Landkarten der Vergangenheit einer Stadt: Bilder der Vergangenheit von Klaipėda im kommunikativen Gedächtnis seiner Einwohner und die Identität der Stadt
Einleitende Bemerkungen
Irena Šutinienės Text zu den mental maps Klaipėdas ist Teil eines größeren Aufsatzes der Autorin, in dem sie sich auch mit der Erinnerungspolitik in Vilnius und Kaunas beschäftigt. Veröffentlicht wurde der Beitrag „Das kommunikative Gedächtnis in den großen litauischen Städten“ in einem 2013 erschienenen, von Alvydas Nikžentaitis herausgegebenen Sammelband mit dem Titel: Die Vielschichtigkeit der Erinnerung. Stadt – Staat – Region, Vilnius 2013, S. 385-486 [Atminties daugiasluoksiškumas. Miestas – Valstybė – Regionas]. Für das Online-Übersetzungsportal: Übersetzte Geschichte und die deutsche Leserschaft wurde das Kapitel über Klaipėda/Memel ausgewählt (S. 459-482), was keiner weiteren Erklärung bedarf, gehörte die Stadt doch über Jahrhunderte zu Preußen und dem Deutschen Reich.
Gegründet 1252 als Burg des Livländischen Zweiges des Deutschen Ordens am Ort einer baltischen Siedlung, deren litauische Bezeichnung Klaipėda war, blieb Memel immer im Grenzgebiet verschiedener staatlicher und politischer Ordnungen. Sieht man einmal von der kurzen Zeit als provisorische preußische Hauptstadt in den Jahren 1807 und 1808 ab, als sich das preußische Königspaar notgedrungen nach Memel zurückziehen musste, lag die Stadt an der Dange immer im Wetterwinkel der preußischen Geschichte, dem weit größeren, wirtschaftlich bedeutenderen und bekannteren Königsberg in jeglicher Hinsicht unterlegen.
Der Dornröschenschlaf endete mit den Zeitläuften des 20. Jahrhunderts, die die Stadtgeschichte von Grund auf veränderten. Zwischen 1918/19 und 1989/91 durchliefen die Stadt und ihre Bewohner grundstürzende Wandlungen, die die bis dahin im Großen und Ganzen gegebene Kontinuität in Stadtentwicklung und regionaler Demografie vollständig zerstören sollten. Der „Kampf um Memel“ begann mit dem Versailler Vertrag und der Abtretung des Memelgebietes durch das Deutsche Reich. Für eine kurze Periode vertrat Frankreich die Interessen der Entente, und eine Zeitlang sah es so aus, als werde die Danziger Freistaatslösung ihre Fortsetzung an der Memel finden. Doch durch einen von Litauen aus inspirierten und geplanten Coup setzten sich (klein)litauische Freischärler im Januar 1923 in den Besitz des Gebietes (Irena Šutinienė spricht in diesem Zusammenhang durchaus treffend von einem „Anschluss“), so dass das Memelgebiet bis 1939 zur Republik Litauen gehörte. Allerdings waren die Rechte der deutschen Bevölkerung durch eine Autonomie gesichert, die sogar eine lokale Selbstverwaltung in Form eines frei gewählten Parlaments (des Memelländischen Landtages) implizierte. Wenig Wunder, dass die deutschen und litauischen nationalen Bestrebungen in Form des „Volkstumskampfes“ aufeinander stießen, wobei sich die litauische Seite insofern in einer schlechten Position befand, als der Autonomiestatus und die immer dominante Stellung der deutschen Parteien im Landtag eine vollständige Integration des Memelgebietes in den litauischen Gesamtstaat effektiv verhinderten. Bereits in dieser Zeit kam es zu Bevölkerungsbewegungen, da ein Teil der deutschen Bewohner für das Deutsche Reich optierte und Mitte der 20er Jahre auswanderte, während gleichzeitig ein erster Zuzug aus Zentrallitauen zu beobachten war.
Im März 1939 kehrte Memel, das schon längst von nationalsozialistischen Organisationen unterwandert worden war, „Heim ins Reich“; Litauen hatte keine Alternative, als die ultimative Drohung der deutschen Seite zu akzeptieren. Mit der Eroberung des Memelgebietes (bis auf die Stadt selbst) und Teilen Ostpreußens im Herbst 1944 durch die Rote Armee begann die Endphase des Zweiten Weltkrieges, der am 1. September 1939 durch das Deutsche Reich entfesselt worden war. Als Festung wurde Memel noch durch die deutsche Wehrmacht bis Januar 1945 gehalten, die Offensive der Roten Armee gegen Ostpreußen machte das Unternehmen sinnlos, so dass die letzten deutschen Truppen die Stadt über die Kurische Nehrung verließen. Seit Oktober 1944 war fast die gesamte Bevölkerung des Memelgebietes nach Westen geflohen; als am 28. Januar 1945 Einheiten der Roten Armee in Memel einzogen, sollen sich weit weniger als 100 Bewohner in der Stadt befunden haben.
Damit begann die sowjetlitauische Periode der Stadtgeschichte. Sie war gekennzeichnet von einem stetigen Zuzug von Litauern und Russen. Die Neubauviertel der Stadt zeichneten sich durch die Einheitlichkeit sowjetischer Architektur aus Klaipėda wurde zu einem Stützpunkt der sowjetischen Hochseefischerei: Große Fischverarbeitungszentren wurden errichtet, um den Bedarf der gesamten Union zu decken. Zugleich entstanden Traditionen und Erinnerungsorte, die auch in den im Folgenden vorgestellten Umfragen eine Rolle spielen. Zu erwähnen ist u.a. das Meeresmuseum auf der Süderspitze der Kurischen Nehrung, das mit einer Vielzahl exotischer Fische und einem Delphinarium ein beliebtes Ausflugsziel darstellte und darstellt. Zu diesen Symbolen zählt auch das Segelschiff Meridianas, das – am Ufer der Dange gelegen – bis heute als Restaurant einen guten Ruf genießt. Gegen Ende der Sowjetzeit kam es unter dem örtlichen KPL-Chef und Bürgermeister Alfonsas Žalys zu einer Renovierung der Altstadt um den Theaterplatz, heute das Schmuckkästchen der Stadt. Žalys, auf dessen Initiative übrigens auch das Meeresmuseum zurückgeht, steht zugleich für den Umbruch Ende der 1980er Jahre, er wurde zu einem der Unterzeichner der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Litauens vom 11. März 1990.
Klaipėda ist heute die drittgrößte Stadt der Republik Litauen (nach Vilnius und Kaunas), als einzige Hafenstadt besitzt sie für die Nationalökonomie eine hohe Bedeutung, seit 1991 ist sie auch Universitätsstadt. Neben der litauischsprachigen Bevölkerung gibt es eine russisch-sprachige Minderheit, deren Anteil in Klaipėda mit fast 20% weit höher ist als in Gesamtlitauen (ca. 8%). Dies hängt natürlich mit der Geschichte des sowjetlitauischen Klaipėdas nach 1945 zusammen.
Aufgrund des dramatischen Wandels der Bevölkerung im 20. Jahrhundert ist es umso erstaunlicher, was die Umfragen, die Irena Šutinienė in dem folgenden Beitrag präsentiert, verdeutlichen. Im kommunikativen Gedächtnis der heutigen Bewohner sind Erinnerungsorte fest verankert, die noch vor wenigen Jahrzehnten einer politisch-ideologischen damnatio memoriae zum Opfer gefallen wären. Offensichtlich speist sich das heutige Selbstverständnis nicht zuletzt aus der Geschichte des alten Memel, die als eine Art von Alleinstellungsmerkmal sowohl im Rahmen der sowjetlitauischen als auch der nationallitauischen Narrative gesehen wird. Man ist sich dieser „anderen“ Vergangenheit sehr wohl bewusst und geht offenkundig in Form einer positiven Aneignung mit ihr um. In dieser Hinsicht verdient die Aussage von Šutinienė Beachtung, dass die „deutsche“ Vergangenheit zumindest von der litauisch-sprachigen Bevölkerung keineswegs mehr als nationales Proprium verstanden, sondern von ihr quasi als transnationales lokales Typikum angenommen wird. Dennoch – es ist überraschend, wie wenig vom sowjetischen Stereotyp eines deutschen „Sprungbretts nach Osten“, als das Memel verstanden wurde, in der Vorstellungswelt zurückgebleiben ist und welche Bedeutung der deutschen Vergangenheit für die eigene Identität zukommt. Mehr als 60% der Befragten interessiert sich z.B. für das Deutsche Reich zwischen 1870/71 und 1919. Die „deutsche“ Altstadt wird gar zum am häufigsten erwähnten historischen Erbe Klaipėdas. Wäre es in irgendeiner kleineren Stadt der Bundesrepublik Deutschland vorstellbar, dass eine – historisch nicht sonderlich bedeutende – Periode der Geschichte wie die kurzzeitige Hauptstadtfunktion Memels in Umfragen zur regionalen Identität des 21. Jahrhunderts Erwähnung findet, und zwar unter der Fragestellung, auf welche Ereignisse der Stadtgeschichte man „stolz“ sein könne?
Interessant ist auch, dass offenkundig unbestimmte Narrative eine besondere Anziehungskraft ausüben. Am deutlichsten wird dies in dem – immer wieder von vielen Befragten benannten – Schlagwort von der „Stadt am Meer“, das in seiner Beliebig- und Vieldeutigkeit offenbar auf großen Zuspruch stößt. Und schließlich spiegelt sich auch die sowjetische Stadtgeschichte in der unterschiedlichen Bewertung ihrer Symbole durch litauisch- und russisch-sprachige Bewohner wider.
Der Text wurde mit wenigen Auslassungen, die sich vor allem auf einleitende methodologische Hinweise zum kommunikativen Gedächtnis beziehen, vollständig wiedergegeben. Da sich diese einführenden Bemerkungen vor allem auf die bekannten Arbeiten von Jan und Aleida Assmann beziehen, glaubt der Autor dieser Zeilen, auf sie verzichten zu können, um die deutschsprachige Leserschaft gleich medias in res zu führen: die Umfragen und ihre Interpretation durch Irena Šutinienė.
Die Autorin des Aufsatzes ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lietuvos Socialinių Tyrimų Centras, also am Zentrum Litauens für soziale Forschungen in Vilnius. Sie arbeitet dort am Soziologischen Institut. Ihre Forschungsinteressen gelten dem sozialen Gedächtnis, Fragen der ethnischen Identität und der Biografik. Dabei stehen Themen der postsowjetischen Erinnerungspolitik im Mittelpunkt, zu denen sie mehr als 30 Aufsätze veröffentlicht hat.
Abschließend einige editorische Bemerkungen: Das Restaurantschiff „Meridianas“ wird entgegen dem maskulinen grammatikalischen Geschlecht des Wortes als die „Meridianas“ bezeichnet. Auch wenn die substantivischen und adjektivischen Formen von Klaipėda im Deutschen recht sperrig klingen, wird im deutschen Text aus einleuchtenden Gründen nicht von Memelern und Memeler Bevölkerung gesprochen.
Mein Dank gilt Claudia Sinnig für die Übersetzung des Textes.
Landkarten der Vergangenheit einer Stadt: Bilder der Vergangenheit von Klaipėda im kommunikativen Gedächtnis seiner Einwohner und die Identität der Stadt
[…] Die in der populären Vorstellung der Klaipėdaer dominierenden „Landkarten“ der Vergangenheit wurden vorwiegend mit quantitativen Methoden (in Form einer repräsentativen Umfrage unter den Einwohnern) untersucht, während […] die Daten der qualitativen Untersuchungen genutzt wurden, um die Interpretation der Ergebnisse der quantitativen Untersuchung zu präzisieren. Dabei wird das kommunikative oder kollektive Gedächtnis empirisch als eine Summe von individuellen Erinnerungen verstanden, als eine Sammlung (von dem Soziologen Jeffrey Olick als collected memory bezeichnet), die sich auf den Begriff der Kultur als subjektive Kategorie gründet (also nicht als objektivierbare Repräsentation, sondern als das, was in den Köpfen der Menschen ist). Das Wesen des kollektiven Gedächtnisses besteht im Erinnern und in den Auffassungen des Individuums: Obwohl dieses Gedächtnis von einem kollektiven „Rahmen“ geprägt wird, werden alle Erscheinungsformen der Gedächtniskultur dahingehend untersucht, welche Reaktionen sie bei bestimmten Personengruppen oder Individuen hervorrufen. Das individuelle Gedächtnis wird zwar ebenfalls von sozialen und anderen kollektiven „Rahmen“ geprägt, doch sind diese kollektiven Strukturen nur dann real, wenn die Menschen sie als real begreifen oder sich von ihnen in ihren Gedenkpraktiken leiten lassen.
Die Gedächtniskultur in der Stadt Klaipėda und die sie dominierenden Erzählungen sind von Vasilijus Safronovas als Ideologien kollektiver (zumeist nationaler), sich wechselseitig beeinflussender Identitäten analysiert worden. Er stellte in seinen Arbeiten fest, dass sich zwischen diesen Ideologien in der Gedächtnis- und Gedenkkultur Klaipėdas eine Art von Koexistenz entwickelt hat. Neben dem seit 1991 dominierenden litauischen Diskurs sei auch eine sowjetisch-russische und deutsche Identität vorhanden, die aufgrund der gegenwärtigen geografischen und geopolitischen Situation allerdings keinen Anspruch auf Dominanz erhöben. Safronovas hält wirtschaftliche Motive, d.h. Konsum- und Handelsinteressen, für die grundlegenden Stimuli des Wandels der gegenwärtigen Gedächtnis- und Gedenkkultur, während er in den öffentlichen Gedenkszenarien vornehmlich einen Ausdruck des Erinnerns älterer Generationen erblickt. Obwohl […] zwischen dem kommunikativen Gedächtnis und der Gedächtnis- und Gedenkkultur ein Zusammenhang besteht, spiegelt das kommunikative Gedächtnis der Bewohner einer multikulturellen Stadt nicht unbedingt direkt die in ihre Gedächtnis- und Gedenkkultur „eingeschriebenen“ ideologischen Diskurse […] wider. Die in der quantitativen Studie untersuchten „Landkarten“ des kommunikativen Gedächtnisses reflektieren nicht die von den Eliten geschaffene Gedächtnis- und Gedenkkultur, sondern das populäre Gedächtnis, das […] als Ergebnis des sozialen Handelns von Menschen verstanden wird, die Entscheidungen treffen, interpretieren und umsetzen. Der Soziologe Victor Roudometof schreibt dazu: „[…] während die Konstruktion des öffentlichen Gedächtnisses als ‚von oben’ geäußerter Ausdruck der Interessen von Eliten verstanden werden kann, vollzieht sich die Schaffung des ethnischen und lokalen Gedächtnisses durch den Versuch, eine Synthese beider Ebenen herbeizuführen.“ In dem vorliegenden Beitrag sollen daneben die in der populären Vorstellung dominierenden, in der Umfrage zum Ausdruck kommenden Fixpunkte (Strukturen) der Vergangenheit der Stadt und ihre sozial-demografischen Korrelate, insbesondere in Bezug auf Ethnien und Altersgruppen erörtert werden. Doch sind weder die ethnische oder andere Gruppenidentitäten noch die urbane Identität zwangsläufig das grundlegende und einzige Fundament der Herausbildung solcher Strukturen im kommunikativen Gedächtnis. Es kann Überschneidungen vieler sozialer Welten und Diskurse der urbanen Vergangenheit widerspiegeln […] Wenn die Identität einer Stadt verstanden wird als „Vielzahl diskursiver Wirklichkeiten, die eine urbane Identität bezeichnen, kommunizieren und strukturieren“, können die Bilder der Vergangenheit der Stadt im kommunikativen Gedächtnis der Einwohner als Bestandteile der populären urbanen Identitätsdiskurse aufgefasst werden, die die Dimension der Vergangenheit dieser Identität strukturieren. In der öffentlichen Meinung geäußerte Vorstellungen über die Vergangenheit sind dadurch bedeutsam, dass sie nicht einzelne Stellungnahmen von Gruppen sind, die öffentliche urbane Identitätsdiskurse erschaffen, sondern „populäre“, „von unten“ entstandene und nicht immer öffentlich formulierte urbane Gedächtnisdiskurse, die das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen verschiedenen sozialen Welten und normativen Diskussionen sind.
Gestützt auf die Ergebnisse der empirischen Untersuchung sollen folgende Aspekte des kommunikativen Gedächtnisses erörtert werden: die Bedeutung der Vergangenheit in den Auffassungen der Klaipėdaer über ihre urbane Identität, die räumlichen Repräsentationen der Gedächtniskultur und die Artikulation von Erzählungen der Vergangenheit im kommunikativen Gedächtnis der Klaipėdaer sowie die sozial-demografischen „Rahmen“ der Bilder der urbanen Vergangenheit. Analysiert werden die Ergebnisse einer quantitativen Untersuchung (einer repräsentativen, mit einem Fragebogen durchgeführten Erhebung unter den Einwohnern) und einer qualitativen Untersuchung (anhand von teilweise standardisierten Interviews). Die quantitative Umfrage, an der 507 Klaipėdaer teilnahmen, wurde zwischen dem 4. und dem 21. Oktober 2013 […] durchgeführt. Ihre Ergebnisse spiegeln die Meinungen und Bewertungen von Einwohnern im Alter zwischen 18 und 75 Jahren wider. Die […] Interviews der quantitativen Untersuchung wurden mit Klaipėdaern durchgeführt, die 14 verschiedene ethnische und altersspezifische Gruppen repräsentieren, darunter aktive Vertreter ethnischer Vereinigungen, Menschen, die sich aktiv für das urbane Erbe interessieren, Vertreter von Institutionen für Denkmalschutz usw.
Bilder der Vergangenheit Klaipėdas in Konstrukten urbaner Identität
Wie bereits erwähnt, wird die urbane Identität – die „Eigenart“ des Ortes, das heimatliche Gefühl – in erster Linie durch das aktuelle Leben der Menschen in einem definierten Raum bestimmt, wobei die Formen des sozialen Lebens, das Wissen, die Werte und der Ort einander entsprechen.
Tafel 3: Charakteristika Klaipėdas (offene Fragestellung, ohne vorgegebene mögliche Antworten, Angaben in Prozent). Fragestellung: Was ist Ihrer Ansicht nach für Klaipėda am charakteristischsten, was drückt seine Eigenart und seinen Unterschied zu anderen Städten aus?
Das Umfrageergebnis verdeutlicht, […] dass die Vergangenheit nicht für alle Menschen die Grundlage ihrer Identifikation mit ihrer Stadt ist. Daneben sind auch Natur und Landschaft sowie nicht historische Symbole der Stadt von Bedeutung […]. Ähnlich verhält es sich auch mit dem in der populären Vorstellung dominierenden, für die Eigenart Klaipėdas charakteristischsten Begriffen (siehe Tafel 3).
In der kollektiven Vorstellung der Klaipėdaer von ihrer Stadt dominiert offenkundig das Bild der „Stadt am Meer“, das neben allgemeinen Bildern von See und Hafen auch durch andere Naturelemente (den Dünen, Smiltynė, den Stränden, der Küste, sogar dem Wetter) und von kulturellen Elementen der „Stadt am Meer“ (Meeresmuseum, Fest des Meeres u.a.) verkörpert wird. Dieses Ergebnis entspricht den Bildern der dominierenden normativen Diskurse – den für die Stadt spezifischen Kennzeichen in der Natur sowie den in der Geschichtsschreibung benannten und dominierenden Ideologemen urbaner Identität. Aber in der populären Vorstellung ist die Geschichte weniger bedeutsam: Repräsentationen der Vergangenheit – die Altstadt, die „Meridianas“ (zugleich auch ein Symbol der „Stadt am Meer“) – werden von weit weniger Klaipėdaern genannt als die See, der Hafen und andere Symbole der „Stadt am Meer“.
Tafel 4: Die Auffassung der Klaipėdaer über ihre urbane Identität bzw. ihre Bindung an die Stadt (in Prozent). Fragestellung: Was verbindet Ihrer Meinung nach alle Klaipėdaer? Es durften nicht mehr als vier Antworten gewählt werden.
Angesichts des Bruchs in der Kontinuität der Einwohnerschaft sind die gegenwärtigen urbanen Lebenserfahrungen und die emotionale Identifikation mit der Stadt für die urbane Identität der Bewohner vorherrschend.
Dennoch ist die Dimension der Vergangenheit auch bei der urbanen Identität […] recht bedeutsam: Der Begriff der „Herkunft“ (aus dieser Gegend) und das ethnische Erbe der Region sind für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung für ihre Verbundenheit mit Klaipėda bestimmend. Dagegen ist die gemeinsame historische Erfahrung (d.h. von vergangenen Ereignissen und Zeiträumen) nicht von Bedeutung; wichtiger ist das an den Zeithorizont des kommunikativen Gedächtnisses (der gegenwärtigen Generationen) heranreichende Erinnern, wobei die Reminiszenz an die Sowjetzeit wichtiger ist als die an gegenwärtige Erlebnisse. Die gemeinsamen aktuellen Lebenserfahrungen in Klaipėda wurden häufiger von Vertretern mit geringerem Bildungsgrad und von Befragten mit litauischer Nationalität genannt, während die Liebe zu Klaipėda und die Herkunft aus der Region öfter von Frauen und Litauern erwähnt wurde. Die gemeinsame Erfahrung der bzw. Erinnerung an die Sowjetzeit wurde häufiger von Männern, von Personen im Alter von 46 bis 55 Jahren sowie von Personen russischer Nationalität genannt. Die kleinlitauische Kultur erwähnten am häufigsten Menschen mit einem Hochschulabschluss.
Der Begriff der Multikulturalität zählt zwar nicht zu den für die Identität der Stadt von den Befragten benannten charakteristischsten Eigenschaften, aber dennoch hält ein Teil der Teilnehmer der Umfrage Multikulturalität für ein wichtiges Charakteristikum der Stadt und erblickt in ihr eine kulturell-religiöse Vielfalt. Man ist stolz auf die Toleranz der Einwohner, wie eine Klaipėdaerin (35 Jahre, deutsch) verdeutlicht: „[…] hier herrscht mehr Toleranz als in anderen Städten – Toleranz hinsichtlich der Nationalität, der Sprache, der Rasse und der Selbstverwirklichung.“ Die historische Multikulturalität der Stadt spielt dagegen eine weniger wichtige Rolle im Bewusstsein der Klaipėdaer. Die nach den Auffassungen der Bewohner vorherrschenden Ansichten über die Multikulturalität der Stadt sind in Tafel 5 dargestellt.
Tafel 5: Ansichten zur Multikulturalität Klaipėdas (in Prozent). Fragestellung: Was spiegelt in Klaipėda am stärksten die Multikulturalität der Stadt wider? Die Befragten konnten fünf Antworten wählen.
Als die Stadt ihre Identität im postsowjetischen Klaipėda suchte, waren in den ideologischen Identitätsdiskursen der Stadt [Vergleiche mit; J. T.] anderen Städten und Gebieten von relativ großer Bedeutung: so wurde auf der ideologischen, politischen und symbolischen Ebene zwischen 1996 und 2004 massiv auf eine Identität als „europäischste“ Stadt [in Litauen; C. S.] hingearbeitet, zu der das symbolisches Bild eines [litauischen; C. S.] Amsterdam gehörte, das Offenheit, Liberalität und Toleranz suggerierte. Die Bilder der urbanen Identität bildeten sich in der populären Vorstellung auch durch nationale und andere historische Narrative heraus. Die Auffassungen über die Eigenart der Stadt, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Städten und Regionen zeigt Tafel 6.
In der öffentlichen Meinung dominiert eine Vorstellung der Stadt, in der Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede zu anderen Städten und Regionen zum Ausdruck kommen: Klaipėda gilt als besondere Stadt, die sich von anderen litauischen Zentren abhebt. Seine Eigenart definiert sich am ausgeprägtesten über die Ostsee und die besondere Kultur des Klaipėdaer Gebiets. Die Dominanz der Vorstellung der Bewohner von der „Stadt am Meer“ sowie des vom Hafen geprägten Lebens wird dadurch bestätigt, dass Ähnlichkeiten mit anderen am Meer gelegenen litauischen Städten und mit weiteren Hafenstädten an der Ostküste des Baltikums am häufigsten genannt wurden. Weniger bedeutsam in den populären Auffassungen sind die Ausprägungen der „deutschen“ Vergangenheit und das vor zwei Jahrzehnten popularisierte Bild von der „europäischsten Stadt“ [in Litauen; C. S.], des litauischen „Amsterdam“.
Tafel 6: Auffassungen über Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede zwischen der Spezifik Klaipėdas und den Besonderheiten anderer Städte (in Prozent). Fragestellung: Wie viele Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten hat Klaipėda Ihrer Meinung nach mit folgenden Städten bzw. Gebieten?
Unter den territorialen Identitätssymbolen der Klaipėdaer ist die lokale, d.h. die regionale Zugehörigkeit zur Stadt, das stärkste: Mehr als die Hälfte der Befragten, d.h. 54 Prozent, gab an, dass es für sie persönlich sehr wichtig sei, Bewohner der Stadt Klaipėdas zu sein (und weitere 34 Prozent, dass dies eher wichtig sei). Diese lokale Affinität war unter Personen im Alter zwischen 36 und 55 Jahren sowie für Klaipėdaer russischer Nationalität am wichtigsten. An zweiter Stelle stand für die städtische Bevölkerung die Zugehörigkeit zu Litauen (für 49 Prozent – sehr wichtig, für 38 Prozent – eher wichtig); Personen litauischer Nationalität gaben häufiger an, dass es für sie wichtig sei, Bürger Litauens zu sein. Die Zugehörigkeit zum Baltikum und zu Europa sind für die Klaipėdaer von gleichrangiger Bedeutung: 37 Prozent halten sie für sehr wichtig. Die Identifikation mit Kleinlitauen ist dagegen schwächer (sehr wichtig – 31 Prozent).
Somit werden die dominierenden Bilder von Eigenart und Identität der Stadt am stärksten geprägt von der „Stadt am Meer“, von der „Küstenstadt“, von Erfahrungen und Erinnerungen, die mit dem „Hafen“ verknüpft sind (und von entsprechenden ideologischen Bildern untermauert werden). Die in Objekten des städtischen Raumes (Altstadt, Architektur) enthaltene historische Dimension ist dabei weniger bedeutsam. Für die Bestimmung der Grenzen der urbanen Identität ist auch die aktueller ethno-kulturelle Eigenart der Region von Bedeutung. Bilder der Multikulturalität und „Europäizität“ sind, obwohl sie von einem Teil der Einwohner genannt werden, weniger wichtig.
Tafel 7: Antworten auf die Frage: Inwieweit sind Sie an folgenden historischen Epochen von Klaipėda interessiert? (Angaben in Prozent)
Bilder der Vergangenheit im kommunikativen Gedächtnis der Klaipėdaer
Die Bedeutung vergangener Epochen der Stadt und ihre räumlichen Vergegenwärtigungen
Die „Landkarten“ der städtischen Vergangenheit spiegeln sich im kommunikativen Gedächtnis der Klaipėdaer auch bei der Bedeutung und Bewertung vergangener Epochen wider. Viele Untersuchungen zum historischen Bewusstsein zeigen, dass sich die meisten Menschen mehr für näher liegende historische Epochen interessieren, die an den Zeithorizont des kommunikativen Gedächtnisses (der gegenwärtigen Generationen) heranreichen. Aber in konkreten urbanen Kontexten und Situationen bleibt die chronologische Reihenfolge vergangener Narrative im kommunikativen Gedächtnis nur selten erhalten, d.h. konkrete Symbole können im historischen Bewusstsein nur wenig oder gar nicht an die in ihnen aufscheinenden Zeiträume geknüpft sein – stattdessen können die Art der Repräsentation, ihre gegenwärtigen Funktionen, individuelle und Gruppenidentitäten sowie eine Vielzahl anderer Faktoren von Bedeutung sein. Das Interesse der Klaipėdaer an den Epochen der Vergangenheit ihrer Stadt, die der von der Geschichtswissenschaft definierten Periodisierung entsprechen, zeigt Tafel 8.
Tafel 8: Das interessanteste historische Erbe Klaipėdas (Angaben in Prozent). Fragestellung: Welches historische Erbe von Klaipėda interessiert Sie am meisten? Die Teilnehmer sollten nicht mehr als sechs Antworten auswählen.
Die Mehrheit der Klaipėdaer gab an [Tafel 7; J. T.], dass sie am meisten an jenen drei historischen Epochen interessiert sind, die den naheliegendsten Zeithorizont des kommunikativen Gedächtnisses umfassen, während an weiter zurückliegenden Epochen etwas weniger, jedoch etwa gleich starkes Interesse besteht. Dennoch sind für die Befragten die früheren „deutschen“ Epochen, darunter auch die Zeit der Stadtgründung, wichtiger als die näher liegende Periode des Deutschen Reichs. Die geringfügigen Unterschiede im Interesse an den verschiedenen Epochen (also in deren Bedeutung für die Menschen) deuten an, dass eine historische Periodisierung auf die jeweilige Bedeutung der Bilder im kommunikativen Gedächtnis der Klaipėdaer wenig Einfluss hat. Der Umfang der Repräsentationen der Vergangenheit in den städtischen Räumen, ihr Charakter, ihre gegenwärtigen Funktionen und mythologisierte Narrative der Vergangenheit verleihen den „Landkarten“ der Vergangenheit der Stadt im kommunikativen Gedächtnis bedeutend mehr Struktur. Das zeigt sich am Interesse an verschiedenen Erscheinungsformen der Vergangenheit der Stadt (siehe Tafel 8).
Es ist offensichtlich, dass für die Klaipėdaer von den Repräsentationen der Vergangenheit das am umfangreichsten in der Stadt vorhandene späte „deutsche“ Erbe, das in der Architektur der Altstadt und anderen Relikten anschaulich wird, am bedeutendsten ist. Wie in anderen Städten ist in Klaipėda das Alltagsgedächtnis der Einwohner einer der am stärksten dominierenden Momente für die urbane Vergangenheit, die auch in den Erinnerungen älterer Bewohner noch präsent ist. Auch das Erbe der Frühzeit und der älteren Geschichte besitzt für die Klaipėdaer eine weit größere Bedeutung als ihm aus historischer Sicht zukommt. Dies kann auf die zahlreichen Objekte aus der Frühzeit in der Umgebung der Stadt sowie auf die Bedeutung des Gründungsmythos der Stadt für die Menschen zurückzuführen sein. Unter den in der Gedächtniskultur der Stadt verbreiteten ideologischen Narrativen sind die Elemente des kleinlitauischen Erbe weit wichtiger als Bestandteile der sowjetisch-russischen Erzählung (was der demografischen Zusammensetzung der Einwohnerschaft entspricht). Das „deutsche“ Erbe scheint dagegen als ideologisch neutral verstanden zu werden, d.h. als eine Erscheinungsform der Stadt und nicht als Repräsentation eines nationalen Narrativs. Die Ergebnisse der qualitativen Forschung belegen, dass nur Personen deutscher Nationalität einem Teil dieser Elemente eine symbolische Bedeutung für ihre nationale Identität zukommen lassen.
Tafel 9: Wichtige Denkmäler, Gebäude oder andere Orte der Stadt (Angaben in Prozent). Fragestellung: Welche Denkmäler, Gebäude oder anderen Orte in Klaipėda sind Ihrer Meinung nach für die Stadt am wichtigsten? Die Befragten konnten mehrere Antworten auswählen. Das Diagramm zeigt nur die 19 beliebtesten Objekte.
Die Popularität konkreter symbolischer Räume und Objekte in der Stadt bestätigt außerdem, dass […] im kommunikativen Gedächtnis der Klaipėdaer im Gegensatz zur Gedächtniskultur nationale Erzählungen und Unterscheidungen weniger bedeutsam sind (siehe Tafel 9).
Die Daten zeigen, dass die Popularität symbolischer Objekte unter der Bevölkerung noch stärker als deren Bedeutung in den von den quantitativen Untersuchungen festgestellten Hierarchien von Individuen und Gruppen von ihrer Funktion für die aktuellen urbanen Lebenserfahrungen geprägt sind. Das populäre Identitätsnarrativ der Stadt […] besteht aus jenen Räumen, die für die gegenwärtigen Erfahrungen des urbanen Alltags und für die Erinnerung an den Alltag der jüngeren Vergangenheit wichtig und zum Teil auch in konkreten Narrativen (Stadt am Meer, Hafen, Gründungsmythos, „Kleinlitauen“, „sowjetisches“ und „deutsches“ Narrativ) erkennbar sind. Aber unter diesen sind nur wenige Symbole der Vergangenheit, von denen zudem diejenigen am wichtigsten sind, denen durch ihre Funktion im gegenwärtigen Leben der Stadt eine Bedeutung zukommt, oder die – wie die einstige Memelburg – dem Narrativ über die Vergangenheit der Stadt, und nicht einer konkreten nationalen Gruppe, Sinn verleihen. An ähnlichen Kriterien orientierte sich auch die Auswahl der für die Klaipėdaer in den städtischen Räumen persönlich wichtigen Objekte: die „Meridianas“, die Altstadt, das „Ännchen von Tharau“, die einstige Memelburg, das Dramentheater, das Meeresmuseum, Smiltynė, der Skulpturenpark von Mažvydas, das Ensemble der Universität, der Theaterplatz usw. Dabei bestimmt die Bedeutung der Objekte für das „populäre“ Gedächtnis die Funktion im städtischen Leben. Deshalb ist die Skulptur des „Ännchens von Tharau“, ein Symbol des Narrativs der „deutschen“ Vergangenheit, von größerer Bedeutung als Bestandteil des Narrativs von Klaipėda und des Zentrums der Altstadt, dem Schauplatz vieler wichtiger kollektiver kommunikativer und kultureller Vergegenwärtigungen. Dieses Zentrum bilden der Theaterplatz, das Theater und das Denkmal „Ännchen von Tharaus“. Diese Skulptur verleiht dem familiären und dem autobiografischen Gedächtnis Bedeutung – ein Teil der Einwohner erinnert sich noch an das Standbild der Zwischen- und Nachkriegszeit, viele Familien haben alte Fotografien und Postkarten „Ännchens“ aufbewahrt. Folgende Zitate aus Interviews sind für die Ansichten der Klaipėdaer exemplarisch: „Das ‚Ännchen‘ hat schon 1946 gestanden, es ist von historischer Bedeutung“ (eine Russin, 84 Jahre).
„Das Denkmal ‚Ännchen von Tharau‘ und der Theaterplatz sind Ausgangspunkt des Stadtrundgangs für Touristen und ein schöner Akzent beim Erzählen der Stadtgeschichte. Es ist eine sehr schöne kleine Statue“ (eine Russin, 37 Jahre).
„Unsere ‚Meridianas‘ und das ‚Ännchen‘ sind Symbole. Niemals werden Buchstaben wie K & D, die man jetzt bei uns baut, zu Symbolen werden, höchstens in 120 Jahren, wenn sie dann noch stehen“ (ein Russe, 37 Jahre).
Die Daten der quantitativen Studien zeigen, dass neben der „Meridianas“ (von 75 Prozent der Litauer und 77 Prozent der Russen genannt) und dem „Ännchen“ (von 67 Prozent der Litauer und 70 Prozent der Russen genannt) auch Repräsentationen des litauischen und kleinlitauischen Narrativs, die seit der Sowjetzeit am Alltag der Stadt „teilhaben“ und sich in das kommunikative Gedächtnis der Einwohner eingeprägt haben, für alle Nationalitäten und Altersgruppen gemeinsame Symbole im urbanen Kontext sind. Erwähnt seien die Denkmäler für Herkus Mantas (26 Prozent der Litauer und 28 Prozent der Russen) und Kristijonas Donelaitis (21 Prozent der Litauer und 22 Prozent der Russen).
Tafel 10: Die für die nationalen bzw. ethnischen Gruppen wichtigsten Wahrzeichen der Vergangenheit der Stadt (offene Fragestellung, Angaben in Prozent). Fragestellung: Welche Wahrzeichen der Vergangenheit der Stadt (Orte, Denkmäler, Jubiläen, Feste u.a.) sind für Sie als Vertreter Ihrer Nationalität (als Litauer, Russe, Deutscher, Ukrainer u.a.) am wichtigsten?
Die Gemeinsamkeit sowohl des „Ännchens“ als auch einiger anderer Symbole nationaler Narrative für alle ethnischen Gruppen zeigt sich an den Nennungen der für die nationale Identität wichtigen symbolischen Wahrzeichen der Vergangenheit durch die Klaipėdaer (siehe Tafel 10). Nicht alle von den Bewohnern als für ihre nationale Identität wichtig bezeichneten Objekte (oder Veranstaltungen, die konkrete Narrative vergegenwärtigen) stellen die Vergangenheit dar, was auf die „Gegenwärtigkeit“ des kommunikativen Gedächtnisses verweist.
Die Bedeutung der erwähnten Objekte für die nationalen Gruppen lässt eine „Neutralisierung“ der nationalen Interpretationen sowie eine „Aneignung“ von Symbolen durch die Nationalitäten erkennbar werden: Unter den Objekten, die sowohl für die nationale Gruppe der Litauer als auch für die Gruppe der Russen wichtig sind, wurden neben dem „Ännchen“ auch solche Wahrzeichen der „deutschen“ Vergangenheit wie die Altstadt, der Ort der Memelburg, die Alte Post und der Stadtgeburtstag genannt (diese Erinnerungsorte „eignen“ sich insbesondere die Litauer „an“). Die „Meridianas“, ein Symbol des sowjetischen Alltags, ist für die Russen wichtiger, aber auch für die Litauer von Bedeutung. Ein aus der Sowjetzeit stammendes Wahrzeichen der „Stadt am Meer“ – das Fest des Meeres – ist gleichfalls für beide Gruppen von Interesse. In den populären Auffassungen zu den räumlichen Repräsentationen der Stadt Klaipėda wird fast überhaupt kein Unterschied zwischen dem Erbe der Litauer bzw. Lietuvininkai und der Deutschen gemacht – es wird insgesamt als „deutsch“ bezeichnet.
Daraus ergibt sich, dass die Kontexte des Narrativs der Stadt und seiner Praktiken im alltäglichen Leben gleichsam die nationalen Bedeutungen neutralisieren. Aber während in Vilnius auf der Grundlage des multikulturellen Narrativs die nationalen Interpretationen und Unterschiede infrage gestellt werden, ist dieses Narrativ, insbesondere der Aspekt der historischen Multikulturalität, in Klaipėda weniger bedeutsam – das zeigen auch die in Tafel 7 vorgelegten Daten: Das die nationale und religiöse Vielfalt widerspiegelnde Erbe ist für nur 22 Prozent der Klaipėdaer von Interesse, und das evangelisch-lutherische oder das jüdische Erbe für einen noch kleineren Teil der Bevölkerung. Anders als auf der Ebene der Genese von Gedächtnis- und Gedenkkultur, bei der, so Safronovas, die Konkurrenz der nationalen Narrative durch pragmatische Wirtschaftsinteressen eliminiert wird, werden sie in den durch das kommunikative Gedächtnis bedingten Interpretationen […] durch alltägliche gemeinsamen Praktiken eliminiert. […]
Tafel 11: Themen der Vergangenheit Klaipėdas, die Stolz hervorrufen (offene Fragestellung, Angaben in Prozent). Fragestellung: Worauf kann man Ihrer Meinung nach in der Geschichte von Klaipėda am meisten stolz sein?
Wie in den anderen Formen des sozialen Gedächtnisses manifestieren sich auch im kommunikativen Gedächtnis die gegenwärtigen Werte und Ziele von Gruppen. Aus diesem Grund wurden die Narrative über die Geschichte Klaipėdas anhand von Kriterien untersucht, die die Einschätzung dieser Werte verdeutlichen. Solche Kriterien sind Geschehnisse in der Vergangenheit, auf die die Menschen stolz sind (siehe Tafel 11).
Neben der „Stadt am Meer“ ist dabei die „deutsche“ Vergangenheit am wichtigsten (also die Altstadt und ihre Architektur), außerdem verfestigen sich im Gedächtnis der Menschen auch die Episode als provisorische preußische Hauptstadt sowie der Anschluss Klaipėdas an Litauen im Jahr 1923. Daneben zählen zu den Stolz hervorrufenden Aspekten das kleinlitauische Narrativ und der Gründungsmythos der Stadt.
Die Manifestation historischer Narrative im kommunikativen Gedächtnis der Klaipėdaer
Die Bedeutung der nationalen Narrative spiegelt sich in den Repräsentationen dieser Erzählungen in der Gedenkkultur, d.h. in der Bedeutung von Gedenk- und Feiertagen wider (siehe Tafel 12).
Tafel 12: Die Wichtigkeit von Feier- und Gedenktagen (Angaben in Prozent). Fragestellung: Bitte bewerten Sie, wie wichtig Ihnen persönlich folgende Feier- und Gedenktage sind. Bewertungen mit einer Skala von maximal sieben Punkten, wobei sieben bedeutet: „ein sehr wichtiger Feier- bzw. Gedenktag für mich“ und eins: „für mich ein vollkommen unwichtiger Feier- bzw. Gedenktag“.
In der Konkurrenz der Narrative im kommunikativen Gedächtnis siegt das Narrativ der Stadt – der Tag der Stadtgründung, dem möglicherweise durch ein anderes wichtiges Element der urbanen Identität noch zusätzliche Bedeutung verliehen wird: An diesem Tag wird auch das Fest des Meeres begangen. Unter den anderen überdurchschnittlich wichtigen (d.h. mit mehr als vier Punkten bewerteten) Feiertagen dominieren die litauischen Staatsfeiertage, also die grundlegenden Erscheinungsformen des litauischen Narrativs bzw. des Narrativs über Litauen. Außerdem ist für die Klaipėdaer der 15. Januar bedeutsam, der seit einigen Jahren begangene Tag des Anschlusses von Klaipėda an Litauen im Jahre 1923. Mit einigen Elementen des litauischen Narrativs konkurrieren sowjetische Erinnerungsorte, die von einer Kontinuität des sowjetischen Gedächtnisses zeugen. Die wichtigsten unter ihnen sind die ideologisch „neutralen“ Tage des 8. März und des 1. Mai. Der 9. Mai ist für die Klaipėdaer – im Unterschied zur Gesamtheit der litauischen Bevölkerung – wichtiger als der 8. Mai: Den 9. Mai bewerteten die Klaipėdaer mit durchschnittlich 4,0 Punkten und den 8. Mai mit 3,9 Punkten, während die litauische Bevölkerung insgesamt den 9. Mai mit 4,07 Punkten und den 8. Mai mit 4,19 Punkten bewertete. Abgesehen vom 15. Januar haben andere historische kleinlitauische Daten keine Bedeutung; auch die an die sowjetischen Verbrechen erinnernden Gedenktage sind kaum von Bedeutung, was – wie in anderen Städten – zeigt, dass das Gedenken an die Repressionen im urbanen Kontext nicht von vorrangiger Wichtigkeit ist.
Ein weiteres Kriterium zur Bedeutung, die die Klaipėdaer den Narrativen der Vergangenheit beimessen, bestand in der direkten Formulierung von Themen und Sujets solcher Narrative (siehe Tafel 13).
Tafel 13: Die Wichtigkeit der Klaipėdaer Vergangenheit bzw. Geschichte (Angaben in Prozent). Fragestellung: Welchen Aspekten der Klaipėdaer Vergangenheit bzw. Geschichte sollte in der Stadt mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden als es jetzt der Fall ist?
Die von den Klaipėdaern ausgewählten wichtigsten Aspekte und Narrative der Vergangenheit entsprechen größtenteils jenen Ansichten, die sich bereits in den Bewertungen der Feier- und Gedenktage sowie bei anderen Kriterien abgezeichnet haben. Unter den Vorstellungen über die Vergangenheit ihrer Stadt halten die Klaipėdaer die Erzählungen zur Stadtgeschichte für die wichtigsten (auf den ersten drei Rängen), die nationalen Narrative und deren Manifestationen hingegen für weniger bedeutsam. Es dominiert das Narrativ der „Stadt am Meer“, an zweiter Stelle rangieren der Gründungsmythos der Stadt und jene Aspekte der „deutschen“ Vergangenheit, die die Geschichte der räumlichen städtischen Objekte zusammenführen, sowie jene Themen der Alltagsgeschichte, die im kommunikativen Gedächtnis besonders wichtig sind. Von den nationalen Narrativen ist das an vierter Stelle rangierende Narrativ der kleinlitauischen Geschichte, ein national-litauisches Motiv, das wichtigste. Die das offizielle sowjetische Narrativ vergegenwärtigende Thema „Wiederaufbau von Klaipėda nach dem Zweiten Weltkrieg und Errungenschaften der Klaipėdaer in der Sowjetzeit“ wählten 11 Prozent der Bewohner, damit liegt es an der sechsten Stelle. Für weniger wichtig und auch weniger Aufmerksamkeit verdienend als die Aspekte der „deutschen“ Vergangenheit halten die Klaipėdaer Themen der Repressionen der Nachkriegszeit, der „Vertreibung“ der ehemaligen Einwohner der Region und des Kriegsgedenkens sowie auch das aus der Sowjetzeit stammende litauische Motiv des „Kampfes gegen die Kreuzritter“ und das Narrativ der litauischen Zwischenkriegszeit (jeweils 9 Prozent).
Die Geschichte Klaipėdas im 20. Jahrhundert ist durch Repressionen, Kriege und andere traumatische Ereignisse gekennzeichnet. Die Erinnerung an diese Erlebnisse und diese Vergangenheit ist auch mit widersprüchlichen und nicht selten konfliktreichen Interpretationen verbunden. Aber das Gedenken an Verbrechen und Kriege gehört nicht zu den wichtigen Visualisierungen auf der „Landkarte“ der Vergangenheit der Klaipėdaer (mit Ausnahme des Wahrzeichens zum Gedenken an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten der Roten Armee, das für die russische nationale Identität der Stadt bedeutsam ist). Die Symbole des jüdischen Gedächtnisses befinden sich an der Peripherie der Klaipėdaer Erinnerung (möglicherweise wegen der geringen Bedeutung der historischen Multikulturalität der Stadt in der populären Vorstellungswelt), wenig relevant sind auch die Erinnerungen an die Repressionen der Nachkriegszeit. Dies kann zum Teil auf das städtische Umfeld zurückgeführt werden – auch in den urbanen Narrativen von Vilnius und Kaunas sind die Wahrzeichen der Erinnerung an die Repressionen weniger bedeutsam als in den nationalen Narrativen. Außerdem ist es möglich, dass die Menschen Erinnerungen an diese Ereignisse wegen ihrer Komplexität verdrängen. Die Daten der qualitativen Untersuchung zeigen, dass sie dazu neigen, die komplizierte Verflechtung von „Schuld“, „Verantwortung“ und „Opfern“ zu lösen, indem sie das für die europäischen Gedächtnisdiskurse immer charakteristischer werdende Narrativ der „Opfer“ [i.S.v. „Leidtragender“] wählen, das eine „ethische Wende von sakrifiziellen zu viktimo-logischen Formen des Erinnerns“ ausdrückt. In diesen Interpretationen sind weniger die politisch heroisierenden Narrative von Bedeutung als vielmehr die Perspektive des Individuums, das traumatische Ereignisse erlebt hat. Die Menschen verstehen die Komplexität der ethischen Probleme von historischen traumatischen Ereignissen und tendieren dazu, politische Bewertungen und Gegenüberstellungen zu vermeiden und stattdessen alle Beteiligten als Opfer zu sehen. Das belegen die folgenden Aussagen einer Befragten:
„Die einen haben unter den Repressionen Stalins gelitten, andere vielleicht unter Hitlers Repressionen, und dann möglicherweise auch unter litauischen Repressionen, nach dem Anschluss an Groß-Litauen. Das Klaipėdaer Gebiet war ein Ort, an dem alle vorübergezogen sind, also musste man entweder dem einen oder dem anderen dienen und konnte nie wissen, von wessen Hand man sterben würde. [...] Wenn man im Klaipėdaer Gebiet ein Lietuvininkas war, dann hatte man Deutsche als Nachbarn, und dann kamen die Litauer und sagten, dass diese Nachbarn Feinde sind. Und ein paar Jahre später war ein Machtwechsel und die Deutschen sagten, dass dein neuer Nachbar ein Feind ist, dann kamen die Sowjets und sagten – dein Nachbar ist ein Feind, und weil du mit ihm gesprochen hast, bist du auch ein Feind – und letztlich haben alle gelitten. [...] Was mir gefällt, ist, dass dieses Denkmal für die Sowjetsoldaten mit sehr viel Toleranz behandelt wird, und auch, sagen wir, die Gräber von deutschen Soldaten. Unter den Städtern löst das von Zeit zu Zeit Diskussionen aus, aber in Wirklichkeit wird es sehr tolerant akzeptiert – es hat sowjetische Soldaten gegeben und es hat deutsche Soldaten gegeben. Es ist ein Teil der Geschichte, und die einen und die anderen haben das gleiche Recht auf Ehrerbietung. Das Denkmal für den 15. Januar wird von der jungen Generation zunehmend zu den sowjetischen Soldaten und den deutschen Soldaten... mit ihnen in eine Reihe gestellt“ (eine Deutsche, 35 Jahre).
Die Bedeutung historischer Narrative für ethnische und alterspezifische Gruppen
Die Unterschiede zwischen nationalen und anderen Narrativen über die Vergangenheit der Stadt sowie deren Wahrnehmung in den nationalen Gruppen spiegeln deren Beziehung zu den nationalen Identitäten wider. Auf Grundlage der Daten der quantitativen Untersuchung sollen Bedeutungsunterschiede zwischen Litauern und Russen vorgestellt werden.
Am stärksten unterscheidet sich die Bedeutung des kleinlitauischen und des offiziellen sowjetischen Narrativs. Folgende in den urbanen Räumen vorhandene Repräsentationen der Vergangenheit sind für die Litauer deutlich wichtiger: das Museum der Geschichte Kleinlitauens (ausgewählt von 26 Prozent der Litauer und 18 Prozent der Russen), der Johannishügel (Jono kalnelis) und der ehemalige Standort der Johanniskirche (26 Prozent der Litauer und 18 Prozent der Russen) sowie die Denkmale für Martynas Mažvydas, Vydūnas, Adomas Brakas und andere kleinlitauische Persönlichkeiten. Dagegen ist das Denkmal für die gefallenen Soldaten der Roten Armee („Das Schwert“) für die russische Minderheit von größerer Bedeutung: Es wurde von 31 Prozent der Russen, aber nur von 20 Prozent der Litauer gewählt. Noch deutlichere Unterschiede zeigen sich bei der Bewertung von mit Praktiken des Gedenkens verbundenen Narrativen – bei den Feier- und Gedenktagen. Für die Litauer waren die litauischen Staatsfeiertage wichtiger: der 16. Februar (die Litauer bewerteten seine Bedeutung mit 5,4 Punkten, die Russen mit 4 Punkten) und der 11. März (5,1 und 3,6 Punkte). Besonders große Unterschiede zeigten sich bei Vergegenwärtigungen, die in den jeweiligen Narrativen unterschiedlich oder möglicherweise gegensätzlich eingeschätzt werden: Den 23. August bewerteten die Litauer mit 4,4 Punkten und die Russen mit 3,4 Punkten. Gleichfalls unterschieden sich die Meinungen zum Gedenken an die traumatischen Ereignisse der Stalinzeit: Die Litauer hoben den Erinnerungsort des 14. Juni mit 4,2 Punkten deutlich hervor, während die Russen ihm nur 2,9 Punkte zubilligten.
Außerdem zeigten die Bewertungen der russischen Minderheit eine Kontinuität des sowjetischen Narrativs. Für Personen russischer Nationalität waren der 9. Mai, der dem Sujet der „Befreiung“ entspricht (5,6 Punkte, für die Litauer: 3,7) und der 8. März, ein Feiertag der Sowjetzeit, (5,6 Punkte, für die Litauer: 4,2 Punkte) von größerer Bedeutung, während sich bei der Einschätzung des 1. Mai eine geringere Differenz ergab (4,2 und 4 Punkte).
Bei der Bewertung von Themen und Sujets der „deutschen“ Vergangenheit und des urbanen Narrativs zeigten sich zwischen beiden Gruppen Ähnlichkeiten, während die größten Unterschiede bei den Bewertungen zum „Wiederaufbau der Stadt und Errungenschaften der Sowjetzeit“ (von 18 Prozent der Russen und 9 Prozent der Litauer ausgewählt) sowie der „Bedeutung aller Aspekte der Geschichte Klaipėdas“ (Litauer: 40 Prozent, Russen: 24 Prozent) zu verzeichnen waren.
Das kleinlitauische Narrativ ist für die litauischen Bewohner recht bedeutsam, jedoch sind nicht alle seine Repräsentationen von gleicher Wichtigkeit (beispielsweise ist „Arka“, „Der Bogen“, ein unbeliebtes Symbol). Auch haben die Litauer Sehnsucht nach dem „unpolitischen“ Alltag der Sowjetzeit – das zeigt die Bedeutung der „Meridianas“ und von anderen unpolitischen Symbolen und Objekten des Alltags der Sowjetzeit in ihren Vorstellungen von der Vergangenheit der Stadt.
Das heißt, dass im kommunikativen Gedächtnis Klaipėdas […] Narrative koexistieren, die in Bezug auf ihre Werte und Ideologien gegensätzliche Wege der Erinnerung repräsentieren. Im kommunikativen Gedächtnis der Klaipėdaer Russen haben sich Bestandteile des offiziellen sowjetischen Diskurses erhalten, die dem dominierenden postsowjetischen litauischen Diskurs widersprechen und dennoch offensichtlich mit den antisowjetischen Aspekten des litauischen Narrativs vereinbar sind. Dennoch gibt es Bemühungen, die offenkundigsten Widersprüche des offiziellen sowjetischen und des dominierenden postsowjetischen Narrativs zu mildern. Das geschieht durch Vermeidung politischer Aspekte und von Fragen, die in den beiden Narrativen unterschiedlich beantwortet werden, aber auch durch Kritik an kategorisch negativen Einschätzungen der stalinistischen Taten, wie in folgendem Beispiel illustriert:
„Wir wissen nicht, warum und wie die Deportationen nach Sibirien erfolgt sind. Jeder schreibt es auf seine eigene Weise, da läßt sich keine Wahrheit finden, und jeder Mensch hat eine eigene Meinung, je nachdem, wohin es wen in der Verbannung verschlagen hat. Mein Vater ist, wie man so sagt, ein Verbannter. Mein Vater ist sehr glücklich darüber, dass er nach Sibirien gefahren ist. Seine Schwestern sind reine Litauerinnen und wollten nicht zurückkehren“ (ein Russe, 37 Jahre).
Die Interpretationen der Daten der quantitativen Untersuchung lassen sich durch die Angaben der qualitativen Untersuchung präzisieren. Die Erinnerung an die Sowjetzeit, insbesondere an unpolitische Symbole, scheint für das kommunikative Gedächtnis der Klaipėdaer Russen und ihre nationale Identität sehr wichtig zu sein. Anders als in Kaunas und Vilnius, wo die russische Minderheit zu einem nicht geringen Teil ihre Identität auf die russische Kulturgeschichte Litauens gründet, ist für die Identität der Klaipėdaer Russen die Sowjetzeit am wichtigsten, doch sind in ihr nicht nur Zeichen des offiziellen politischen sowjetischen Narrativs von Bedeutung, sondern auch die Erinnerung an den sowjetischen Alltag. Außerdem ist, wie bereits erwähnt, für die Klaipėdaer Russen charakteristisch, dass für sie die lokale urbane Identität von größerer Bedeutung ist als für die anderen Gruppen. Sie identifizieren sich nicht nur nicht mit anderen Gebieten in Litauen, sondern auch nicht mit den Symbolen des gegenwärtigen russischen Narrativs: Beispielsweise bewerteten sie den 4. November, den Tag der Einheit Russlands, nur mit 2,2 Punkten. Ein Teil der Befragten definierte seine Identität als „Klaipėdaer Russe“ und interpretierte die eigenen „Besonderheit“ wie folgt:
„Die Mentalität ist eine ganz andere. Dieses riesige Russland hat unrecht, aber es ist trotzdem Russland. Die Mentalität ist in Russland noch nicht dieselbe wie bei uns, dort herrscht nicht dieselbe Ordnung wie bei uns. Die lettischen Russen sind anders, sie haben schon immer mehr den Letten geähnelt. In Klaipėda wird der Mensch nicht unterdrückt. Du kannst praktisch jede beliebige Sprache sprechen“ (ein Russe, 35 Jahre).
Die Kontinuität der Erinnerung an die Sowjetzeit trotz des Bruchs in der Erinnerungskultur und der Ablehnung einer neuen Erinnerungskultur in Verbindung mit dem Bemühen um Wahrung der Kontinuität von individueller und nationaler Identität zeigt sich auch in der Bewertung räumlicher Symbole, wie in den folgenden Beispielen:
„Der Platz der Wiedergeburt ist durch den Verlust des Lenindenkmals nicht mehr der Platz der Wiedergeburt, er hat seine Schönheit verloren. Mit dem Mažvydas-Denkmal ist es dasselbe – für uns symbolisiert es gar nichts. Als dort noch unser Geschütz stand, das sowjetische, da war es noch etwas. Andere Symbole von Klaipėda sind praktisch die ganze deutsche Architektur“ (ein Russe, 37 Jahre).
Die starke Identifikation mit dem Narrativ der Sowjetzeit und das Beharren auf Kontinuität des autobiografischen Gedächtnisses und der persönlichen Identität behindern auch im nächsten Fall die Annahme des neuen kleinlitauischen Narrativs: „Die Sowjetzeit ist ein Teil meines Lebens, damals habe ich meine Ausbildung bekommen, mit meinen Händen wurde hier vieles erbaut. Ich bin in dem Museum in der Liepų Straße [Museum der Geschichte Kleinlitauens] gewesen. Ich werde dort nie mehr hingehen. Ich lebe mit meiner eigenen Vergangenheit. Ich sammele auch Ansichtskarten des alten Klaipėda“ (eine Russin, 84 Jahre).
Die Kontinuität des kommunikativen Gedächtnisses der Sowjetzeit wird, wie in anderen Städten auch, zu einem nicht geringen Teil durch das Familiengedächtnis gewahrt. Außerdem scheint in Klaipėda das autobiografische Gedächtnis sehr wichtig zu sein, das von einer Nostalgie nach dem „unpolitischen“ Alltag der Sowjetzeit geprägt ist. Die Erzählungen einiger älterer Menschen sind so stark vom autobiografischen Gedächtnis und von Emotionen geprägt, dass sie individualisierte Geschichten der Stadt erzählen, in denen sich kollektive mit autobiografischen Deutungen verflechten. Die folgende Passage kann als „typisch“ angesehen werden:
„Ich sitze gern auf dem kleinen Platz gegenüber der ‚Meridianas‘. Ich erinnere mich noch daran, wie die Kursanten immer auf ihr in See gestochen sind, unter ihnen war auch mein Liebster. Wenn mich große Traurigkeit ergreift, dann gehe ich zu unserem Obelisken. Dort finde ich den einzigen Familiennamen einer Frau und lege ihr meinen Blumenstrauß nieder“(eine Russin, 84 Jahre).
Starke Gefühle der Nostalgie rufen nicht nur symbolische, sondern auch nicht-symbolische Objekte im urbanen Raum hervor, die mit dem autobiografischen Gedächtnis verknüpft sind. Im folgenden wird ein Fall zitiert, in dem Trauer über den Abriss der Pilot-Reparaturwerft, die am früheren Standort der Memelburg errichtet worden war und auf die viele Klaipėdaer stolz sind, geäußert wird:
„Meine Heimat, die Pilot-Reparaturwerft. Ich habe sie aufgebaut, errichtet, und jetzt weine ich, es gibt sie nicht mehr. Wir haben geweint, als unser wunderbarer Hügel abgetragen wurde, später wurde dort die Burg gefunden“ (eine Russin, 84 Jahre).
Die Veränderungen der Räume der Stadt und ihrer symbolischen Bedeutungen zerstören auch die Identitäten von Individuen und Gruppen, was mit schmerzhaften emotionalen Erfahrungen verbunden ist. Diese Gefühle bestätigen erneut, dass „das, was es nicht mehr gibt, die Erinnerungen stärker prägen kann als das, was wieder aufgebaut oder rekonstruiert wurde.“
Es gibt im kommunikativen Gedächtnis der Klaipėdaer [...] auch Erscheinungen einer Kontinuität des oppositionellen Gedächtnisses der Sowjetzeit. Sie zeigen sich an der symbolischen Bedeutung der zerstörten Johanniskirche: „Sie ist ein einzigartiges kleines Symbol jener Hoffnung, die sich über diesen gesamten Zeitraum gehalten hat. Das Johannishügelchen ist eher ein Symbol für die alte Freiheit der Religionen, die es insbesondere im Klaipėdaer Gebiet gegeben hat und nicht in Groß-Litauen. Doch die Idee selbst, dass dort eine Kirche gestanden hat, dass man sie wieder aufbauen möchte, sie hat die ganze Zeit existiert, selbst dann noch, als die Ruinen beseitigt worden waren. Sie hat nicht nur auf Fotografien existiert, sondern der Wunsch, sie wieder aufzubauen ist über alle fünfzig Jahre Sowjetzeit geblieben, selbst wenn es diese Kirche nicht gab. Nicht nur bei den evangelischen Lutheranern, sondern auch bei anderen Menschen, weil das Bestreben, diese Kirche wieder aufzubauen, wie die Gläubigen anderer Konfessionen sagen, für alle wichtig war in der Sowjetzeit, als alle Religionen verboten und unterdrückt waren, dass es Menschen gab, die bemüht waren, diese Hoffnung aufrecht zu erhalten“(eine Deutsche, 35 Jahre).
Die Inszenierungen des Gedenkens am 9. Mai sind ein wichtiges Ritual besonders für die russische Minderheit, seine Bedeutung wird von Menschen russischer Nationalität unterschiedlicher Generationen nicht in Frage gestellt. Sowohl das Gedenken als auch das Denkmal sind auch für einen Teil der Litauer bedeutsam (wie erwähnt, wurde „Das Schwert“ als wichtiges Denkmal der Stadt von 31 Prozent der Russen und 20 Prozent der Litauer genannt). Die Wichtigkeit verdeutlichen folgende Zitate:
„An den Feiern zum 9. Mai nehme ich immer teil. Ungeachtet der politischen Intrigen des Krieges und der heutigen Diskussionen über dieses Thema symbolisiert das Ende dieses Krieges für mich das Ende des Faschismus und von Millionen Opfern, einfachen Menschen, die ihr Leben nicht geschont und nur ein Anliegen gehabt haben – mir ein friedliches Leben zu ermöglichen“ (eine Russin, 37 Jahre).
„Wir sind es jenen schuldig, die dort liegen, damit wir leben“ (eine Russin, 84 Jahre).
Nostalgie wird auch für das Klaipėda der Vorkriegszeit empfunden, aber sie gründet sich, wie im Falle der Nostalgie für die Zwischenkriegszeit in Kaunas oder Vilnius, auf das Familiengedächtnis, auf Erinnerungen und Bilder von Fotos oder Postkarten und anderes vermittelndes Material, auf Informationen und Fantasien, aber nur selten auf autobiografische Erinnerungen. Vorstellungen von der Vergangenheit können auch durch Relikte der autobiografischen Vergangenheit eine Bedeutung erlangen, wie im folgenden Fall durch die Erinnerung an Ruinen:
„Ich würde gern die Johanniskirche zurückholen, 1946 haben hier wunderbare Ruinen gestanden, ich habe mir immer vorgestellt, welche Menschen dort spazieren gegangen sind. Ich wünsche mir, dass diese Kirche wieder aufgebaut wird“ (eine Russin, 84 Jahre).
Das in der populären Vorstellung dominierende „imaginierte Klaipėda“, also das Bild der Klaipėdaer von der Vergangenheit ihrer Stadt (die populäre nostalgische „Landkarte“) spiegelt sich in den Nennungen der von ihnen vermißten, fehlenden Objekte der Vergangenheit ihrer Stadt wider (siehe Tafel 14). Diese Umfrage vermittelt auch Informationen über die Vergangenheit der Stadt, die sowohl im kommunikativen Gedächtnis durch Familienerinnerungen, Fotografien, Erinnerungen sowie nostalgischen Darstellungen übermittelt werden, als auch durch historische Objekte der Stadt, die durch die Erzählungen der Gedächtniskultur Bedeutung erhalten und die Vorstellungskraft wecken.
Tafel 14: Verlorene Symbole des alten Klaipėda (offene Fragestellung, Angaben in Prozent). Fragestellung: Was vermissen Sie am meisten in der Stadt von dem, was Sie über das alte Klaipėda in Erinnerung haben oder sich vorstellen (durch Fotografien, Bücher, Erzählungen u.a.) und was es nicht mehr gibt?
Das Bild des von den Klaipėdaern „imaginierten vergangenen Klaipėda“, nach dem sie sich sehnen, wird am stärksten durch Bilder der „deutschen“ Vergangenheit strukturiert, daneben durch den Gründungsmythos der Stadt und die nostalgische Erinnerung an den sowjetischen Alltag und die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Vermißt werden vor allem Objekte, die sich in Vorstellungen zum Alltag in der Stadt widerspiegeln – Straßenbahn, Brunnen usw.
Das Bild der Stadt als Sehnsuchtsobjekt ergänzen Meinungen der Klaipėdaer über die Bedeutung der hinterlassenen historischen Monumente – über Objekte, die vorrangig geschützt oder wiederhergestellt werden sollten (siehe Tafel 15).
Tafel 15: Zu bewahrende Objekte aus Vergangenheit und Gegenwart Klaipėdas (Angaben in Prozent). Fragestellung: Welchen Hinterlassenschaften der Vergangenheit (und Objekten der Gegenwart) sollte in Klaipėda bei dem Schutz oder/und der Wiederherstellung mehr Aufmerksamkeit zukommen als bisher?
Unter den zu schützenden Objekten der Vergangenheit ist, wie im Fall der „imaginierten Vergangenheit“, die Memelburg das wichtigste. Gleichfalls bedeutsam sind die unweit der Stadt gelegenen Denkmäler der Frühgeschichte sowie Objekte, die an den Horizont des kommunikativen Gedächtnisses, d.h. die Sowjetzeit und die Zwischenkriegszeit, heranreichen. Unter den in der Abbildung nicht erwähnten Objekten sind die von 14 Prozent [der Befragten] genannten Wahrzeichen der Wiederherstellung der Unabhängigkeit [Litauens 1990], die von 12 Prozent gewünschte Wiedererrichtung des „Borussia“-Denkmals und die von jeweils 11 Prozent als wichtig bezeichnete Bewahrung von Kriegsgräbern verschiedener Kriege und Armeen sowie der Hochhausarchitektur der jüngsten Zeit.
Der Wiederaufbau der Memelburg an ihrem ursprünglichen Standort wurde häufiger von Männern im Alter zwischen 46 und 55 Jahren, von Personen mit akademischer Bildung und sehr hohem Einkommen sowie von Litauern genannt. Die frühzeitlichen Siedlungen und Wallburgen wurden öfter von Frauen genannt sowie von Personen mit Hochschulbildung und litauischer Nationalität, die Objekte der Sowjetzeit von Männern, Menschen mit niedrigstem Bildungsgrad, sehr niedrigem Einkommen (unter 1000 Litas) sowie russischer Ethnizität, und die Festungsanlagen von Männern, von Personen mit akademischer Bildung, mit hohem Einkommen und von Litauern.
Die Unterschiede der Einschätzung der Klaipėdaer Vergangenheit zwischen den verschiedenen Altersgruppen sind wenig ausgeprägt, was die Wichtigkeit des autobiografischen und familiären Gedächtnisses für das kommunikative Gedächtnis bestätigt. Aber es gibt in mancher Hinsicht durchaus Unterschiede zwischen den Generationen. Das Narrativ „der Stadt am Meer“ ist für ältere Menschen von größerer Bedeutung (von 51 Prozent der 18- bis 25-jährigen Klaipėdaer genannt, aber von 60 Prozent der über 56-Jährigen). Außerdem sind für die Älteren die „deutschen“ Epochen wichtiger – die Zeit der Memelburg und des Ordens, der provisorischen preußischen Hauptstadt usw. Dagegen ist das kleinlitauische Narrativ für die jüngeren Klaipėdaer wichtiger (von den 26- bis 30-Jährigen nannten es 21 Prozent, von den über 56-Jährigen 15 Prozent). Die Relevanz scheint also nicht so sehr mit den Erinnerungen der Lietuvininkai verbunden als vielmehr mit seinen Manifestationen in den Gedächtnis- und Gedenkpraktiken der Stadt. Die Einschätzung des 15. Januar unterscheidet sich dagegen kaum in den verschiedenen Altersgruppen: Die 18- bis 25-Jährigen bewerteten ihn mit 4,1 Punkten, die Befragten, die 36 Jahre und älter waren, mit 4,4 Punkten. Der 1. August, der Gründungstag der Stadt, war für die Älteren wichtiger: Die Klaipėdaer, die 56 Jahre und älter waren, bewerteten ihn mit 5,5 Punkten, die 18- bis 25-Jährigen mit 4,7 Punkten.
Die deutlichsten Bewertungsunterschiede beziehen sich auf die Sowjetzeit, die von einer Kontinuität der Erinnerungen an diesen Zeitraum im autobiografischen und im familiären Gedächtnis sowie in der direkten Kommunikation zeugen. Aber nicht wenige im gegenwärtigen Leben der Stadt präsente Objekte, wie beispielsweise die „Meridianas“ und herausragende Objekte der Architektur der Sowjetzeit, werden von allen Altersgruppen übereinstimmend bewertet. Die Feier- und Gedenktage, die das Narrativ der Sowjetzeit oder sowjetische Traditionen repräsentieren, sind für ältere Menschen wichtiger: Die Bedeutung des 1. Mai bewerteten die 18- bis 25-Jährigen mit 3,5 Punkten, Klaipėdaer von 46 Jahren und älter mit 4,1 Punkten; den 9. Mai bewerteten 18- bis 35-jährige mit 3,4 Punkten, dagegen Personen von 56 Jahren und älter mit 4,5 Punkten; der 8. März ist gleichfalls für ältere Menschen wichtiger. Auch die Erinnerung an die Repressionen der Nachkriegszeit ist für die Älteren von größerer Bedeutung (von Personen, die 56 Jahre und älter waren, war sie für 14 Prozent wichtig, während sie von nur 7 Prozent der 18- bis 25-Jährigen genannt wurde).
Zudem ist die Bewahrung bzw. Restauration einiger älterer, aber an den Zeithorizont des kommunikativen Gedächtnisses grenzender Objekte für ältere Klaipėdaer wichtiger, was deren Bedeutung als Verbindung zu Erinnerungen, zum familiären Gedächtnis und Nostalgie zeigt. Für die Älteren ist ebenfalls die Bewahrung bzw. Wiederaufbau der alten, in der Nachkriegszeit zerstörten Friedhöfe wichtiger: Sie ist für 26 Prozent der Menschen von 56 Jahren und darüber bedeutsam, doch nur für 16 Prozent der 18- bis 35-Jährigen. Den Wiederaufbau der Johanniskirche halten 34 Prozent der Klaipėdaer ab 56 Jahren für wichtig und nur 23 Prozent der 18- bis 25-Jährigen. Der Wiedererrichtung des Borussia-Denkmals würden 16 Prozent der Menschen ab 56 zustimmen, aber nur 8 Prozent der 18- bis 35-Jährigen.
Dagegen stimmen einem Wiederaufbau der Memelburg, der Börse und anderer Gebäude auf dem Platz der Unabhängigkeit Menschen aus allen Altersgruppen zu. Die Jüngeren bewerten die neue Architektur (die Hochhäuser auf dem Platz der Unabhängigkeit u.ä.) positiver als die Älteren – für bewahrenswert halten sie 17 Prozent der 18- bis 35-Jährigen Klaipėdaer und 8 Prozent der Menschen ab 46 Jahren.
Also sind für junge Menschen in Klaipėda wie in anderen Städten auch die Vergangenheit und die Geschichte weniger wichtig und die Architektur der Gegenwart sowie die Funktion heutiger Objekte im urbanen Alltag von etwas größerer Bedeutung. Jedoch sind die Unterschiede nicht sehr groß, und ein nicht geringer Teil der Erscheinungsformen der städtischen Vergangenheit wird von Menschen aller Altersgruppen gleich bewertet.
Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass die „Landkarten“ der Vergangenheit Klaipėdas, die die populäre Vorstellung seiner Einwohner dominieren, zwar von ideologischen Diskursen der Vergangenheit beeinflusst werden, mit ihnen aber nicht identisch sind. Der dynamische Prozess des kommunikativen Erinnerns der Klaipėdaer wird auch im Rahmen sozialer Gruppen geprägt – sowohl innerhalb der Familien und des sozialen Umfeldes als auch im Rahmen des individuellen Gedächtnisses und der Identität. Weitere Faktoren stellen der Umfang der materiellen und nicht-materiallen Repräsentationen der Vergangenheit und die Kontinuität der Gedächtniskultur dar.
Aus dem Litauischen übersetzt von Claudia Sinnig, Berlin