierung und Vernichtung der Juden durch die Machthaber legitimierte und zum anderen die einheimische Bevölkerung bei dem Versuch, eine neutrale oder gar negative Haltung zu den Opfern der Verfolgung herzustellen oder zu fördern, bestärkte. Vertreter einer anderen Auffassung unterstreichen, dass erstens sogar dort massive antisemitische Propaganda bis zum Ende der Besatzung verbreitet wurde, wo es kaum jüdische Bevölkerung gab, oder selbst dort zum Einsatz kam, wo die jüdischen Gemeinden längst ausgelöscht waren; und dass zweitens in den Massenmedien gerade die These über eine ‚kommunistische Verschwörung der Juden unter all den anderen Diskursen zur ‚Judenfrage‘ wie ‚Religion‘, ‚Rasse‘, ‚Ökonomie‘, ‚Alltag‘, ‚Politik‘ u.a. am eifrigsten verbreitet wurde. Das lässt sich damit erklären, dass diese Bemühungen weniger gegen Juden und auf ein Schüren der Ressentiments gegen sie gerichtet waren als auf die sowjetisch-kommunistische Ideologie und ihr Wertesystem. Dieses versuchten die Nazis zu unterminieren, indem sie die Ideologie den Juden zuschrieben und damit für ihre Zielgruppe als etwas ‚Fremdartiges‘ darstellten.
Wie dem auch sei, beide Auffassungen betrachten den Antisemitismus als Grundstein der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis, woraus sich auch die starke Verbreitung in den Propagandamedien erklären ließe. Gab es bei der ‚Romafrage‘ ähnliche Mechanismen, Ziele und Größenverhältnisse? Die Analyse der medialen Publikationen während der Besatzungszeit führt zu interessanten Beobachtungen, allerdings auch zu uneindeutigen Ergebnissen. Wenn auch in geringerem Umfang, waren der ‚Romafrage‘ ebenfalls etliche Veröffentlichungen in Zeitungen gewidmet, die in der besetzten Ukraine erschienen. So veröffentlichte die Zeitung ‚Nova Ukraïna‘ [‚Neue Ukraine‘] aus Charkiv am 5 September 1943 ein Artikel mit dem Titel Die Zigeuner und Europa. Der Beitrag berichtet, dass
[…] das Zigeunerproblem das Bild einer tiefen sozialen Degradierung zeigt. In Deutschland wurde das Problem längst erkannt, und die in Frankfurt gegründete Zentralbehörde, die zuständig für die Registrierung und Kontrolle aller Zigeuner Deutschlands ist, hat in Zusammenarbeit mit der Polizei das Zigeunerproblem ein für alle Mal gelöst. Die Zigeuner […] sind nach mehreren Jahrtausenden ihres Zusammenlebens mit den Völkern der zivilisierten Welt nicht sesshaft geworden, sondern primitive Nomadenbarbaren geblieben. […] Das neue Europa [sic], das auf den Ruinen von allem abgelebten, konservativen, gefährlichen und schädlichen für seine Völker aufersteht, hat sich heute der Lösung dieses Problems der sozial-ethnischen Ordnung annehmen.
Es wird deutlich, dass die Autoren dieses Artikels das ‚Zigeunerproblem‘ im Gegensatz zum Großteil der antisemitischen Publikationen in erster Linie nicht in den Begriffen aus der Rassenlehre dachten, sondern als Frage der Sozialisierung ansahen. Die Roma wurden somit als eine Gruppe von Nomaden mit krimineller Veranlagung dargestellt, ohne die Diversität der Erscheinungsformen und unterschiedlichen Lebensweisen der damaligen Roma in Betracht zu ziehen. Allerdings gab es ohnehin wenige Veröffentlichungen, die der ‚Zigeunerfrage‘ gewidmet waren und mit dieser oder jener Begründung die ‚Schädlichkeit‘ oder ‚Gefährlichkeit‘ dieser Bevölkerungsgruppe erläuterten. Das Ukrainische Zentrum für Holocaustforschung hat 2006/07 ein Forschungsprojekt zur Okkupationspresse und die Katalogisierung von Artikeln zur ‚Judenfrage‘ durchgeführt. Dabei wurden über 600 Periodika analysiert und über 4 000 Beiträge zur ‚jüdischen Thematik‘, aber auch Texte zur ‚Zigeunerfrage‘, gefunden. Zusätzlich zu dem bereits zitierten Beitrag wurden in der Datenbank des Projekts folgende Beiträge zu den Roma katalogisiert.
Autor | Titel | Periodikum | Tag, Monat, Jahr | Gattung der Publikation |
Jurko Šelest | Ehrliche Arbeit | Ukraïns’ke slovo (Kiev) | 10.12.1941 | Essay |
Ohne Verfasser (o. V.) | Zigeuner in Lemberg | L’vivs’ki visti (Lemberg) | 12.12.1941 | Bericht |
(o. V.) | Zigeuner bei der Arbeit. Slowakei | Holos Pidkarpattja (Lemberg) | 30.08.1942 | Meldung |
(o. V.) | Zigeuner bei der Arbeit. Slowakei | Ridna zemlja (Lemberg) | 30.08.1942 | Meldung |
(o. V.) | An der Reihe. Nach den Juden die Zigeuner. Slowakei | Ridna zemlja (Tageszeitung, Lemberg) | 14.06.1942 | Meldung |
(o. V.) | Die Zigeunerfrage | Molva (Odessa) | 3.06.1943 | Analyse |
(o. V.) | Humor. Zigeunerbekenntnisse | Podoljanyn (Kam’janec’–Podil’s’kyj) | 31.12.1942 | Humoreske |
(o. V.) | Humorecke. Zigeunerbekenntnisse | Taraščans’ki visti | 6.06.1943 | Humoreske |
(o. V.) | Der Zigeunermäher | Stanislavs’ke slovo | 18.07.1943 | Feuilleton |
(o. V.) | Der Zigeunermäher | Ternopil’s’kyj holos | 18.07.1943 | Feuilleton |
| Der Zigeunermäher | Ridna zemlja (Tageszeitung, Lemberg) | 18.07.1943 | Feuilleton |
In drei dieser Publikationen wurde die ‚Zigeunerfrage‘ als Gefahr für die Existenz der ‚neuen Ordnung‘ bezeichnet, deren Aufbau das Ziel der Besatzungsmacht war. Die anderen bestanden entweder aus kurzen Informationen zur Lösung der ‚Zigeunerfrage‘ in verschiedenen Teilen Europas oder aus humoristischen Glossen, die die Roma als Figuren karikierten, die sich vor Arbeit drücken und auf Kosten der Gesellschaft das Leben genießen, und damit der etablierten Wahrnehmung im folkloristisch geprägten kollektiven Bewusstsein entsprachen.
Die Analyse der Massenkulturproduktion in den Städten der Ukraine während der Okkupation, unter anderem der Repertoires von Schauspielhäusern, gibt ein überraschend paradoxes Bild wieder, das dem kulturell-ideologischen Kontext des Genozids an den Roma eine weitere Dimension hinzufügt. Während Romalager und sesshafte Roma an Stadt- und Dorfrändern vernichtet wurden, waren an zahlreichen Theatern Aushänge mit Ankündigungen für Werke zu sehen, die Roma als faszinierende romantische, märchenhafte, gütige oder tollkühne Protagonisten repräsentierten und die mit diesen Eigenschaften zusammenhängenden Gefühle zu evozieren versuchten. Allen voran handelte es sich um Stücke wie Zigeunerliebe von Franz Lehár, Der Zigeunerbaron von Johann Strauss oder Die Zigeunerin Aza des ukrainischen Schriftstellers Mychajlo Staryc’kyj. Auf Grundlage der Arbeit des Theaterwissenschaftlers Valerij Hajdabura und einer eigenen Recherche von Zeitungsankündigungen in der Besatzungszeit lässt sich konstatieren, dass mehr als 30 der 60 während der Besatzung betriebenen Theaterhäuser mindestens eines dieser Stücke, wenn nicht zwei oder alle drei in ihrem Repertoire hatten. So schrieb am 20. Dezember 1942 die Zeitung ‚Nova Ukraïna‘ [‚Neue Ukraine‘] in Charkiv, dass es im Operntheater von Lemberg 365 Vorstellungen gegeben hätte, worunter „die größten Zuschauererfolge Der Zigeunerbaron mit 31, Carmen mit 21 und Zigeunerliebe mit 14 Vorstellungen“ gewesen seien.
Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass es neben einfachen Ankündigungen auch Rezensionen und Kritiken gab, die durch Redaktionen oder Abteilungen für Kultur und Kunst veröffentlicht wurden. Beispielsweise schwärmte ein Kritiker aus Anlass des zweiten Jahrestages der Lemberger Oper:
Die Dürftigkeit des ukrainischen Repertoires zwingt das Theater, alte Operetten aus Vorkriegszeiten aufzuführen, die sich allerdings, neben den Opern, der größten Beliebtheit beim Publikum erfreuen, nicht zuletzt bei den Deutschen. Deswegen mussten auch Der Zigeunerbaron, Der Vogelhändler, Zigeunerliebe, Paganini, oder Wo die Lerche singt auf die Bühne gebracht werden. Man muss anerkennen, dass diese Inszenierungen, ausgestattet mit stilvollen Bühnenbildern, Kostümen und musikalischer Begleitung, verjüngt wurden und höchst wirkungsvoll gelungen sind. Dies betrifft insbesondere den Zigeunerbaron in der Inszenierung der Regiegröße J. Stadnyk, der ebenfalls bei Zigeunerliebe und bei der Wiederaufnahme von Hrycja Regie führte, welche einen sagenhaften Rekord bei der Anzahl der Aufführungen erreichte.
Ähnliche Rückmeldungen gab es zu Inszenierungen, bei denen die Roma repräsentiert wurden, aus Theaterhäusern in anderen Regionen der Ukraine. In der Zeitung ‚Nižyns’ki visti‘ [‘Nižyner Nachrichten‘] wurde am 6. Juni 1942 über die Arbeit des Stadttheaters geschrieben: „Das Stadttheater von Nižyn führt nicht nur Stücke aus seinem alten Repertoire auf, sondern hat auch den Mut, sein künstlerisches Potenzial an neuen Stücken zu erproben. So stellte das Theater am 30. Mai bei der Uraufführung des Stücks Die Zigeunerin Aza vor ukrainischem und deutschem Publikum sein Können unter Beweis.“ Der Redakteur der Proskuriver Zeitung ‚Ukraïns’kij holos‘ [‚Ukrainische Stimme‘] O. Kravčuk bemerkte am 13.August 1942 in einer Rezension zur Inszenierung Der Schatz von Zaporižžja lobend: „Bei der Regie stimmt alles. So wird auch im ersten, zweiten und dritten Akt das Leben der Zigeuner voll und ganz mit seinen typischen Eigenheiten wahrheitsgetreu dargestellt. Die Zuschauer sehen sie bei ihren Zelten: da sind auch die Schmiede, die Kinder, die Zigeunerinnen beim Wahrsagen und Tanzen – und alles ist bis aufs kleinste Detail durchdacht.“ An dieser Stelle ist es wichtig noch einmal hervorzuheben, dass in diesen und anderen positiven Kritiken stets erwähnt wurde, dass die Stücke nicht nur für heimisches, sondern auch für deutsches Publikum bestimmt waren.
Das beste Beispiel aber bietet ein Text aus der Zeitung ‚Doneckij vestnik‘ vom 2. Dezember 1942 zur 50. Aufführung der Operette Der Zigeunerbaron durch das Stadttheater von Juzivka. Auf folgende Art und Weise beschreibt der Verfasser den festlichen Auftakt vor der Vorstellung am 1. Dezember:
Vor dem Beginn der Ouvertüre wurde der Vorhang hochgezogen und die Schauspieler betraten die erleuchtete Bühne. Daraufhin trat Unteroffizier Heitmann von der Ortskommandantur vor das Publikum. Er hielt eine kurze Rede […], stellte die Darsteller der Hauptrollen einzeln vor und beschrieb ihre Charaktere mit wenigen, aber herzlichen Worten.
Dieses detaillierte Presseecho zeigt, dass Vertreter der deutschen Besatzungsbehörden nicht bloß passive Theaterbesucher bei Werken mit Romafiguren waren, sondern sich auch nicht scheuten, die Prozesse des kulturellen Lebens zu lenken und auf diese Weise die öffentliche Präsenz dieser Themen zu nähren und zu legitimieren.
Auf dieser Grundlage wird ersichtlich, dass die verschiedenen Verwaltungszweige der Besatzungsmacht kein klares einheitliches und widerspruchsfreies Konzept für den Umgang mit der ‚Zigeunerfrage‘ ausgearbeitet hatten und die Praxis sehr von den örtlichen Verwaltungen abhing. Im Gegensatz zur ‚Judenfrage‘ war die Berichterstattung zu den Roma nicht konsequent und einheitlich. Elemente der Romakultur, die im kollektiven Bewusstsein verankert waren, sollten nicht vernichtet werden. Umgekehrt wurden einige Aspekte der Romakultur gepflegt, weil sie wahrscheinlich eine wichtige Funktion erfüllten.
Wie lassen sich diese Tatsachen erklären? Für die Forscher der Roma- und Alltagsgeschichte der Besatzungszeit stellen sie ein gewisses Paradox dar, das sie zwar konstatieren, aber nicht weiter ausführen. Die Antwort ist höchstwahrscheinlich, dass es dabei weniger um den Erhalt und die Weitergabe identitärer Besonderheiten der Romakultur ging als um weit verbreitete kulturelle Stereotype und bestimmte beliebte romantisierende Bilder, die im Bereich der europäischen – darunter auch der ukrainischen – Massenkultur entstanden waren. Diese waren nur sehr indirekt mit der tatsächlichen Kultur der Roma verbunden und zeigten aus dem breiten Spektrum der Vorstellungen und Werte nur diejenigen Ausschnitte, für die es in der breiten Öffentlichkeit am meisten Bedarf gab und die ein solches ‚ideales‘ Bild der Roma entwarfen, das in der europäischen – in diesem Fall deutschen und ukrainischen – Populärkultur Anklang finden konnte. Eine solche ‚Selektion‘ und ihr Gebrauch für Propagandazwecke war mitnichten ein Hindernis dabei, real existierende Romalager und sesshafte Romafamilien auszulöschen, sondern diente im Gegenteil als zusätzliches Mittel, Gruppen und einzelne Individuen der Roma aus dem kollektiven Bewusstsein der breiten Gesellschaft und dem öffentlichen Raum zu verdrängen und langfristig loszuwerden.
Zusammenfassung und Schlussbemerkung
Die Versuche, das Leben der Roma auf den besetzten Gebieten der Ukraine, ebenso wie woanders, zu erforschen, können sich nicht bloß auf die Untersuchung der Absichten und Taten der deutschen oder rumänischen Besatzungsmächte beschränken. Da diese Ereignisse nicht in einem luftleeren Raum stattfanden, spielte die restliche Bevölkerung eine wesentliche und zuweilen sogar entscheidende Rolle bei diesen Ereignissen. Bei der Betrachtung dieser Aspekte, die für die Erforschung jedes Genozid-Phänomens unabdingbare Komponenten sind, müssen aber auch sowohl die Vielfältigkeit der Gruppen und Schichten der Bevölkerung, die wir unter ‚Einheimische‘ zusammenfassen, als auch viele weitere Faktoren beachtet werden, von denen diese bei ihren Konfrontationen mit der ‚Zigeunerfrage‘ während der Okkupation geleitet wurden. Die verschiedenen Faktoren lassen sich unter drei Kategorien zusammenfassen: erstens ‚ideologische Faktoren‘; zweitens ‚soziale Faktoren‘; und drittens ‚alltagsfolkloristischen Faktoren‘. Die Versatzstücke der letzten Kategorie hatten ihre Wurzeln in den vorherrschenden und weit verbreiteten Vorstellungen über die Roma.
Wenn man die verschiedenen Gruppen der Nicht-Roma-Bevölkerung betrachtet und versucht, diese theoretisch hinsichtlich ihres Einflusses und ihrer Haltung in der Zigeunerfrage‘ zu kategorisieren, lassen sich folgende drei Kategorien identifizieren:
1) Unabhängige Akteure, also Vertreter der ukrainischen nationalistischen Bewegung OUN und ihres militärischen Flügels, der UPA: Die Analyse dieses Teils der Ideologie und Propaganda der ukrainischen Nationalisten hinsichtlich der Roma zeugt davon, dass die ,Zigeunerfrage‘ für sie eine wichtige Rolle spielte, wenn es einen Konflikt mit ihren Vorstellungen über die Zukunft des sozialen Gefüges und der Gesellschaftsordnung der Ukraine gab, das umherziehende Roma vermeintlich bedrohten. Dazu kam das Gefühl einer scheinbaren Gefahr hinzu, die von den nomadisierenden Roma für nationalistische Partisaneneinheiten ausging, sowie das Bestreben der Roma, Zuflucht in den sowjetischen Partisaneneinheiten zu finden. Besonderes Misstrauen erweckten vor allem nomadische polnische Roma, da sie nicht vertraut waren und vor dem Hintergrund des „Wolhynischen Gemetzels“ die Aufmerksamkeit ukrainischer nationalistischer Gruppierungen auf sich lenkten. Diese Situation wurde zudem noch durch die in der alltagsfolkloristischen Kultur verbreiteten Vorstellungen verstärkt. All dies führte zu Gewalt und Mord seitens der nationalistischen Einheiten, von denen in erster Linie umherziehende Romagruppen betroffen, in manchen Fällen allerdings auch sesshafte, in Dörfern lebende Roma betroffen waren; letztere aus dem einfachen Grund, dass sie „Zigeuner“ und folglich Inhaber ,unerwünschter‘ Eigenschaften waren, die ausgelöscht werden mussten;
2) Die Mitarbeiter der lokalen Behörden verschiedener Verwaltungseinheiten sowie die Hilfspolizei vor Ort: Quellen belegen, dass die lokalen Vertreter des Verwaltungsapparats, wie auch bei der ,Judenfrage‘, die Aufgaben der Erfassung und Meldung der Roma übernahmen, und dass örtliche Polizeikräfte die Roma verhafteten und den deutschen Straforganen übergaben – in einzelnen Fällen sogar ohne einen entsprechenden ausdrücklichen Befehl ‚von oben‘. Davon war sowohl die umherziehende als auch die sesshafte Romabevölkerung betroffen. Was die Motivation der Polizeibeamten betrifft, so lassen sich unter anderem materielles Interesse am Eigentum der Roma, die vorbildhafte Erfüllung der Dienstpflichten und damit zusammenhängende berufliche Ambitionen, die Selbstherrlichkeit von Menschen an der Waffe und die Möglichkeit, über Leben und Tod Anderer entscheiden zu können sowie nicht zuletzt die Wahrnehmung der Romaminderheit als Menschen zweiter Klasse nachweisen. Höchstwahrscheinlich führte eine Kombination all dieser Beweggründe zu den fatalen Folgen. Allerdings gab es bestimmte Ausnahmen, wie im Fall der Krim und anderer Orte, wo aufgrund von Beziehungen religiöser, kultureller, beruflicher oder anderer Art zwischen den örtlichen Verwaltungsbehörden und der Romaminderheit den Roma Hilfe geleistet wurde;
3) Einheimische Intellektuelle, die als Kulturschaffende während der Besatzung für die Gestaltung und Prägung des öffentlichen Raums und des öffentlichen Diskurses mittels der Massenmedien oder verschiedener Arten der Kulturarbeit, wie im Theater u.ä., zuständig waren: Möglicherweise waren sie sich über die Ausschluss- und Depersonalisierungsmechanismen in Bezug auf die Romaminderheit nicht hinreichend bewusst, wenn sie das ‚Thema der Roma‘ auf Zeitungsseiten oder Theaterbühnen brachten. Eine Konsequenz dieser Tätigkeit war allerdings die Transformation der Bilder von realen Roma in realitätsfremde massenkulturelle Symbole, was den Besatzern die ‚Lösung der Zigeunerfrage‘ erleichterte.
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Irina Bondas, Berlin