Die Deutschbalten in der Kulturgeschichte Lettlands und der Letten
[Die Deutschbalten in der Kulturgeschichte Lettlands und der Letten], in: Jānis Stradiņš (Hrsg.): Latvieši un Latvija. Akademiski raksti, IV. sēj.: Latvijas kultūra, izglītiba, zinātne [Letten und Lettland. Akademische Beiträge, Bd. 4: Kultur, Bildung und Wissenschaft Lettlands], Rīga 2013.
Seit dem Entstehen einer nationalen lettischen Historiografie ab etwa 1880 wird die Rolle der Deutschbalten in der Geschichte Lettlands und dessen historischen Vorläufer (Alt-Livland bis 1561, Livland und Kurland bis 1918) kontrovers diskutiert. Die Diskurse waren dabei stets eine Funktion der jeweiligen politischen Machtverhältnisse: die Stilisierung der Deutschbalten als „Fremdlinge“ diente in den 1920er und 1930er Jahren jungen lettischen Historikern zur Entwicklung einer lettischen Volksgeschichte und Verdrängung deutschbaltischer Kollegen aus dem historischen Feld des Landes. Während der Jahrzehnte der Sowjetherrschaft (1941/44‒1991) mussten die Deutschen für ein Feindbild herhalten, das von Bischof Albert bis zur SS reichte und die Sowjetherrschaft und brüderliche Verbundenheit mit der russischen Nation betonen half. Erst die Wende 1989/91, die erneute Unabhängigkeit, die Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte sowie die politische und kulturelle Rückkehr nach Westen ermöglichen ein differenzierteres Bild von der deutschbaltischen Geschichte in Lettland. Im Rahmen einer sich gegenüber der neueren Kulturgeschichte öffnenden Geschichtsschreibung versucht man, diese Geschichte entspannter zu sehen und sie behutsam in die sich langsam modernisierende kulturelle Identität des Landes zu integrieren. Der hier wiedergegebene Text der lettischen Literaturwissenschaftlerin Māra Grudule aus dem Jahr 2013 repräsentiert diese Bemühungen.
Wir bedanken uns für die freundliche Abdruckgenehmigung des Beitrages bei der Verfasserin Māra Grudule sowie bei dem Verlag der Akademie der Wissenschaften Lettlands in Riga.
Einleitende Bemerkungen
Das Jahr 1918 markiert nicht nur die Proklamation der Baltischen Staaten und das Ende der russischen Ostseegouvernements Estland, Livland und Kurland, sondern auch einen politischen Machtwechsel und das Ende einer 700-jährigen deutschen Oberherrschaft und politischen Autonomie im Baltikum. Damit verbunden ist auch der Beginn einer Differenzierung innerhalb der Historiografie zu dieser Region. Zunehmend machen ab den 1920er Jahren Esten und Letten den arrivierten deutschbaltischen Historikern Konkurrenz und verdrängen sie aus den Geschichtsdiskursen des Baltikums, hier ‒ in Lettland ‒ zunächst an der 1919 neugegründeten Universität Lettlands später am staatlichen, 1936 gegründeten Geschichtsinstitut Lettlands, an dem kein einziger deutschbaltischer Historiker mehr tätig sein sollte.
Ziel der Letten war, ein deutschbaltisches Geschichtsbild, das die Verdiensten und Leistungen der deutschen Oberschicht seit der „Aufsegelung“ Livlands ab 1184 hervorhob, durch eine lettische Volksgeschichte zu ersetzen, die in die drei Epochen einer lettischen Altertumsgeschichte (lett. Senvēsture, bis etwa 1200), einer lettischen Älteren Geschichte (lett. Vecākā vēsture, etwa von 1200 bis 1850) und einer lettischen Neueren Geschichte (lett. Jaunākā vēsture, ab etwa dem Nationalen Erwachen um 1850) gegliedert sein sollte. Diese Neuperiodisierung der lettischen Geschichte entsprach den Vorstellungen, die einer der „Väter“ des „Nationalen Erwachens“, Krišjānis Valdemārs (1825‒1891), im 19. Jahrhundert formuliert hatte: von einer Geschichte der „alten Freiheit“ bis um etwa 1200, einer zweite Epoche der Jahre der „Sklaverei“ bis zum 19. Jahrhundert und einer dritten Epoche des Beginns der „Freiheit in unserem Jahrhundert“, d.h. ab dem 19. Jahrhundert. In den Mittelpunkt der Historie Lettlands rückte nun zunehmend das lettische Volk (lett. latvju tauta), während Deutsche, Polen, Schweden und Russen zu Randvölkern, zu nationalen Minderheiten, in der baltischen Geschichte werden sollten.
Sinnfälliger Ausdruck der Ergebnisse und erste Bilanz dieser Bemühungen waren zwei in den Jahren 1930 und 1932 mit großem Aufwand publizierte Veröffentlichungen unter dem Titel „Die Letten“. In den beiden Aufsatzbänden versammelten Beiträge zur lettischen Geschichte (vor allem zur Frühgeschichte vor 1200), zur Kulturgeschichte, Sprache und Folklore des lettischen Volkes und sollten verschleiern, dass die jungen lettischen Historiker noch nicht in der Lage waren, eine baltische oder lettische Gesamtgeschichte vorzulegen. Während Band 1 noch in einer deutschen Übersetzung erschien, wurde Band 2 bereits nicht mehr übersetzt. Kein einziger deutschbaltischer Autor wurde beteiligt, Subjekt fast aller Aufsatztitel waren die „Letten“, deutsche Geschichte im Baltikum wurde einer lettischen Volksgeschichte nachgeordnet und die Deutschen des Landes zu historischen Feinden stilisiert und reduziert.
Das Bild der Deutschen als Fremdherrscher in der baltischen Geschichte konnte mühelos über die politische und ideologische Zäsur des Jahres 1944 und der erneuten sowjetischen Besetzung Lettland hinübergerettet werden. Deutsche Gutsherren und Bürger waren nun ohnehin Klassengegner, und als solches traten sie wiederum gegenüber der Geschichte des lettischen Arbeitervolkes, nun im brüderlichen Schulterschluss mit den Arbeiterklassen der sowjetischen Völker, in den Hintergrund und dienten als Reservoir für propagandistische Feindbilder.
Eine Entmythologisierung des deutschen Feind- oder Fremdenbildes begann erst mit der Neubewertung der deutschbaltischen Geschichte in Zusammenhang mit der Unabhängigkeitsbewegung in Lettland ab 1987, als die Westorientierung der lettischen Geschichtswissenschaft neu begründet werden sollte. In einem vielbeachteten Vortrag im Schöneberger Rathaus in Berlin sprach 1988 das lettische Akademiemitglied Jānis Stradiņš den Deutschbalten der Geschichte des Baltikums eine wichtige und positive Funktion als „Brücke zwischen Ost und West“ zu und lobte ihre Beiträge zur Kulturgeschichte des Landes. Der Journalist Viktor Daugmalis entzauberte in einem vielbeachteten Essay 1990 den „Mythos von der siebenhundertjährigen Knechtschaft“ der Letten unter deutschen Baronen. Und schließlich erschienen in Zusammenhang mit der Neuformulierung einer lettischen Minderheitenpolitik ab 1991, die international im Rahmen des Beitritts Lettlands zu europäischen Institutionen (Europarat, Ostseerat, OSZE, EU, NATO) gefordert wurde, zahlreiche Publikationen, die sich einer Wiederaneignung und Neubewertung der deutschbaltischen Geschichte widmeten.
Der hier in deutscher Übersetzung vorgelegte Beitrag der lettischen Literaturwissenschaftlerin Māra Grudule (geb. 1963 in Riga) über die „Deutschbalten in der Kulturgeschichte Lettlands und der Letten“ darf beanspruchen, grundlegend und zusammenfassend den aktuellen Stand der Diskussion in Lettland über die Stellung der Deutschbalten in der Kulturgeschichte, hier vor allem in der Literaturgeschichte Lettlands zu repräsentieren. Von Bedeutung ist, dass er in einem Standardwerk erschien, dass im Rahmen des einzigen aktuell-nennenswerten geisteswissenschaftlichen Projektes in Lettland, im „Letonika-Projekt“ dessen bisher krönenden Abschluss bildete. Bezeichnend für die vierbändige Publikation ist, dass sie wiederum, in Anknüpfung an die beiden Veröffentlichungen der 1930 Jahre, „Die Letten“ betitelt ist, diesmal aber mit dem erweiternden Zusatz „und Lettland“. Damit wurde eine Öffnung für die Darstellung der Geschichte nichtlettischer Bevölkerungsgruppen Lettlands erreicht, der sich mehrere Aufsätze widmen, insbesondere dort, wo es um die Vor- und Kulturgeschichte Lettlands bis 1918 geht. Dass der Aufsatz von Grudule mit dem Appell audiatur et altera pars eröffnet, mag ein Hinweis sein, dass die Diskussion um die Stellung der Deutschbalten in der Geschichte Lettlands noch nicht abgeschlossen ist.
Die Deutschbalten in der Kulturgeschichte Lettlands und der Letten
Audiatur et altera pars.
In dem vorliegenden Artikel wird ein Einblick in die Kulturgeschichte der baltischen Deutschen gegeben, wobei das Hauptaugenmerk dem Entwicklungsprozess der Literatur und der Frage gilt, wie die deutschbaltische Kultur die lettische Kultur beeinflusst oder Resonanz in ihr gefunden hat. Die deutschbaltischen Texte, die für deutsche Leser gedacht waren, haben die lettische Literatur nur in außerordentlich seltenen Fällen beeinflusst; dies ist bedingt durch die historischen Umstände und die koloniale Situation. Die deutschbaltische Literatur reflektiert die literarischen Prozesse Europas oder, genauer gesagt, des deutschsprachigen Teils Europas von ihren Uranfängen an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert. Sie erwirbt regional spezifische Züge hinsichtlich der Bildlichkeit, der Typage und der behandelten Sujets im 19. Jahrhundert, das ist charakteristisch auch für die deutschbaltische Gemeinschaft in der Epoche des nationalen Erwachens.
The article touches upon German Baltic culture from its beginnings – the turn of 12th/13th centuries till the 20th century, it gives a more detailed overview about the history of German Baltic literature, which has been a true follower of European literary tradition, or more exactly – the literary process of the German speaking part of Europe. It gives a glimpse of the impact of German Baltic culture on Latvian architecture, arts, music, theatre, science and schooling. The impact of German Baltic texts on Latvian literature is rather insignificant, in connection with the colonial situation in the Baltic till 1918 and the rise of independent Latvia.
Schlagwörter: Kultur der Deutschen des Baltikums [im Original: Baltijas vācu kultūra! D.H.], historische Beziehungen von Deutschbalten und Letten.
Keywords: German Baltic culture, historical relations between Baltic Germans and Latvians.
Einleitung
Die deutschbaltische Kultur im Baltikum ist traditionell in einen Zusammenhang zu stellen mit dem Zeitraum von der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert, also mit den Kreuzzügen, der Erstarkung des Deutschen Ordens und der christlichen Kirche im Baltikum, der allmählichen Verwurzelung der Eroberer und Missionare und der Unterwerfung der autochthonen Bevölkerung, bis zur Aussiedlung der Deutschbalten im Herbst 1939 und zum Ende des Zweiten Weltkriegs, und territorial mit den Gebieten Kurland, Semgallen und Livland. Ein Deutschbalte ist ein Deutscher, der im Baltikum geboren ist oder den größeren Teil seines Lebens im Baltikum verbracht hat und dort verwurzelt ist; daher werden beispielsweise weder Johann Gottfried Herder noch Richard Wagner, die kurzzeitig in Riga lebten, als Deutsche aus dem Baltikum angesehen.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts assoziieren sich die Deutschbalten in den schriftlichen Quellen mit einem bestimmten Territorium und vertreten verschiedene Staaten: Kurländer, die Deutschen aus dem Herzogtum Kurland und Semgallen (bis 1795), und Livländer, die Deutschen aus Livland. Nach der Einverleibung des gesamten Baltikums in das Gefüge des Russischen Reiches gehen die dort ansässigen Deutschen allmählich zur gemeinsamen Bezeichnung Balten über. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Bezeichnung Balten sich auch für die dort lebenden autochthonen Völker festigt, fügen die baltischen Deutschen für sich die konkretisierende Wortverbindung Balten deutscher Nationalität bzw. Deutschbalten hinzu. Die Bezeichnung Baltendeutsche ist wiederum verhältnismäßig jungen Ursprungs, sie wurde erst auf Anregung der Behörden Hitlers verwandt. Während der Sowjetzeit wurde sie weiter benutzt, einerseits in ideologischer Absicht, andererseits weil man es als Abkürzung für die Wortverbindung baltische Deutsche oder als Analogiebildung beispielsweise zur Bezeichnung Weißrussen auffasste. Auch der Wunsch der älteren Generation der baltischen Deutschen, zur Bezeichnung ihrer Gemeinschaft den Terminus Deutschbalten (lett. vācbaltieši) oder Balten (lett. baltieši (aber weder balti noch vācbalti, um die Bezeichnung nicht mit einer konkreten baltischen Sprachgruppe in Verbindung zu bringen), aber keineswegs Baltendeutsche zu verwenden, ist verständlich. Für die Mehrheit ist die historische Tradition heutzutage fremd, in Texten und Reden stehen drei verschiedene Bezeichnungen nebeneinander – baltische Deutsche, Deutschbalten und Baltendeutsche.
Bis zur Gründung des Staates Lettland im Jahre 1918 waren die Deutschbalten viele Jahrhunderte lang unabhängig von der politischen Zugehörigkeit des Territoriums die wichtigste bewegende Kraft im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Nach dem Herbst 1918 wurden die baltischen Deutschen zu einer Minderheit im unabhängigen Staat Lettland mit allen Minderheitenrechten bis zum Umsturz durch Kārlis Ulmanis im Jahre 1934. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre verstärkte sich die Rolle der nationalsozialistischen Ideen im Bewusstsein der deutschbaltischen Gemeinschaft. Sie stand in einem Zusammenhang mit der Realisierung von Ulmanis‘ Losung „Für ein lettisches Lettland“, die sich gegen die demokratischen Minderheitenrechte wandte, sowie dem Kontext der politischen Ereignisse in Deutschland in jener Zeit.
Die deutschbaltische Kultur ist eine koloniale Kultur ohne ein konkretes staatliches Zentrum. Die Metropole wird in Bezug auf die Provinz (Kolonie) in geistiger Bedeutung als der deutschsprachige Teil Europas aufgefasst, dessen große Territorien sich (mit Ausnahme z.B. der Schweiz und Österreichs) erst im Jahre 1871 vereinigten. Unter den Merkmalen der kolonialen Kultur ist erstens der Provinzialismus hervorzuheben, die Zeitverschiebung beim Erwerb der Kulturprozesse in Bezug auf das Zentrum, und zweitens die Mittelmäßigkeit: Das Genie, das Besondere, strebt immer danach, ins Zentrum zurückzukehren.
Die Verbindungen der im Baltikum geborenen Deutschen mit der Heimat sind nicht abgebrochen, auch ein Teil der jüngeren Generation setzt die Forschungsarbeit fort und stärkt den Kontakt der Kulturen. Immer noch werden deutschbaltische Periodika und wissenschaftliche Sammelbände herausgegeben und Konferenzen finden statt. Den Kreis der deutschbaltischen Forscher zur Kulturgeschichte vervollständigen Vertreter der Völker des Baltikums, die in die Forschungen neue, nicht selten kontroverse Sichtweisen einbringen. Eine wichtige Rolle bei der Erforschung der Geschichte der Gemeinschaft haben Forschungszentren, beispielsweise die Carl-Schirren-Gesellschaft in Lüneburg sowie das Herder-Institut in Marburg. Populäre gesellschaftliche Arbeit leisten die in Riga und in den Regionen tätigen deutschbaltischen Gesellschaften, die den deutschbaltischen Zusammenschluss fördern und auch das Interesse der lettischen Gesellschaft für die Vergangenheit ihres Landes anregen. Das gerade in den letzten Jahren im Rigaer deutschbaltischen Verein Domus Rigensis entstandene Jugendreferat unter der Leitung des Germanisten Imants Cīrulis belegt die positiven zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten des Vereins.
Im Laufe der Zeit hat sich die Einstellung der Letten gegenüber dem deutschbaltischen Kulturerbe gewandelt. In Kunst und Architektur, wie von Jānis Krastiņš aufgezeigt wird, ist eine beiderseitige Wechselwirkung unausweichlich, wie im Ergebnis die Kunst der historischen Stile regionale Züge erhält, die heidnische Kultur hingegen formale Elemente der künstlerischen Stile lokalisiert. Mit den lokalen Eigenheiten der Architektur, die für die Region des Baltikums und Skandinaviens charakteristisch sind, verbindet man horizontale, niedrige, flache Dachlinien beim Kirchenbau, ähnlich sind auch in der Architektur der Gutshöfe manchmal ein Atem der Felder und des Landes, der der Baukunst des Volkes nähersteht, zu spüren.
Die Kultur der baltischen Deutschen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts spiegelt, wenn auch mit einer Phasenverschiebung, die Tendenzen der europäischen Kunst. Das Zeitalter der Aufklärung gleicht sie aus, und für talentierte Intellektuelle werden Kurland und Livland zu einer Experimentierarena, es ist auch die Zeit, in der die ersten öffentlich zugänglichen Kunstsammlungen entstehen. Das 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet von einem raschen Anwachsen der Städte und der Entstehung einer lettischen professionellen Kunst. Die heranwachsende Generation lettischer Künstler erlangt ihre ersten handwerklichen Fertigkeiten nicht selten bei deutschen Kunstmalern und Kutschenlackierern. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verstärkten sich die persönlichen Bande zwischen lettischen und deutschbaltischen Künstlern. Für die Entwicklung der Kunst vor Ort hat die Eröffnung des Kunstmuseums der Stadt Riga (1905) eine große Bedeutung, in dessen Räumlichkeiten (heute das Nationale Kunstmuseum Lettlands)) sich noch heute eine der umfangreichsten Kunstsammlungen in Lettland befindet.
Die Rolle der lettischen Kunst wächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts parallel zur Ausbildung der nationalromantischen Tradition, z.B. im Rahmen des Jugendstils. Nichtsdestoweniger bewahrt ein großer Teil der lettischen Künstler, die eine gute Ausbildung erhalten haben, weiterhin Verbindungen zu den deutschen Kreisen, indem sie Auftragsarbeiten erledigen. Die Rolle der Deutschbalten in der lettischen Architektur und Kunst verliert in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen an Bedeutung.
In der Musik bestanden die lettische und die deutsche Tradition mit unbedeutenden wechselseitigen Einflüssen parallel nebeneinander. Sie nähern sich erst im 19. Jahrhundert an, als die Letten von den baltischen Deutschen und den estnischen Nachbarn die Tradition der Liederfeste übernehmen, das Spielen von Musikinstrumenten und den Gesang erlernen und gemeinsam studieren. Das 19. Jahrhundert begünstigt auch die Erforschung der musikalischen Traditionen und der Geschichte der Deutschbalten. Die älteste Epoche der einheimischen Musikgeschichte ist in der Tat ergiebig erforscht; im Vergleich dazu ist von der deutschbaltischen Musik des 20. Jahrhunderts nur ein fragmentarischer Eindruck zu erhalten, Monografien gibt es keine.
Dauerhaft gerät die deutsche Musik an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in den Blickwinkel der Letten, als die Gemeinden zu neuen, rhythmisierten Gesangbüchern übergehen; die Präsenz des deutschen geistlichen Liedes in Livland wird auch durch die Brüdergemeinen intensiviert. Die Letten kennen mindestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das deutsche Lied, die Erstarkung des Wortes in der lettischen Kultur befördert auch G.F. Stender, doch das Genre des Liedes erreicht den Gipfel seiner Popularität im 19. Jahrhundert. Im Zeitalter der Volksaufklärung geben deutsche Pfarrer die ersten Chorgesangssammlungen für Letten heraus und komponieren auch lettische Dichtung. Die ältere Generation der lettischen Komponisten und Musiker erlangt ihre musikalischen Fertigkeiten bei deutschbaltischen Pädagogen, durch die Vermittlung der deutschbaltischen Kultur entsteht auch eine lettische Musikkritik. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts findet die lettische Musik allmählich Eingang in die Kultur der baltischen Deutschen.
Im Schauspiel bestanden ebenso wie in der Musik bis zum 19. Jahrhundert lettische (darunter sind Theaterelemente der lettischen Volkskultur zu verstehen) und deutsche Traditionen, die einander so gut wie gar nicht beeinflussten, nebeneinander. Theateraufführungen werden in Riga mindestens seit dem Jahre 1205 veranstaltet, des Weiteren spielt man im Baltikum auch liturgische Dramen, bekannt sind Freiluftaufführungen und Fastnachtsspiele; es kommen auch wandernde Schauspieltruppen aus Deutschland, am Hof des Herzogs von Kurland werden Singspiele aufgeführt, und in den Schulen wird Theater gespielt. Das erste Theatergebäude wird 1782 in Riga eröffnet, bald gibt es auch eines in Mitau (1802) und in Libau (Sommertheater, 1804), in dieser Zeit wird auch in Goldingen Theater gespielt (1805‒1817). Im Jahre 1863 erhält das deutsche Theater in Riga neue Räumlichkeiten, in der Zeit des unabhängigen Lettlands befindet sich dort die Nationaloper. Das deutsche Theater in Riga setzt seine Tätigkeit bis 1939 fort, seit 1930 im Uļejs-Saal, im russischen Klub in der Ķēniņu-Straße.
Die baltischen Deutschen haben die Grundlage für die lettische Dramaturgie gelegt und die Entwicklung des lettischen professionellen Theaters befördert. Auch der Vater des lettischen Theaters, Ādolfs Alunāns, ist in der deutschbaltischen Gesellschaft zum Schauspieler und Regisseur herangereift. Alunāns‘ Verbindung mit der deutschbaltischen Kultur ist fest, stark und unmittelbar: Erstens ist er Halbdeutscher, seine Mutter ist die Tochter des Mitauer Ratsherrn Julius Felcke, zweitens ist seine erste Theatererfahrung mit den Besuchen im (deutschen) Mitauer Stadttheater und den privaten Gesellschaften mit deutschen Schauspielern gekoppelt, drittens hat Alunāns schon in seinen Schuljahren begonnen, die Bühnenkunst bei dem deutschen Schauspieler A. Hanisch zu erlernen, und viertens stehen seine ersten Auftritte als professioneller Schauspieler in einem Zusammenhang mit der Erfahrung an verschiedenen deutschen Schauspielhäusern im Baltikum. Der Aufbau von Alunāns‘ Theaterstücken ist auf die da-mals im deutschen Theater populären Posen gestützt, deren Ausführung von den Ideen der Epoche des nationalen Erwachens gebildet wird. Auch die folgende Generation lettischer Schauspieler und Regisseure wächst unter der Obhut des Theaters der baltischen Deutschen auf, von 1886 bis 1893 wurde das Lettische Theater von dem Deutschen Hermann Rode-Ebeling geleitet. Wie Guna Zeltiņa schreibt, wird die von Alunāns hoch geschätzte Improvisation in der Zeit Rode-Ebelings durch eiserne Disziplin und Forderungen nach maximaler Präzision ersetzt. Für die lettischen Schauspieler stellte dies eine wertvolle Schule für die Entwicklung der Schauspieltechnik dar. Ohne die Schule des deutschbaltischen Theaters wäre auch die lettische Theaterkritik eine andere. Die Deutschbalten haben auch eine große Bedeutung für die Entstehung der Kinokunst vor Ort.
Auch die lettische Wissenschaft und das Bildungssystem im 19. Jahrhundert wächst auf dem von Deutschbalten errichteten Fundament: In den von Deutschen gegründeten Seminaren werden gebildete lettische Volksschullehrer zu Anführern der nationalen Bewegung, und die von ihnen geleiteten Chöre und Theateraufführungen auf dem Lande schweißen den sozial aktiven Teil des lettischen Volkes zusammen. Die deutschen Hochschulen in Dorpat und Riga sind die ersten Schmieden für lettische Wissenschaftler. Die Hochschule Lettlands (1919) bedient sich in ihren Anfängen deutschbaltischer Professoren. Auf der Basis der ersten Forschungen von Deutschbalten entsteht die lettische Literatur- und Sprachwissenschaft, und entsprechend den linguistischen Informationen des Pfarrers A. Bielenstein wird im Jahre 1920 die Grenze zwischen Lettland und Litauen gezogen.
Der Historiker und Jurist F.K. Gadebusch untersucht zum ersten Mal die örtliche Literatur innerhalb der Grenzen eines Gebiets – Livlands – als einheitlichen Textkorpus (1777). Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wird durch eine umfangreiche, von K.E. Napiersky und J.F. Recke geordnete enzyklopädische Ausgabe, einen bibliografischen Überblick über Menschen und Werke mit Bezug zum Baltikum charakterisiert. Die erste deutschbaltische Literaturgeschichte wird Mitte des Jahrhunderts publiziert (1855), erst bedeutend später, nämlich 1928, wird die nächste veröffentlicht; einen wertvollen Beitrag zur deutschbaltischen Literaturforschung leisten in den darauffolgenden Jahrzehnten auch die Periodika.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hört die deutschbaltische Minderheit im Baltikum auf zu bestehen; nichtsdestoweniger setzen die baltischen Deutschen im Ausland ihre Forschungen zur Kulturgeschichte des Baltikums fort, eine wichtige Rolle spielen wissenschaftliche Jahrbücher und Kulturzeitschriften. In den letzten Jahrzehnten (1980‒2010) wurden auch mehrere Ausgaben enzyklopädischen Inhalts und eine umfangreiche deutschbaltische Literaturgeschichte veröffentlicht. Es ist eine junge Generation herangewachsen, für sie ist eine ordentliche Portion Ironie und ein Wechsel der gewohnten Perspektive und der Stereotypen charakteristisch; unter den herausragendsten Literaturforschern müssen Frank-Lothar Kroll und Armin von Ungern-Sternberg erwähnt werden.
Die Anfänge der deutschbaltischen Literatur
Die Entstehung der ältesten Texte ist mit dem Mittelalter, mit der Ankunft und dem Erstarken der deutschen Mönche und Ritter im Baltikum verbunden. Die kulturellen Hauptzentren im Baltikum sind die Klöster, hier entstehen die ersten Bibliotheken, die älteste unter ihnen ist die im Rigaer Dom. Seit dem 13. Jahrhundert (1203) sind auch die ältesten Dokumente in der Geschichte Livlands erhalten, vermutlich sind in dieser Zeit auch die ersten Kalender entstanden. Ein typisches Genre der mittelalterlichen Literatur ist die Chronik. Im Baltikum wurden Chroniken über mehrere Jahrhunderte geschrieben; die Chroniken des 13. Jahrhunderts sind zu einer Quelle für die Rekonstruktion der Geschichte der Letten und Esten geworden, schon in der Epoche des lettischen Volkserwachens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden sie ins Lettische übersetzt. Episoden der Livländischen Chronik und der Reimchronik wurden auch von bedeutenden lettischen Schriftstellern verwendet, ihre Werke sind zu Meilensteinen ihrer Epoche geworden. Bedeutende Chroniken entstehen auch in den darauffolgenden Jahrhunderten, unter anderem die erste im weiteren Umkreis veröffentlichte Chronik, die das Leben im Baltikum darstellt, die Chronik des Balthasar Rüssow (1578), in der der Darstellung des alltäglichen Lebens deutlich mehr Aufmerksamkeit als in den früheren Chroniken gewidmet wird.
Die Chroniken des 17. Jahrhunderts werden schon teilweise als wissenschaftliche Historiografien bewertet. In dieser Zeit entstand auch die älteste Geschichte der Letten in deutscher Sprache (1649), sie wird zu einer der Quellen für die erste Abhandlung in lettischer Sprache über die Geschichte des lettischen Volkes (1725).
In den älteren Zeiten sind auf dem Territorium des heutigen Lettlands auch andere, auf der literarischen Tradition der Hanse basierende, dennoch höchst interessante und die lokale Kultur reflektierende Literaturwerke entstanden: katholische Lieder und allegorische Gesänge über das Mühlen- und das Glücksrad sowie das Schachspiel. Ein Teil der Texte, beispielsweise in Form von kurzen, prägnanten Strophen, bildet in den Büchern so etwas wie eine Schutzfunktion gegenüber Bücherdieben; beliebt sind auch Gesundheitsratgeber in gedichteter Form, es sind Verse auf Glocken, Pokalen, Waffen und Grabplatten erhalten geblieben sowie geistreiche Lieder, die einen Einblick in die Ereignisse des Livländischen Krieges bieten und die von besitzrechtlichen und theologischen Interessen geleiteten Kämpfe in der Reformationszeit widerspiegeln. Gerade sie werden nicht selten zum protestantischen Hauptmedium: Sie werden in den Gastwirtschaften gesungen, schaffen sich eine weitreichende Hörerschaft und verbreiten sich weiter im deutschsprachigen Europa.
Johann Gutenbergs Erfindung (1450), der Textdruck mit verstellbaren Lettern, ist ein bedeutsamer Wendepunkt in der europäischen Buchgeschichte. Die Vervielfältigung von Büchern wird bequemer, einfacher, schneller und preiswerter, sie begünstigt die Verbreitung von Büchern und lässt die Leserzahl sowie die Zahl öffentlicher und privater Bibliotheken auch im alten Livland anwachsen.
Die deutschbaltische Literatur im 16. und 17. Jahrhundert: Die Zeit der Reformation, der späten Renaissance und des Barocks
Zur Reformationszeit in Riga gehört die temperamentvolle Tätigkeit des Zinngießers Burkard Waldis, er ist in die europäische Kulturgeschichte als Autor von Fastnachtsspielen und Fabeln sowie als Verfasser von geistlichen Liedern eingegangen. In Riga landet Waldis sogar auf der Anklagebank eines Hexenprozesses (1531).
Ende des 16. Jahrhunderts entsteht in Riga eine kleine Gruppe von Humanisten. Parallel zu ihrem alltäglichen Leben verfassen Rigaer Lehrer, Ärzte und Pfarrer Dichtung und Traktate philosophisch-ethischen Charakters, sie begeistern sich für Naturwissenschaften und Geografie. Die Renaissance ist noch eine Zeit, in der man die Quelle des Wissens bis zum Grund leertrinken kann, und das ist keine Utopie. Die Tätigkeit dieser Gruppe von Humanisten regt die Eröffnung einer Druckerei in der Stadt an (1588). Der angehende Stadtarzt Basilius Plinius schreibt ein Loblied auf Riga in lateinischer Sprache (1595). Doch sein Werk ist weder der Anfang noch das Ende einer Reihe von Lobliedern auf Städte; keine hundert Jahre später entsteht Ch. Bornmanns Widmung an Mitau und schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts die von J.F. Bankau an Dondangen. Letztere wird erst 1855 von dem Kurländer Krišjānis Valdemārs erstmalig publiziert, in seinen Kommentaren zu der Widmung lobt Valdemārs, ohne allerdings den Namen zu nennen, den seinerzeit besten Literaten von Dondangen, den Letten E. Dinsbergs. E. Dinsbergs wird nach einigen Verbesserungen an der Urvariante von Mārcis Reinbergs zehn Jahre später das „Lied über Riga und sein Leben“ (1865) veröffentlichen und die Stadtdichtung in lettische Bahnen lenken. Die Texte von A. Švābe, A. Čaks, A. Neibarts und J. Rokpelnis sind nur ein jüngerer Höhepunkt in der Fortsetzung dieser Tradition.
Zu dem Jahrhundert der Reformation gehört auch die Blütezeit der geistlichen Lieder in der deutschen Literatur des Baltikums. Bereits 1530 kommen die erste den deutschen protestantischen Gemeinden Rigas zugedachte Gottesdienstordnung und das von S. Tegetmeier und A. Knöpken zusammengestellte deutsche lutherische Gesangsbuch heraus. Knöpken, der Kaplan von St. Peter, der der Apostel von Riga genannt wird, ist auch mit den Letten eng verbunden; er tritt als Messpriester der lettischen Zunftbrüder in St. Peter in die Bruderschaft der Lastträger ein. Knöpken ist auch der erste Rigaer Deutsche, dessen Lieder möglicherweise schon zu seinen Lebzeiten lettisch nachgedichtet wurden. Hinsichtlich der Lieder ist auch das im 17. Jahrhundert publizierte Rigaer deutsche Gesangbuch (1664) bedeutsam. Es unterstützt die für jene Epoche charakteristische Idee der persönlichen Gottesfurcht, und die Textdichter sind der Blüte der deutschen Barockdichtung zuzurechnen: J. Herrmann, R. Rist, P. Fleming, S. Dach, P. Gerhardt u.a. Nur wenige Jahre später finden ihre Lieder in guter Nachdichtung auch ihren Weg in die lettischen Gesangbücher.
Einer der herausragendsten Vertreter des baltischen Barocks ist Gustav Mengden, Generalmajor der schwedischen Armee. Den größten Teil auch seiner Werke stellt die geistliche Dichtung dar, darunter eine Sammlung von Sonetten und rhythmisierte Psalme Davids mit Melodien. Mengden vertont seine Werke auch selbst, und bereits am Ende des 17. Jahrhunderts sind sie in lettischer Sprache nachgedichtet worden.
Der Barockkultur des 17. Jahrhunderts fehlt es nicht an Theatralik und übertriebenem Prunk; nichtsdestoweniger sind die alltäglichen Feierlichkeiten strengen, zuvor ausgearbeiteten Vorschriften unterworfen. In diesem Genre von wahrhaft europäischem Ausmaß ist der kurländische Pfarrerssohn Johann Besser tätig. Als er an einer diplomatischen Mission in London teilnimmt (1684‒1685), wird er zum Augenzeugen der Krönung König James II. Seine Beobachtung dieser Rituals veranlasst ihn, sich sorgfältigen Zeremonienstudien zuzuwenden. Er erarbeitet Beschreibungen der Zeremonien zur Eröffnung der Universität Halle und zum Empfang Peters I. in Königsberg, den Gipfel des Ruhms erreicht jedoch seine Beschreibung des Krönungsrituals Preußenkönig Friedrichs I. (1701). Im Gegensatz zu diesen, einem strengen Ritual und festgesetzten Verhaltensregeln unterworfenen Texten der Barockkunst findet man in seinem literarischen Nachlass auch etwas vollkommen anderes: ziemlich frivole Texte. Einer davon hat sogar Wilhelm Leibniz begeistert; dennoch empfindet das 19. Jahrhundert diese Dichtung bereits als geschmacklose Pornografie.
Die deutschbaltische Literatur im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Aufklärung und frühe Romantik
Der Beginn des 18. Jahrhunderts, der Große Nordische Krieg und die Pestepidemie, dezimieren die Einwohnerzahl in bedeutendem Maße. Freie Arbeitsplätze begünstigen Migration. Ins Baltikum wandert die deutsche Intelligenz, die soeben die Hochschule beendet hat. Es entsteht eine Bevölkerungsschicht, die nicht zur Ritterschaft gehört: Pfarrer, Juristen, Ärzte, Lehrer, Apotheker, Architekten, Buchhändler, schöpferische, gebildete und an kulturellen, politischen und sozialen Fragen interessierte Menschen, d.h. Literaten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erleben die baltischen Provinzen eine Blütezeit. 1775 wird in Mitau die Peter-Akademie gegründet. Ihre Lehrkräfte sind auch Schriftsteller und Übersetzer, beispielsweise Karl August Kittner, der die erste umfassendere poetische Widmung an Kurland veröffentlichte (1791).
Kurland und Livland werden zu einem Tauschplatz für intensive Ideen: Fünf Jahre verbringt J.G. Herder im Amt eines Lehrers und Pfarrers in Riga; der Philosoph J.G. Hamann wird Redakteur der ersten deutschen Zeitung von Mitau (1765); der Buchhändler und Verleger J.F. Hartknoch macht Riga zu einem Ort bedeutender Erstausgaben in der europäischen Kultur, indem er die Schriften Herders, Hamanns und auch Kants publiziert. In Riga werden u.a. auch die ersten deutschen Übersetzungen der Werke M. Lomonosovs, die Beschreibung der Globen von G.F. Stender, Musikalien und Stücke Katharinas der Großen veröffentlicht.
Ähnlich denkende Menschen riefen Gruppen von Gleichgesinnten ins Leben. In Riga sind die Mitglieder der Gruppe um die Brüder Berens (1754) Absolventen der Universität Königsberg, Personen, die von den Ideen der französischen Aufklärung begeistert sind. Unter ihnen befindet sich auch der Rektor der Domschule, Johann Gotthelf Lindner. Sein Schuldrama „Albert oder die Gründung von Riga“ (1760) könnte eine der Quellen für Garlieb Merkels romantische Sage „Wannem Ymanta“ sein. Merkel selbst wiederum besucht den Rigaer Prophetenclub. Als ein charakteristisches Kennzeichen des Zeitalters der Aufklärung kann man auch die Freimaurerlogen ansehen, die Mitte des 18. Jahrhunderts im Baltikum gegründet werden und deren Mitglieder eine entscheidende Bedeutung in der Geschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft haben. Auch Lesezirkel sorgen dafür, dass sich Gleichgesinnte finden.
Die Aufklärung weckt das Interesse für lokal besondere Traditionen, und Riga wird zum Zentrum der baltischen Historiografie. Materialsammlungen über die baltische Geschichte, Geografie, Ethnologie, Gesellschaft und die Prinzipien der Ökonomie werden veröffentlicht. In den Jahren 1778 bis 1779 bringt J.G. Herder in einer Sammlung verschiedener Volkslieder auch elf lettische Lieder auf Deutsch heraus. Dies hat eine große lokale Bedeutung: Die Publikation ermuntert die Deutschbalten zur Sammlung von Folklore. Unter den Einsendern von Liedern ist vermutlich auch Gustav Bergmann, späterer Herausgeber der ersten Sammlungen lettischer Volkslieder. Nach den ersten Auflagen kommen bis zum Zweiten Weltkrieg immer neue heraus, in dieser Hinsicht ist das Verdienst des Rigaer Herder-Instituts bisher nicht ausreichend gewürdigt worden.
Im literarischen Raum des Baltikums wurde die Position der Frau gestärkt. Texte einheimischer Dichterinnen wurden bereits im 17. Jahrhundert veröffentlicht: in erster Linie Gelegenheitsdichtung für Feiern und Werke geistlichen Inhalts. Die Arbeiten der Aufklärerinnen überschreiten die Grenzen der religiösen Literatur. Die Schriftstellerin und Diplomatin Elisa von der Recke ist mit einem Artikel, der den Scharlatan Cagliostro demaskiert, in die europäische Kulturgeschichte eingegangen: Nichtsdestoweniger besteht der wertvollere Teil ihres Werkes aus ihren Tagebüchern und Reisebeschreibungen. Auch von der Reckes Freundin Sophia Becker dichtete. Ihrer beiden Werke wurden von G.F. Stender ins Lettische übersetzt (1789), diese Ausgabe ist die erste deutschbaltische Gedichtsammlung in lettischer Sprache. Die Traditionen der Frauenliteratur setzt die Abenteurerin Barbara Krüdener fort, die es versteht, religiös zu begeistern und in schweren Tagen eine Stütze zu sein.
Mit dem Zeitalter der Aufklärung ist auch der Name des in Seßwegen gebürtigen und weithin in der ganzen Welt rezipierten Dichters und Dramaturgen, Jakob Michael Reinhold Lenz, verbunden. Der Literat des „Sturm und Drang“-Zeitalters, ein Freund Herders, Goethes und später Karamzins. Der Dichter Lenz ist auch eine von psychischem Leiden gezeichnete Persönlichkeit, dies weckte das Interesse von Schriftstellern und Komponisten. Lenz‘ Stücke haben einen bedeutenden Platz in der Weltgeschichte der Dramaturgie. Lenz verwirft das aristotelische Prinzip der drei Einheiten und lobt das Theater Shakespeares mit seiner Natürlichkeit und seinem Interesse für die menschlichen Leidenschaften. Seine Dramen ähneln mehr Tragikomödien. Die Sprache seiner Figuren ist der Umgangssprache angenähert, eine große Bedeutung kommt dem Subtext zu. Lenz verwendet als erster das Montageprinzip: kurze, schnell aufeinander folgende Szenen mit häufigem Wechsel der Handlungsumgebung. Die Offenbarungen des menschlichen Instinktes in Verbindung mit Kritik an den sozialen Bedingungen verweisen auf seine Nähe zum Naturalismus, einer Richtung, die die europäische Literatur nicht ganz 100 Jahre später kennenlernt. Dies gilt auch für das Interesse an Sexualität, aus der entstandene Probleme Lenz in seinen Stücken radikal löst, indem er Selbstkastration und Freudenhäuser zeigt. Er fesselt auch die Aufmerksamkeit der lettischen Literaten. Jānis Poruks, den mit Lenz eine ähnliche Weltauffassung und und der Konflikt zwischen Pietismus und Modernität verbinden, regt an, ein Denkmal für Lenz in Riga zu errichten und schreibt dazu ein Theatersück. Die seltsame Erzählung von Līgotņu Jēkabs (1924) ist vom Filmstudio „3x3“ in der Umgebung von Cesvaine verfilmt worden (2011). Einen großartigen Essay über Lenz hat Andrejs Johansons verfasst, über seine Ansichten hat Alnis Svelpis geschrieben. Ins Lettische ist Lenz nur wenig übersetzt worden. Deshalb stellt die 2012 veröffentlichte Auswahl der Schriften von Jakob Michael Lenz in der Übersetzung von Valdis Bisenieks und Beata Paškevica eine besondere Freude dar.
Der große deutschbaltische Dichter der Romantik, Casimir Ulrich Boehlendorff, ist ein Doppelgänger von Lenz‘ Schicksal: Bekannt bei seinen Zeitgenossen, den großen deutschen Dichtern, Vagabund und Eremit, der er ist, beendet er sein Leben durch Suizid auf dem Pfarrhof Markgrafen. In der Kulturgeschichte Europas ist Boehlendorff sicher besser bekannt als Dokumentator der Schweizer Revolution und Brieffreund des deutschen Dichters F. Hölderlin. Boehlendorff schriebStücke, wobei er in diesem Genre allerdings ein Epigone des Sturm-und-Drang-Zeitalters bleibt. Seine Nachdichtungen in lettischer Sprache wurden so gut wie gar nicht veröffentlicht, ein von Valdis Bisenieks vorbereitete Manuskript wartet weiterhin auf seinen Verleger.
An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert führen die Deutschbalten das Thema des Todes auch in die lettischen weltlichen Texte ein. Der Pfarrer von Angern, J.P. Brants, schreibt über Selbstmorde in den „Latviešu Avīzes“ [dt. Lettische Zeitung], seine Gedanken werden von der ersten Nachdichtung des Hamlet-Monologs von Shakespeare beschlossen: Voi būšu kāds, voi ne? Tas prasāms gan. ‚Sein oder nicht sein? Das ist hier die Frage‘. Brants‘ Veröffentlichung erscheint ein Jahr nach dem Suizid Boehlendorffs.
Die deutschbaltische Literatur im 19. Jahrhundert: Nationalromantik, Realismus und Naturalismus
1795 hört Herzogtum Kurland auf zu bestehen. In diesem Moment endet die Vereinigung des Baltikums, da nun das gesamte Territorium des heutigen Lettlands zum Bestand des Russischen Reiches gehört. Die Losung In Treuen fest, wird mit dem Laufe der Zeit so wesentlich wie noch niemals zuvor. Es festigt sich die Bezeichnung Balten, sie ist ein charakteristisches Merkmal auch für die Literaturanthologien, die die Gemeinschaft zusammenbringen: Baltisches Album, 1848, oder Ende des Jahrhunderts das von Jeannot Emil Grotthuss zusammengestellte Baltische Dichterbuch, 1894, mit einem umfangreichen Einblick in die Geschichte der deutschbaltischen Lyrik, mit Biografien und Porträts ihrer Poeten.
Eine wichtige Rolle für den Zusammenschluss der jungen Generation spielt die Universität Dorpat (1802), und eine einigende Kraft sind auch die Gesellschaften, für deren Entstehung nicht selten ein Gewerbe und selbstverständlich gemeinsame Ziele wichtig sind, beispielsweise die Lettisch-literärische (Freundes-)Gesellschaft. Obwohl in der Bezeichnung der Gesellschaft noch der Name der Region aufgeführt wird, hat die Gesellschaft selbst häufig die Tendenz, über die engen Grenzen der Region hinauszuwachsen; so öffnet die in Mitau gegründete Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst (1815‒1939) bereits nach ein paar Jahren ihre Türen für Außenstehende und ist stolz auf ihre Ehrenmitglieder aus beinahe halb Europa.
Die innere Stärkung der Gemeinschaft wird auch durch andere Faktoren begünstigt, in erster Linie durch die territoriale Einigung Deutschlands. Die Bewahrung einer ideellen Einheit mit Deutschland bedeutet, dass die baltischen Provinzen zu Europa gehören, dies bezeugt auch die als Vorbild der Literatur deutschbaltischen Schöpfertums bezeichnete Abhandlung des Historikers Carl Schirren (1869). Das nationale Erwachen der Letten als reale Bedrohung der vor langer Zeit begründeten Ordnung wird von der deutschbaltischen Gesellschaft als verspätet angesehen. Der livländische Superintendent Ferdinand Walter schreibt im Jahre 1869: „Das junge Lettland ist ein neues Produkt des letzten Jahrzehnts. Als man begann, darüber zu sprechen, schien es mir mehr in den Befürchtungen seiner Tadler, als in Wirklichkeit zu existieren. Diese traurige Wirklichkeit ist aber jetzt klar zu Tage gekommen.“
Die Furcht vor dem Russischen Reich und die Schließung der Grenzen, später zudem der großrussische Chauvinismus und die Politik der Russifizierung des Baltikums begünstigen einen Provinzialismus. Auf der Ebene des Gemeinschaftslebens ist dies verbunden mit einem kulturellen Aufschwung der biedermeierlichen Gutshöfe und deren Stabilisierung noch an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wobei in der Weltanschauung der Konservativismus stärker wird. Die Modewelle der großen europäischen Romanistik ist hier so gut wie gar nicht zu spüren, Realismus und Naturalismus treten vergleichsweise spät auf den Plan, die Suche nach großen Wahrheiten und Konflikte scheinen weit entfernt. Die Deutschbalten lesen am liebsten Friedrich von Mathisson, Jean Paul, Gotthold Ephraim Lessing, Heinrich Heine, August von Platen, Nikolaus Lenau und Joseph von Eichendorff, unter den Jüngeren, den Studenten, ist immer noch Friedrich Schiller sehr populär, vergleichsweise weniger beliebt ist Goethe. Die Zwangsrussifizierung zum Ende des Jahrhunderts bringt die erste Ausreisewelle von Vertretern der Intelligenz mit sich.
Die deutschbaltische Literatur wird zu einem klassischen Mittel der Selbstbestätigung der Gemeinschaft, und man kann das 19. Jahrhundert auch als Jahrhundert des nationalen Erwachens der Deutschbalten bezeichnen. Die Zahl der Schriftsteller wächst in unvorstellbarem Maße. Neue Themen, Motive und Bilder finden ihren Eingang in die Literatur: Neben den im Zeitalter der Aufklärung begonnenen Forschungen zur baltischen Geschichte und der Sammlung von estnischer und lettischer Folklore treten auch in Dichtung und Prosa Motive lokaler Legenden und baltischer Mythologie auf. Es werden mehrere Sammlungen pseudohistorischer Materialien und lokaler Folklore veröffentlicht, auch die Periodika widmen den Regionalforschungen große Aufmerksamkeit. Motive der lettischen Folklore, beispielsweise fliegende Seen, verwendet Victor Andrejanoff in seiner Dichtung, er veröffentlicht auch mehrere Sammlungen des Geisteserbes des lettischen Volkes in deutscher Sprache. Lettische Gestalten variieren die deutschbaltische literarische Landschaft, wobei in einem Teil der Texte die Bauern als einfache, ihren Instinkten unterworfene Wesen dargestellt werden, während in anderen auch kompliziertere gegenseitige Beziehungen von Deutschen und Letten dargestellt werden. Die Präsenz von Letten wird auch durch die Bildlichkeit und die Thematik der deutschbaltischen satirischen Dichtung vergrößert. In Rudolf Seuberlichs makkaronischen Versen spricht der Möchtegern-Deutsche Mikel Kallning in der saftigen Sprache eines Rigensers.
Motive der lettischen und deutschen Geschichte behalten ihre Popularität während des gesamten Jahrhunderts, damit in einem engen Zusammenhang stehen auch die Glorifizierung der Ritterschaft und die Huldigung Wolter von Plettenbergs; häufig beschrieben wird auch das Schicksal des dem Russischen Reich gegenüber loyalen Juristen der Schwedenzeit, des Verteidigers der Gutsbesitzerrechte, Reinhold von Patkul.
Das 19. Jahrhundert läuten romantischen Reisebeschreibungen ein, die Memoirenliteratur erlebt eine Blütezeit, immer größeres Interesse weckt die Erforschung der Familiengeschichte und die Erfassung heraldischer und genealogischer Daten.
Das Zeitalter der Romantik regt das Interesse für die Natur an. Die besondere Gestalt der Natur des Baltikums wird immerzu als charakteristisches Merkmal für die deutschbaltische Literatur angeführt, in deren Verständnis nicht so sehr einzelne Elemente wichtig sind, als vielmehr der subjektive Zugriff – und dies ist die über die eigenen Ländereien hinweggleitende „Freude des Grundbesitzers beim Anblick seines Landgutes von der Veranda des Herrenhauses aus. […] Meine Welt ist mein Gutshof!“ Im Bild der Natur ist auch die Perspektive der Zeit wesentlich: In den Texten des 19. Jahrhunderts kommen mehr Helligkeit, Harmonie, Stille, schöne Sonnenunter- und –aufgänge vor; im 20. Jahrhundert, nach der Revolution von 1905, tauchen in den literarischen Texten Moore, Nebel, lange Herbste und Dauerregen, raue, nackte Zweige und eine blutige Sonne in der Darstellung der Natur des Baltikums auf. Eine große Rolle spielt auch das Wasser, besonders der Fluss, möglicherweise wird dies auch durch die Poetisierung des Rheins in der deutschen Literatur angeregt: Obwohl Kulturhistoriker häufig Wälder als wichtigsten Indikator der deutschen Identität ausmachen, sahen die Romantiker die Wurzeln des Volkes mehr als fluvial, nicht so sehr als silval an, mit dem Rhein als Blut des germanischen Kulturlebens, genau in der gleichen Weise wie der Nil und der Ganges die ägyptische und indische Zivilisation genährt haben. Auch in einer der Ikonen der deutschbaltischen Romantik, in den Ansichten-Alben Wilhelm Siegfried Stavenhagens (1864–1867), fehlt es nicht an Flüssen und der Darstellung ihrer schönen Ufer. An den Flüssen, vor dem Hintergrund mächtiger Burgen, in der so genannten Livländischen Schweiz an der Livländischen Aa (in Wenden, Treyden, Beverīna, Kremon, Segewold) spielt am häufigsten auch die Handlung der deutschbaltischen Heldenballaden.
In der deutschbaltischen Dramaturgie des 19. Jahrhunderts gibt es keine glanzvollen Höhepunkte. Die Literatur des Jahrhunderts wird von historischen Dramen variiert, von deren Verfassern Jegors Rozens den bekanntesten Namen hatte: Sein Stück „Ein Leben für den Zaren“ ([Žizn‘ za carja] 1835) wird von Michail Glinka für das Libretto seiner Oper (1836) verwendet.
Im deutschbaltischen Drama ist dies die Zeit der Romantik, das Genre der Ballade blüht auf mit Motiven der Bibel, unglücklicher Liebe, lokaler Sagen sowie skandinavischer und germanischer Mythologie; beliebt ist auch die Heldenballade. Die Balladendichterinnen – eine der bekanntesten unter ihnen ist Gertrud von den Brincken – stellen auch die Schicksale von Frauen, die in der Kulturgeschichte Europas bedeutsam waren, dar.
Die deutschbaltische Prosa wird durch neue Genres vervollständigt: die Kinder- und Jugendliteratur, Anekdoten, der Kriminalroman, der historische Roman und die Erzählung. Noch in der Mitte des Jahrhunderts dominiert in der Prosa die Romantik und der Sentimentalismus, charakteristisch ist das Interesse für die Vergangenheit, vergleichsweise weniger die Lösung der Probleme der Gegenwart, wie der Blick von einem Kirchturm mit recht nebliger Perspektive.
Als bester deutschbaltischer Romancier gilt Theodor Hermann Pantenius, Sohn des Mitauer Pfarrers und Redakteurs der „Latviešu Avīzes“, Wilhelm Pantenius. Seine Prosa verknüpft das Echo des Bildungsromans des 18. Jahrhunderts mit einzelnen Elementen des sozialen Romans (Allein und frei, 1875); indem er Riga treffend Hansaburg nennt, legt er so den für das urbane Milieu charakteristischen Eigentumskult offen (Das rothe Gold, 1881); der größte Erfolg dieses Schriftstellers ist jedoch der historische Roman „Die von Kelles“ (1885), der den Leser zurück zu den Ereignissen des Livländischen Krieges führt. Dieser ist durch Pantenius‘ kritischen Blick auf die deutsche Mission im Baltikum von Interesse. Die Erzählung „Um ein Ei“ (1881) steht hinsichtlich des Konflikts Blaumanis‘ „Andriksons“ (1899) nahe. Beide befassen sich mit dem sozialen und gleichzeitig auch nationalen Konflikt. Obwohl Pantenius‘ für sich den Weg der Versöhnung gewählt hat, ist „Um ein Ei“ nichtsdestoweniger eines der sozial schärfsten Werke in der deutschbaltischen Literatur überhaupt. Pantenius‘ fesselndstes Werk sind seine Jugenderinnerungen, die eine großartige Galerie deutschbaltischer Typagen und einen scharfsinnigen Panoramablick auf ihr Leben im 19. Jahrhundert bieten. Ein naher Freund des Schriftstellers ist der lettische Journalist Āronu Matīss, dank dessen Übersetzungen und Anregungen auch andere Brüder der Feder Pantenius übersetzen, und die Prosa dieses Schriftsteller damit zum größten Teil auch auf Lettisch zu lesen ist.
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schreibt Eduard Keyserling, Aristokrat eines alten kurländischen Geschlechts, nach J. M. R. Lenz der zweitbeliebteste deutschbaltische Schriftsteller in Europa. In den letzten Jahrzehnten wird dem Schriftsteller verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt.
Sein künstlerisches Schaffen begann er in der Manier des Naturalismus, unter dem Einfluss des Münchener Modernismus, und wegen eines spezifischen Weltgefühls wird Keyserling Anfang des 20. Jahrhunderts zum Impressionisten, in dessen Sprachwahl auch die Manieriertheit des deutschen Jugendstils spürbar wird. Der Zeithorizont seiner Prosa ist das Milieu des patriarchalischen Adels am Vorabend der Urbanisierung, des Generationenkonfliktes und der Kulturrevolution. Vor dem Hintergrund der Natur steht der einsame Mensch mit seiner vibrierenden inneren Welt. Keyserlings Kritiker weisen darauf hin, dass Einsamkeit allgemein ein charakteristisches Merkmal für die Deutschen des Baltikums ist, sie steht vielleicht in einem Zusammenhang mit dem relativ abgeschlossenen, in den Windungen der Wälder versteckten Leben der Gutshöfe im Baltikum. Ein stiller, langsamer Tod in der Natur in ununterbrochenem Strom ist ein beständiger Begleiter von Keyserlings Prosa.
Besonders interessant für einen lettischen Leser könnte das so genannte Diptychon litauischer Bauern – das Jugendstück „Ein Frühlingsopfer“ (1900) und die Erzählung „Die Soldaten-Kersta“ (1901) – sein.
Die deutschbaltische Literatur des 20. Jahrhunderts: Modernismus
In der deutschbaltischen Kultur ist das 20. Jahrhundert die Epoche der höchsten Blüte und der Auflösung der Gemeinschaft. Die Revolution von 1905 überrascht die deutschbaltische Gemeinschaft unvorbereitet. Die Gedichtsammlung „Unsere Heimat. Baltische Lieder“ (1906) wird durch die Reproduktion eines Gemäldes von Siegfried Bielenstein eingeleitet: auf dem Hintergrund des vom Sturm aufgewühlten Meeres eine Jungfrau mit einer gesenkten deutschbaltischen Fahne in den Händen. In einem Teil der Texte der Sammlung ist die Überzeugung lebendig, dass der Sturm vorübergehen und die gewohnte Ordnung zurückkehren wird.
Mit den Ereignissen im Zusammenhang mit der Revolution befasste man sich auch in der Dramaturgie und Prosa, besonders interessant sind die impressionistischen Skizzen von Karl Worms und die Erzählung „Darthe Semmit“ (1910) von Frances Külpe, die das dramatische, von einer mythischen Aura umrankte Schicksal eines jungen Mädchens am Schnittpunkt zwischen nationalen und sozialen Beziehungen darstellt. Die soziale Blindheit, das Unvermögen, die Schuld in der kolonialen Situation zu suchen, zeigt sich in den Prosatexten als Hass auf den äußeren Feind, den Russen, als dem überflüssigen Dritten in den ausgewogenen Beziehungen zwischen Deutschen und Letten, fremd im Glauben, asiatisch, grob, ungebildet, sowie auf das im Vergleich mit dem harmonischen Land gegensätzliche urbane Milieu. Ein typischer Revolutionär ist ein in der Stadt ausgebildeter, mit dem Gift der Agitatoren vollgesogener Lehrer auf einem Fahrrad. Die Belletristik signalisiert das Ende der patriarchalischen Beziehungen und den Anfang vom Ende, und, wie es die Prosaikerin Frances Külpe ausdrückt, wir stehen auf brennendem Boden.
Im 20. Jahrhundert werden die Deutschen des Baltikums zu den wichtigsten Übersetzern russischer Literatur. Das russische Schrifttum hinterlässt seine Spuren auch in deutschbaltischen Texten, beispielsweise weist Hans Bänziger darauf hin, dass in der Prosa Werner Bergengruens die wahrhaft russische Atmosphäre der großen Romane (L. Tolstoj, F. Dostojewski und I. Turgenew) zu spüren sei.
Zur Jahrhundertwende übersetzen die Deutschbalten auch lettische Literatur, Anthologien lettischer Dichtung veröffentlicht die Fortsetzungsausgabe „Heimatstimmen“ (1904‒1912). Im Planungsstadium verbleibt eine gemeinsame Sammlung deutschbaltischer und lettischer Dichtung mit dem Titel „Der Schnee taut“ in deutscher und russischer Sprache. Der Schriftsteller Johannes Guenther wird zum Vermittler bei der Annäherung lettischer und russischer Dichter. Nichtsdestoweniger bleibt die Einstellung der Deutschbalten gegenüber der neuen lettischen Kultur insgesamt kühl zurückhaltend, gleichgültig und sogar abweisend.
Auch Letten sind rege bei der Übersetzung deutschbaltischer Literatur: Die Romane und Erzählungen von T.H. Pantenius, in den Periodika wird der größere Teil der Prosa Eduard von Keyserlings veröffentlicht, und zwei lettische Theater studieren sein Schauspiel „Ein Frühlingsopfer“ (1906) ein.
Die Modernisierung der deutschen Literatur des Baltikums wird durch Studien in den Zentren des europäischen Modernismus, hauptsächlich in Berlin und München, gefördert. Ein herausragendes Ereignis ist die 1916 veröffentlichte, von Bruno Goetz zusammengestellte Auswahl von Dichtung der jungen deutschbaltischen Generation mit dem Titel „Die jungen Balten“; in der Sammlung sind Einflüsse des Symbolismus, Neoklassizismus und Impressionismus zu spüren. Im Rückblick auf diese Zeit schreibt Paul Schiemann: „Mit einem Male hatten wir mitten im baltischen Idyll, vor allem aber im alten korrekten Riga, eine richtige Kunstbewegung, die die Gemüter schied. Wir hatten eine Kunstecke, in der die verschiedensten Vertreter der Gesellschaft sich ganz bewußt und geradezu herausfordernd modern gaben. Es gab Kampf, es gab ein Hin und Her der Meinungen. Es gab eine triumphierende Jugend.“
Modernisierung der deutschbaltischen Literatur im 20. Jahrhundert bedeutet Einordnung in den gemeinsamen Strom der deutschen Literatur. Dies belegt auch das stete Interesse von Intellektuellen in Deutschland für die besten deutschbaltischen Veröffentlichungen.
Der Erste Weltkrieg und die Besetzung durch die deutsche Armee wecken kurzfristig Hoffnungen auf die Bewahrung der alten kolonialen Ordnung und einen Anschluss an Deutschland. Es erscheint das Zeugnis einer spannenden Epoche, „Die Baltischen Provinzen“ in sechs Bänden (1916–1917), mit einem Einblick in die Kulturgeschichte, Belletristik und Architektur der baltischen Deutschen, mit einer Wendung zur lettischen und estnischen Folklore im Rekurs der deutschen Kultur vor Ort: „Es ist deutsches Land in seinem geistigen Leben, und deutsch wird es so lange bleiben, wie nur seine Söhne hier leben werden.“ In ähnlichen Stimmungen lebt auch die deutschbaltische Literatur.
Die künftigen Ereignisse ändern den Status der Deutschbalten im Baltikum vollständig, von einer dominierenden Kraft zu einer der nationalen Minderheiten in den neugegründeten Staaten des Baltikums. Der Schriftsteller Herbert Hoerner erinnert sich: „Wir dachten ein wenig hochmütig über den neugeborenen Staat, der sich selbst ‚Lettland‘ nannte, das muss man zugeben. Selbstverständlich musste er eine Republik sein, anders konnte es nicht gehen. Etwas Ähnliches wie ‚Karl I.‘ auf dem ehemaligen kurländischen Herzogsthron – das schiene allzu lächerlich. Wer waren denn diese neuen Staatsmänner, angefangen mit dem Präsidenten? Ihre Namen, wurden so nicht früher unsere Kutscher und Knechte genannt? Und so sahen sie auch aus, so schien es uns.“
Die Landreform des Jahres 1920 trifft den Adel am härtesten, viele Geschlechter verlassen das Land auf Nimmerwiedersehen. Zu Zentren der deutschbaltischen Kultur und des Wirtschaftslebens werden in der Zwischenkriegsperiode die Städte. Aufgrund der erfolgreichen Minderheitenpolitik kann Lettland ein Vorbild für andere europäische Staaten sein. Große Verdienste für den Zusammenschluss von Deutschen in Lettland und emigrierten Deutschbalten hat der Politiker Paul Schiemann. Die von ihm lange Jahre geleitete „Rigasche Rundschau“ ist eine der von Deutschen am meisten gelesenen Zeitungen auch im Ausland.
Die Einstellung gegenüber den Deutschbalten ändert sich mit dem Beginn von Ulmanis‘ Diktatur, die Minderheitenrechte werden eingeschränkt, und dies wird einer der Gründe für die Verbreitung nationalsozialistischer Ideen im Milieu der baltischen Deutschen.
Die Periode des unabhängigen Lettlands ist bedeutsam für die deutschbaltische Kultur durch Forschungen zur Geschichte des Baltikums und deutschbaltischen Linguistik, durch die Aktivierung der Zusammenarbeit von Deutschbalten und Letten und den wechselseitigen Austausch von Ideen. Ereignisse des lettischen Kulturlebens werden von Guido Hermann Eckardt in den Periodika rezensiert. Es erscheinen zwei Auswahlbände lettischer Dichtung in einer Nachdichtung durch die deutschbaltische Dichterin Elfriede Eckardt-Skalberg. Der Übersetzung wenden sich auch andere zu. Die Verbindung ist gegenseitig: Sie ist zwar nicht so ausgeprägt, aber die Letten zeigen doch auch Interesse an der deutschbaltischen Lyrik.
Ein herausragendes Beispiel für die gegenseitige Zusammenarbeit ist Oskar Grosberg, der väterlicherseits lettischer Abstammung war. Er ist ein fanatischer Ballett-Liebhaber und Autor lettischer Ballett-Libretti. Er schreibt Prosa, seine Leser führt er zurück in die stille Atmos-phäre eines Landgutes Mitte des 19. Jahrhunderts. Sein Roman „Meschwalden“ (1926) erlebt sogar mehrere Übersetzungen und dient Edvarts Virzas Werk „Straumēni“ (1933) als ideeller Boden. Grosberg ist Autor von nach wie vor beliebten Reisebeschreibungen, Übersetzer lettischer Literatur und Bibliograf der lettischen Presse.
Alles in allem kann man die deutsche Literaturszene des Baltikums in den 20er und 30er Jahren in Lettland als erschöpft charakterisieren, auch in ihren Texten, beispielsweise in der Dichtung, ist das dominierende Gefühl müde ‒ Müdigkeit, Erschöpfung, dies belegt ein 1935 publizierter Auswahlband von Dichtung, in dem dichterische Werke von emigrierten und in Lettland gebliebenen Deutschbalten vereint sind; hell scheint einzig die Vergangenheit.
In die deutschbaltische Literatur der Zwischenkriegsperiode tritt eine neue, talentierte Literatengeneration ein, unter ihnen sind auch die Dichter Lex Schloß und Walter Pogge van Ranken. Die Inspirationsquellen der jungen Literaten sind Stefan George und Rainer Maria Rilke, es eint sie das Interesse für den Expressionismus, und in ihren Texten trifft man weiterauf Spuren des Symbolismus, wichtig für den urbanen Raum. In den 30er Jahren wird auch die deutschbaltische Literatur von nationalsozialistischen Ideen beeinflusst, schlagender Beweis dafür sind die theoretischen Schriften und die Dichtung der jungen Generation.
Kurzfristig und und nur bedingt ist der Versuch der Annäherung der deutschbaltischen und lettischen Kultur in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als deutschbaltische Texte in der literarischen Beilage der Zeitung „Tēvija“ veröffentlicht werden und einige Übersetzungen deutschbaltischer Romane ins Lettische herauskommen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutet auch das Ende des Bestehens der deutschbaltischen Gemeinschaft im Baltikum. Nach dem Krieg ist die Zahl der in Lettland verbliebenen Deutschbalten unbedeutend.
Wenden wir uns einem Einblick in die Literatur der deutschbaltischen Emigration zu: Die Bezeichnung mag überraschend scheinen, aber 1939 wird das Jahr der Repatriierung der Deutschen des Baltikums genannt, obwohl das Baltikum doch für die Deutschbalten die einzige Heimat ist: Die Gefühle, als diese verlassen wird, sind ähnlich denen, die wir aus der lettischen Exilliteratur kennen; auch wenn man sich in der Fremde einlebt, bleiben die Schmerzen wegen des verlorenen Vaterlandes bestehen. In der Analyse des Phänomens des Exilanten wäre ein Vergleich zwischen ähnlichen Motiven, beispielsweise in der Dichtung Gertrud von den Brinckens, Velta Tomas und Zinaīda Lazdas, sicherlich aufschlussreich.
Das Thema der verlorenen Heimat kommt bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in die deutschbaltische Literatur und wird häufig mit der Darstellung des versunkenen Landes Atlantis assoziiert. Dafür gibt es Gründe: Das Jahr 1905 und die Zeit des unabhängigen Lettlands, der Übergang deutschen Eigentums in lettische Hände sind verbunden mit Traurigkeit und einem Gefühl von einem Ende der Kultur. In den Texten der Deutschbalten ist es häufig ein Gewässer - ein Fluss, ein See, ein Teich oder seltener das Meer –, das die Funktion der Herkunft und des Untergangs sowie einer Grenzmarkierung zwischen zwei Kulturwelten erhält. Das ruhige Leben des 19. Jahrhunderts hingegen verwandelt sich in den Erinnerungen der Emigranten in das Bild des verlorenen Paradieses.
Die deutsche Literatur des Baltikums entwickelt sich im 20. Jahrhundert in drei Richtungen: Erstens assoziieren sich ein Teil der Deutschbalten nach der Emigration nicht mehr mit dem Baltikum, und ihre Werke fließen in den vereinten Strom der deutschen Literatur ein; zweitens gibt sich ein Teil der Schriftsteller dem Mystizismus und religiösen Suchbewegungen hin; und drittens gibt es Schriftsteller, die in ihrem künstlerischen Schaffen eine beständige Verbindung mit dem Baltikum bewahren. Gerade dieser Teil der deutschen Literatur des Baltikums mit seinen ausgeprägten biografischen Zügen stellt das interessanteste Korpus der deutschbaltischen Prosa des 20. Jahrhunderts dar. Nicht selten zerstört er die eingewurzelten Stereotypen im Verständnis der Geschichte und unserer gegenseitigen Beziehungen. Die bedeutendsten Persönlichkeiten in der deutschbaltischen Prosa des 20. Jahrhunderts sind Werner Bergengruen und Siegfried von Vegesack, in der Dichtung ist es Gertrud von den Brincken.
Der Meister der deutschen Novelle und des Romans, Werner Bergengruen, ist unzweifelhaft der herausragendste deutschbaltische Literat des 20. Jahrhunderts. Falls es den Anschein haben sollte, dass die deutsche Literatur des Baltikums provinziell und minderwertig ist, dann räumt seine Sammlung von Erzählungen mit dem Titel „Der Tod von Reval“ (1939, lettisch 2000), in der die Präsenz der Toten wichtiger und lebendiger als das Leben wird, jeden Zweifel aus. In der Zeit, in der Bergengruen dieses Buch schreibt (1931‒1935), existiert das deutschbaltische Reval nicht mehr, und augenscheinlich ist auch dessen Gesellschaft gestorben; nichtsdestoweniger beinhaltet das Buch viel verborgene Fröhlichkeit und Ironie. In Bergengruens Prosa gibt es zwei auffällige Merkmale: Erstens besitzt der Autor, wenn man sich auf Michael Ignatieff, den Biografen von Isaiah Berlin, beruft, eine wesentliche menschliche Eigenart. Und diese Eigenart korrespondiert mit der Idee der Freiheit. Bergengruens Gestalten haben ungewöhnliche Schicksale. Der Strom des Lebens trägt den Menschen vom Moment der Geburt an dem Tode entgegen – die Ahnung von dessen Gegenwart und die Leichtigkeit der Wahrnehmung, ja sogar das Spiel mit dem Tod, all dies lässt Bergengruen in einem Zusammenhang mit dem Zeitalter des Barocks erscheinen. Nichtsdestoweniger ist das Gefühl der mythischen Welt viel tiefer und weiter gehender, und dies kann man als zweites auffälligeres Merkmal seiner Prosa anführen. Bergengruen ist einer der seltenen deutschen Schriftsteller des Baltikums, der zum Katholizismus konvertierte, auch dieser Entschluss steht in einem Zusammenhang seiner Suche nach Tiefe, nach den Wurzeln des Christentums. Der Schriftsteller lebt in fast allen seinen Werken in der Vergangenheit: im Mittelalter („Die Feuerprobe“, 1933), in der frühen Renaissance („Der Großtyrann und das Gericht“), im Zeitalter der Reformation und der späten Renaissance („Am Himmel wie auf Erden“), im Jahrhundert der Aufklärung („Das große Alkahest“) u.ä. Die Konkretheit des Raum-Zeit-Kontinuums hat jedoch keine Bedeutung. Bergengruen, der ein Meister im Genre der Novelle ist, bewahrt die für sie charakteristische Intensität, sogar die Dramatik und das unerwartete Moment, auch in seinen Romanen.
Der unter baltischen Deutschen möglicherweise am meisten gelesene Romancier ist Bergengruens Jugendfreund, der dennoch literarisch völlig andersartige Siegfried Vegesack. Sein Hauptwerk ist die umfangreiche Baltische Trilogie (1933‒1960). Der Roman ist eine eigentümliche Schicksalssaga der Deutschbalten geworden: In ihm wird die Darstellung der Natur des Baltikums vereint mit den Erlebnissen des Protagonisten, Aurel Heidenkampf, teilweise des Autors selbst, von der frühen Kindheit bis zum Jahr 1939. Neuere Forschungen belegen, dass sich diese ikonische Art zu schreiben, wenn auch ohne die geringsten Anzeichen von Antisemitismus, großartig in die ideologische Konjunktur Deutschlands in der zweiten Hälfte der 30er Jahre einfügt. Vegesack behauptet, dass es ihm an Vorstellungskraft fehle, aber der Realität des Lebens viel mehr Phantasie zu Eigen sei als sich das menschliche Gehirn überhaupt auszudenken vermöge. Gerade das Dokumentarische, das seinen Werken anhaftet, die möglicherweise für den einen oder anderen unannehmbare, aber zu respektierende Sichtweise, der es wert ist zuzuhören, ist das, was die Prosa Vegesacks immer noch lesenswert macht.
Die wechselseitigen Beziehungen von Letten und Deutschbalten in der Emigration nach dem Zweiten Weltkrieg sind zurückhaltend, engere Bindungen entstehen in Wissenschaftlerkreisen, in den ersten Nachkriegsjahren erscheint der Informationsaustausch über kulturelle Ereignisse auch in der lettischen Exilpublikation Latvija und in der deutschbaltischen Zeitschrift Baltische Briefe. Im Schriftstellermilieu sind Brückenbauer der Freundschaft eine seltene Ausnahme, eine von ihnen ist E. Eckardt-Skalberg. Ihr Zuhause in Überlingen am Bodensee wird zum Treffpunkt für mehrere lettische Schriftsteller. Pāvils Klāns schreibt: „[Sie] ist alt, halbblind, eine arme Künstlerseele, die Puschkin und Lermontov neben Strēlerte und Skalbe vergöttert, besonders Akuraters liebt bzw. die Dichtung der strengen Form und des guten Stils, […] sie raucht Pfeife wie eine Zigeunerin. Und trinkt auch. […] Sie lebt in einer 500 Jahre alten Kapelle, die erst seit 100 Jahren einer zivilen Nutzung übergeben und zum Wohnhaus ausgebaut ist. Es hat seine eigene Geschichte, mit vielen Leichen und Gespenstern, und ich erhielt zum Schlafen das Zimmer einer jungen, schönen Selbstmörderin. […] Auf der Welt zu sein ist schön, noch schöner ist es zu leben. Eckardt ist wirklich sehr alt, aber sie schwimmt noch. Und sie denkt nicht an die Vergangenheit und an das, was verloren ist, wie es unsere so beschämend unheldenhafte, degenerierte und vom Materialismus trunkene Generation tut, sondern blickt weiterhin in die Zukunft.“ 1960 erscheint in Hannover-Döhren der Sammelband Lettische Lyrik in der Nachdichtung von E. Eckardt-Skalberg. Und ihr 70jähriger Geburtstag sollte sich wie beabsichtigt in ein Treffen der baltischen Intelligenz verwandeln: Unter den geladenen Gästen sind Werner Bergengruen und Bruno Goetz sowie von den Letten der Historiker Ādolfs Šilde.
Manchmal gelangt, wenn der Blick des Schriftstellers in die Vergangenheit gerichtet ist, der Deutschbalte als für den baltischen Raum charakteristischer Typus auch in die lettische Exilliteratur. Schriftsteller, die einen häufig aufgelegten sozialpolitischen Blick ablegen, streben danach, sich in die wechselseitigen Beziehungen ihrer Helden zu vertiefen, und machen deren kompliziertes Hin und Her zur Grundlage der Konflikte. Und es gibt Schriftsteller, die sich in der lettischen Exilgesellschaft in ihrem Streben nach Gefühlstiefe, wahrer Intelligenz und Kultur enttäuscht fühlen, aber unerwartet Trost unter den emigrierten baltischen Deutschen finden, denn „sie waren Geschichte, Luft, Kultur – alles, alles, alles, was ich suchte!“
Eine neue Zusammenarbeit zwischen Deutschbalten und Letten entsteht in der Zeit der wieder hergestellten Unabhängigkeit Lettlands. Und dies ist der erste Moment in der lettischen Geschichte, in dem sich lettische Wissenschaftler der jungen Generation die baltische Region in ihrer kulturellen Vielgestaltigkeit als weiteres Forschungsziel auswählen; sie, die von ihrer Ausbildung her Germanisten sind, wenden ihr Interesse stärker insbesondere der deutschen Kultur des Baltikums zu. Nur in sorgfältigen Studien zur lettischen und örtlichen deutschen Kultur ist es möglich, dass ausgezeichnete Forschungen zum geistigen Klima vor Ort im Laufe der Jahrhunderte in all seiner Vielgestaltigkeit entstehen.
Fazit
Die Deutschbalten sind Deutsche, die im Baltikum geboren sind oder den größeren Teil ihres Lebens im Baltikum verbracht haben und dort heimisch geworden sind. Die deutschbaltische Kultur ist traditionell mit dem Zeitraum von der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert bis zur Umsiedlung im Herbst 1939 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs und territorial hauptsächlich mit den Gebieten Kurland, Semgallen und Livland in Zusammenhang zu setzen. Bis zur Gründung des Staates Lettland im Jahre 1918 kommt den Deutschbalten die Hauptrolle für alle Richtungen der Entwicklung der Region zu, sie haben alle kulturellen Sphären des Baltikums gestaltet und wesentlich beeinflusst.
Die deutschbaltische Kultur ist eine koloniale Kultur, bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts imitiert sie die europäische deutschsprachige Kultur als geistiges Zentrum. Die Suche nach einer eigenen Identität und lokalen Eigenheiten beginnt in der deutschbaltischen Gesellschaft Ende des 18. Jahrhunderts und wird im 19. Jahrhundert zur Dominante. Für den heutigen Leser stellt die Memoirenliteratur den interessantesten Teil des deutschbaltischen Schrifttums dar. Sie legt Zeugnis ab von der eigentümlichen Welt der Gemeinschaft und ihrem eigenen, nicht selten kontroversen Blick auf die historischen Ereignisse.
Die deutsche Kultur des Baltikums als europäische Kultur ist seit Beginn der Eroberung der Territorien und der allmählichen Unterwerfung der autochthonen Bevölkerung Vorbild und Schule für die Letten gewesen. Im Zeitalter des Volkserwachens und auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der Einfluss der deutschen Kultur auf das lettische Geistesleben bedeutend: Die großen lettischen Schriftsteller Rūdolfs Blaumanis und Aspazija machen ihre ersten literarischen Versuche in deutscher Sprache, und auch die wechselseitige Kommunikation der Jungletten läuft nicht selten auf Deutsch ab. Obwohl sich die lettische Intelligenz allmählich vom Einfluss der örtlichen deutschen Kultur befreit oder diesen sogar bewusst meidet, bleibt dennoch eine der Tradition nach europäisch-deutsche Kultur als wesentliche Quelle des Reifens noch mindestens bis zum Ersten Weltkrieg bewahrt.
Als eine Zeit der bedingten Zusammenarbeit und Annäherung zwischen Deutschbalten und Letten sind das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts anzusehen, ungefähr bis zum Ersten Weltkrieg. Damals nehmen die literarischen Übersetzungsaktivitäten zu, und auch die wechselseitigen persönlichen Kontakte verstärken sich.
In der Zeit des ersten Freistaates Lettland geraten die Deutschbalten in einen Minderheitenstatus, in den 20er Jahren wird nach neuen Formen der Zusammenarbeit gesucht, diese werden mehr in Wissenschaft und Kunstkritik zum Ausdruck gebracht als in der Literatur. Mehr als je zuvor werden Übersetzungen lettischer Literatur ins Deutsche veröffentlicht, nichtsdestoweniger überträgt man deutschbaltische Schriftsteller vergleichsweise zögerlicher ins Lettische. Den demokratischen Verlauf der Minderheitenpolitik unterbricht die Machtübernahme durch Kārlis Ulmanis im Jahre 1934, die Situation im Staat ändert sich noch rascher am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, als die Deutschbalten ausreisen und Lettland sukzessive seine Unabhängigkeit verliert.
In der Mitte und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt die emigrierte deutschbaltische Intelligenz weiterhin in den Ländern, in denen sie ihr Exil gefunden hat ihre Tätigkeit fort, hauptsächlich in Deutschland und den USA, ein kleiner Teil geht auch nach Nordeuropa und in andere Länder; die deutschbaltische Gesellschaft erlebt einen allmählichen Assimilationsprozess, ein Teil der älteren Generation bewahrt im Geistesleben weiterhin die Verbindung mit der Heimat, das belegen deutlich, beispielsweise in der Literatur, Siegfried von Vegesack, Gertrud von den Brincken und Werner Bergengruen; ein Teil von dem, was sie geschrieben haben, ist eng verbunden mit ihren Erinnerungen an das Baltikum.
Obwohl man behaupten kann, dass die deutschbaltische Kultur im Baltikum nach dem Zweiten Weltkrieg aufgehört hat zu bestehen, gibt es weiterhin eine aktive Forschungstätigkeit im Ausland; zu Forschungszentren haben sich Marburg (Herder-Institut), Lüneburg (Carl-Schirren-Gesellschaft) und Darmstadt entwickelt. Nach der Erneuerung der Unabhängigkeit Lettlands Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts nehmen auch Vereine der Deutschen im Baltikum ihre Tätigkeit wieder auf. Auch in Lettland ist eine junge Forschergeneration herangewachsen mit einem neuen Blick auf die lettische Politik, Kultur und auch die wechselseitigen nationalen Beziehungen in der Vergangenheit, darin spielen die Deutschen des Baltikums eine bedeutsame Rolle.
Über die Autorin:
Māra Grudule (geb. 1963) – Dr. phil., Professorin an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Lettlands, Forscherin am Institut für Literatur, Kunst und Folklore der Universität Lettlands. Veröffentlichungen in einheimischen und ausländischen Publikationen zur deutschbaltischen und lettischen Literatur des 16. bis 19. Jahrhunderts.
Aus dem Lettischen übersetzt von Sabine Jordan, Münster