Der historische Weg der nationalen Bewegung der Russlanddeutschen seit dem Krieg. Allgemeine Analyse
[Der historische Weg der nationalen Bewegung der Russlanddeutschen seit dem Krieg: Allgemeine Analyse], in: Rossijskie nemcy: 50 let poslevoennomu obščestvennomu dviženiju. Ot pervych delegacij v pravitel’stvo čerez „Vozroždenie“ k sovremennoj sisteme Samoorganizacii (1964–2014 gg.) [Die Russlanddeutschen: 50 Jahre Gesellschaftliche Bewegung in der Nachkriegszeit. Von den ersten Delegationen zur Regierung über die „Wiedergeburt“ zum heutigen System der Selbstorganisation (1964–2014)], Moskau 2015, S. 17-38.
Arkadij German leitet seine Arbeit mit einer allgemeinen Darstellung der Geschichte der Russlanddeutschen in den Nachkriegsjahren ein, wobei er auf die kolossalen Veränderungen verweist, denen die unterschiedlichen regionalen, konfessionellen und sozialen Gruppen der Russlanddeutschen ausgesetzt waren. Einerseits rissen die Machthaber durch ihr Tun die Barrieren ein, die zuvor zwischen den Russlanddeutschen bestanden hatten, und provozierten dadurch überhaupt erst die Ausformung einer gemeinsamen ethnischen Identität. Gerade nach dem Krieg begannen die Russlanddeutschen, die alle unter der staatlichen Diskriminierung litten, sich als ein einheitliches Volk wahrzunehmen. Andererseits verstärkten sich die Assimilationsprozesse angesichts der neuen Siedlungsmöglichkeiten. In vielerlei Hinsicht begünstigten auch die ethnisch gemischten Ehen der deutschen „Arbeitsarmisten“ diesen Prozess.
Wir bedanken uns für die freundliche Abdruckgenehmigung des Beitrages bei dem Verfasser Arkadij A. German sowie bei dem Verlag Gotika, Moskau.
Einleitende Bemerkungen
Die Historiografie zu den Russlanddeutschen ist beeindruckend. Nicht nur in Russland und Deutschland, sondern auch in einer Reihe anderer Länder, insbesondere in den Nachfolgestaaten der UdSSR (Ukraine, Kasachstan u.a.) konzentriert sich die Forschung zur Geschichte der Deutschen im Russischen Reich und in der Sowjetunion vor allem auf die Jahre 1917 bis 1955. Dagegen ist die Zeit nach 1955, als die Deutschen zwar einerseits von ihrem Status in den Sondersiedlungen im Sowjetstaat befreit waren, ihre Diskriminierung als nationale Minderheit aber andererseits immer noch fortbestand, weit weniger erforscht. In der heutigen Russischen Föderation gilt das Gleiche – auch heute, 25 Jahre nach Staatsgründung. Zurückzuführen ist dies nicht zuletzt auf die Schwierigkeiten, Zugang zu den Quellen zu bekommen. Viele wertvolle Dokumente zur Nachkriegsgeschichte der deutschen Minderheit in der Sowjetunion und in Russland haben bis zum heutigen Tag keinen Platz in den Archiven gefunden; die archivierten Bestände sind über unterschiedliche Aktenbestände verstreut.
Die bekannteste Historikerin ist Tat‘jana Ilarionova, deren Forschungsschwerpunkt das gesellschaftlich-politische Leben der Russlanddeutschen ist; allerdings beschränkt sich ihre Arbeit weitgehend auf die Zeit bis Mitte der 1990er Jahre. Zu beachten sind auch die Arbeiten Alfred Eisfelds zur Entstehung der russlanddeutschen gesellschaftlichen Bewegung zur Zeit der Perestrojka. Die Arbeiten Viktor Diesendorfs, Hugo Wormsbechers und einiger anderer früherer Aktivisten der nationalen Bewegung der Russlanddeutschen sind dagegen eher als Quellen anzusehen, da sie stark subjektiv gefärbt sind und vor allem das Ansinnen der Autoren spiegeln, die eigenen Verdienste für die Bewegung in den Vordergrund zu stellen.
Dabei ist die Zeit längst reif, die gesellschaftliche Bewegung der Russlanddeutschen in der Nachkriegszeit und darüber hinaus in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit objektiv und parteilos zu erforschen, zumal sich die historisch Beteiligten bis zum heutigen Tag einen erbitterten Kampf um Deutungshoheit liefern. Die Köpfe der verschiedenen Strömungen und Gruppen hatten unterschiedliche Vorstellungen von den Zielen und Aufgaben, fanden in der Regel keine gemeinsame Sprache und verwandten einen Großteil ihrer Energie weniger darauf, sich für die Interessen der Russlanddeutschen einzusetzen, als sich vielmehr in einem endlosen Kampf untereinander aufzureiben. Vor diesem Hintergrund war die allgemeine Darstellung der gesellschaftlichen Bewegung der Russlanddeutschen eine höchst schwierige, kaum zu entflechtende und vom Standpunkt der Forscher auch durchaus heikle Aufgabe, da die meisten der einander bekämpfenden Stimmen ihre Polemik im Internet im gleichen Geist und mit gleicher Intensität noch heute fortsetzen.
In dem hier vorzustellenden Artikel unternahm der bekannte Spezialist für die Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert und Autor des Standardwerks über die deutsche Autonomie an der Wolga, Arkadij A. German, erstmals den Versuch einer umfassenden analytischen Darstellung der Geschichte der nationalen Bewegung der Russlanddeutschen seit dem Krieg.
Dabei ist sich der Autor der Problematik der von ihm untersuchten Fragen bewusst und räumt selbst ein, dass einige seiner Schlüsse Anlass zur Diskussion böten; unabhängig von der Interpretationsfähigkeit seiner Forschung besteht Germans Verdienst darin, die Diskussion auf ein wissenschaftliches Fundament gestellt zu haben.
German leitet seine Arbeit mit einer allgemeinen Darstellung der Geschichte der Russlanddeutschen in den Nachkriegsjahren ein, wobei er auf die kolossalen Veränderungen verweist, denen die unterschiedlichen regionalen, konfessionellen, sozialen und sonstigen Gruppen der Russlanddeutschen ausgesetzt waren. Einerseits rissen die Machthaber durch ihr Tun die Barrieren ein, die zuvor zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Russlanddeutschen bestanden hatten, und provozierten dadurch überhaupt erst die Ausformung einer gemeinsamen ethnischen Identität. Gerade nach dem Krieg begannen die Russlanddeutschen, die alle unter der staatlichen Diskriminierung litten, sich als ein einheitliches Volk wahrzunehmen. Andererseits verstärkten sich die Assimilationsprozesse angesichts der neuen Siedlungsmöglichkeiten. In vielerlei Hinsicht begünstigten auch die ethnisch gemischten Ehen der deutschen „Arbeitsarmisten“ diesen Prozess.
Der Autor unterteilt die Entwicklung der nationalen gesellschaftlichen Bewegung der Sowjet- bzw. Russlanddeutschen in sieben Etappen und zeigt die Besonderheiten und Ergebnisse jeder dieser Etappen auf. Die Bewegung entstand im Kampf um die Abschaffung des Sondersiedlungsregimes und bekam einen starken Impuls durch die Veröffentlichung des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 29. August 1964, in dem die gegenüber den Deutschen erhobene Anschuldigung des Landesverrats für unbegründet erklärt wurde und mit dem der entsprechende Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 aufgehoben wurde. Als letzte, bis heute anhaltende Phase der gesellschaftlichen Bewegung nennt German schließlich die Zeit seit 2009, als auf allen Ebenen ein System der Selbstorganisation der Russlanddeutschen gegründet wurde.
Von besonderem Interesse ist der Blick des Autors auf die Emigrationsbewegung der Russlanddeutschen, die seines Erachtens von ihren Anfängen bis heute eine spezifische Form des Kampfes der russlanddeutschen Bevölkerung für die Bewahrung ihrer nationalen Identität und eine Alternative zum Kampf gegen die Diskriminierung zunächst in der UdSSR und dann in Russland darstellte bzw. noch heute darstellt. Die Emigration kanalisierte die Protestaktivität der Minderheit und erschwerte so in gewissem Maße den Aufbau einer nationalen Bewegung, die einer Rehabilitierung hätte dienen können.
An dieser Stelle können nur einige wenige der von German gestellten Fragen angesprochen werden. Um die Gesamtheit der in diesem Aufsatz behandelten Gedanken und Thesen zu erfassen, sei auf den Autor und seine Publikationen verwiesen: Germans Beitrag erschien erstmals auf Russisch in dem Sammelband „Rossijskie nemcy: 50 let poslevoennomu obščestvennomu dviženiju“ (Moskau 2015). Germans wissenschaftliche Interessengebiete umfassen soziopolitische Geschichte und Kriegsgeschichte, Nationalitätenpolitik Russlands (UdSSR) im 20. Jahrhundert sowie Macht und Gesellschaft in der Kriegszeit. Arkadij German ist Professor am Lehrstuhl für Russische Geschichte und Historiografie an der Staatlichen Universität Saratov. Er hat über 200 wissenschaftliche Arbeiten verfasst, darunter viele Monografien zur Wolgarepublik und zu den Deportationen. Er ist nicht nur Co-Autor des wissenschaftlich-methodischen Sammelbands zur russlanddeutschen Geschichte, sondern auch Vorsitzender der Internationalen Assoziation der Forscher der russlanddeutschen Geschichte und Kultur, Mitglied des Redaktionsteams des „Jahrbuchs der internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen“ und Leiter des Zentrums zur Erforschung russlanddeutscher Geschichte und Kultur in Saratov.
Der historische Weg der nationalen Bewegung der Russlanddeutschen seit dem Krieg:
Allgemeine Analyse
Im kürzlich vergangenen Jahr 2014 jährten sich gleich mehrere wichtige Ereignisse der russlanddeutschen Nachkriegsgeschichte bzw. der Geschichte ihrer gesellschaftlichen Bewegung. Auch wenn zwischen den bedeutsamen Daten, von denen die Rede sein soll, Jahre oder gar Jahrzehnte liegen, markieren sie doch alle verschiedene Entwicklungsstufen der gesellschaftlichen Bewegung der Russlanddeutschen in Opposition zu der repressiven Politik des Staates, für die Wiedererlangung ihrer elementaren bürgerlichen Rechte bzw. ihrer nationalen Minderheitenrechte sowie für die Wiederherstellung des Status quo, wie er vor Ausbruch des Krieges bestanden hatte.
Am 29. August 1964 erschien der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, der die Deutschen von der im Erlass vom 28. August 1941 enthaltenen absurd formulierten Anschuldigung der Beihilfe zur Hitlerschen Aggression freisprach, auf deren Grundlage die gesamte deutsche Bevölkerung in die östlichen Regionen des Landes deportiert worden war. Im März 1989 wurde die Allunionsgesellschaft für Politik, Kultur und Bildung „Vozroždenie“ [Wiedergeburt; V. D.] gegründet, mit ihr wurde eine Periode des aktiven gesellschaftlich-politischen Kampfes für die Rehabilitierung eingeläutet. Im Frühjahr 2009 wurde schließlich ein zeitgemäßes System der Selbstorganisation der Russlanddeutschen angelegt. Diese Häufung von Jubiläen ließ die Idee entstehen, die Entwicklung der gesellschaftlichen Bewegung der Russlanddeutschen mit dem Wissen von heute und unter Berücksichtigung der heute bekannten vergangenen Ereignisse zu analysieren und mit aller gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung zu versuchen, die zum Teil höchst stürmischen Ereignisse in den historischen Kontext einzuordnen.
Bekanntlich lebte die überwältigende Mehrheit der Russlanddeutschen vor dem Krieg im europäischen Teil der UdSSR, wo es im Wolgagebiet, im Schwarzmeergebiet, in Bessarabien, im Transkaukasus und in der Gegend um Leningrad kompakte deutsche Siedlungsgebiete gab. Die Wolgadeutschen hatten vor dem Krieg sogar ihre eigene autonome Staatlichkeit – die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) der Wolgadeutschen.
Krieg und Deportation, die die kompakte Siedlung der Deutschen zerstörten und diese über ein riesiges Territorium Sibiriens, Kasachstans und Mittelasiens zerstreuten, der in den Kriegsjahren gezielt geschürte Hass auf die deutschen Aggressoren (der natürlich auch auf die „eigenen“ Deutschen zurückfiel), die durch unmenschliche Arbeit und eine hohe Sterberate geprägten Jahre in der „Arbeitsarmee“ und das Leben in den Sondersiedlungen – all das stellte einen radikalen Bruch der historisch gewachsenen Lebensweise der deutschen Bevölkerung dar. In seiner Folge endete der Prozess der natürlichen Entwicklung; die Unterschiede der territorialen, sozialen und religiösen Gruppen der Deutschen wurden aufgelöst.
Der Gerechtigkeit halber ist anzumerken, dass der Prozess der Zerstörung der Russlanddeutschen als Volksgruppe schon in den Jahrzehnten vor 1941 eingesetzt hatte. Einen ersten Wendepunkt in den Beziehungen zu den Russlanddeutschen hatte bereits der Erste Weltkrieg markiert. In der Zeit der Revolution kam es zu gravierenden Veränderungen der deutschen Bevölkerungsstruktur: Die Bourgeoisie wurde zerschlagen, im Dorf wurde das Landeigentum verstaatlicht, das Dorf wurde durch Getreidebeschlagnahmungen in den Ruin getrieben. Erhebliche Verluste erlitten die Deutschen infolge der zwei großen Hungersnöte Anfang der 1920er und Anfang der 1930er Jahre und durch die Massenrepressionen des „Großen Terrors“. Seit Ende der 1920er Jahre verloren die Deutschen im Zuge der Kollektivierung ihren Ackerboden und sonstigen Besitz. Sie fanden sich in den Kolchosen wieder. Das alte deutsche Schulsystem wurde ebenso zerstört wie das religiöse Leben und die damit verbundene Volkskultur. Gleichzeitig wuchs in den 25 Jahren unter der Sowjetmacht eine neue Generation heran, die das althergebrachte Leben nicht mehr kannte und der Sowjetmacht und den bolschewistischen Ideen gegenüber loyal und oft auch fanatisch ergeben war. Der in diesen Jahren zu verzeichnende Bruch zwischen „Vätern“ und „Söhnen“ trat auch in der „Arbeitsarmee“ deutlich zutage.
Aber ungeachtet all dieser Veränderungen konnten die Deutschen dank kompakter Siedlungsweise und der Möglichkeit der muttersprachlichen Kommunikation ihre nationale Identität bewahren. Erst die Ereignisse von 1941 zerstörten die historischen Wurzeln der Volksgruppe endgültig.
Heute sprechen viele Historiker davon, dass noch während des Krieges zwei einander entgegengesetzte Prozesse eingeläutet wurden.
Auf der einen Seite entwickelten die Deutschen infolge der Vermischung aller deutschstämmiger Bevölkerungsteile eine gemeinsame Identität. Gerade in den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren begannen die Deutschen, sich als einheitliches Volk zu fühlen. Alte Stereotype wurden überwunden, Barrieren eingerissen, die die einzelnen Gruppen der Deutschen zuvor getrennt hatten. Gleichzeitig bestanden die alten Vorurteile – wie aus vielen in den langen Jahren meiner Forschungsarbeit zusammengetragenen Interviews klar hervorgeht – weiter fort. So bezeichneten zum Beispiel die Deutschen des Schwarzmeergebiets und Transkaukasiens die Wolgadeutschen als „Habenichtse“ und Kommunisten. Einer der Befragten erzählte die folgende Geschichte: „Als mein aus einer katholischen Familie stammender Vater meine lutherische Mutter kennenlernte und schriftlich um Segen für die Hochzeit bitten wollte, erlaubte ihm seine Mutter nicht, dies zu tun, da er eine „Fremde“ zur Frau gewählt habe. Und das ungeachtet dessen, dass beide Familien früher in der gleichen Region gelebt hatten – im Wolgagebiet. Erst als die Mutter aus dem Ural in das sibirische Städtchen kam und die Schwiegereltern [des Sohnes; A. G.] persönlich kennenlernte, regelte sich diese Frage.“ So wurden Gegensätze allmählich überwunden. Das verbindende Nationale verdeckte die einzelnen Gruppenidentitäten.
Auf der anderen Seite zwangen die Zerstreuung der deutschen Volksgruppe über riesige Territorien, die Rücksichtslosigkeit, mit der die verschiedenen Kontingente deutscher Bevölkerung über das Land verteilt wurden, und die rigide Diskriminierung selbst elementarer nationaler Bedürfnisse die Deutschen, sich an ihre neuen Lebensumstände anzupassen, was die Assimilationsprozesse rasant beschleunigte. Diesem leistete auch die Tatsache Vorschub, dass junge deutsche Männer und Frauen in einem zuvor unvorstellbaren Ausmaß gemischte Ehen mit Angehörigen anderer Nationalitäten schlossen. Dies war eine unmittelbare Folge der Lebensbedingungen an den Orten der früheren Lager der Arbeitsarmee und der Sondersiedlung.
Wie diese Prozesse z.B. in Solikamsk abliefen, beschreibt Edwin Grieb [Grib], einer der Veteranen der deutschen gesellschaftlichen Bewegung, anschaulich in seinen Erinnerungen: „Die ‚Arbeitsarmisten‘ des Kombinats… lebten in der ersten Zeit weiter in ihrer alten Baracke, da man sonst nirgends wohnen konnte. Aber mit der Zeit begannen die jungen ‚Arbeitsarmisten‘, sich Ehefrauen zu suchen. Erst waren das Kriegerwitwen, die in großer Armut und Not lebten und zum Teil Kinder hatten. Aber schon bald heirateten die ‚Arbeitsarmisten‘ auch die örtlichen Mädchen… Und da es in Solikamsk viele Deutsche gab, erreichte die Zahl gemischter Ehen in den Nachkriegsjahren schnell beeindruckende Ausmaße. Rein deutsche Familien gab es kaum noch [...]. Die Eltern der deutschen jungen Männer gaben den Ehen mit einheimischen Frauen in der Regel ihren Segen, da sie die Notwendigkeit eines Familienlebens für ihre erwachsenen Söhne sahen und hofften, dass die in gemischten Ehen geborenen Kinder nicht in den Sondersiedlungen registriert würden und die Perspektive eines normalen Lebens bekämen“.
Ähnliche Prozesse vollzogen sich auch an vielen anderen Orten der früheren „Arbeitsarmee“. Anzumerken ist auch, dass sich die Lebensumstände der Sowjetdeutschen, die vor dem Krieg zu über 90% in der Landwirtschaft tätig gewesen waren und auf dem Land gelebt hatten, grundlegend wandelten. Fast die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung war in verschiedenen Bereichen der Industrie, im Transportwesen und auf dem Bau tätig und wohnte in Städten oder Arbeitersiedlungen. An diesen Orten verliefen die Assimilationsprozesse besonders schnell.
Gleichzeitig wurden die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gegründeten deutschen Übersiedlerdörfer in Sibirien, Kasachstan und Mittelasien insbesondere nach der Aufhebung der deutschen Sondersiedlung zu einem Anziehungspunkt für deportierte und aus der „Arbeitsarmee“ entlassene Deutsche. Das waren kleine Horte, an denen sich – wenn auch in deformierter Form – das alte Leben der Vorkriegszeit bewahrte, die Deutschen dicht beieinander lebten und deshalb den Assimilationsprozessen etwas entgegenzusetzen hatten.
Ins Erwachsenenleben traten nun jene Generationen der Deutschen, die vor dem Krieg Pioniere oder Komsomolzen gewesen waren und das Leben der vorsowjetischen Zeit kaum noch kannten. Bis Mitte der 1960er Jahre gründeten sie Familien und wurden zum aktivsten Element der deutschen Volksgruppe. An die Stelle der alten Generation trat eine neue Nachkriegsgeneration von Russlanddeutschen, die die Vorkriegsgeschichte ihres Volkes nur aus den subjektiven und oft rosa gefärbten Erzählungen ihrer Eltern kannte. Andere Kanäle, etwas über die eigene Vergangenheit zu erfahren, gab es praktisch nicht, da es bis Ende der 1980er Jahre streng verboten war, sich öffentlich mit russlanddeutschen Themen zu befassen. Als Mitte der 1980er Jahre die Perestrojka begann, stellten diese Leute den politisch aktivsten Teil der Russlanddeutschen. Ein solch umfassender Exkurs in die Vergangenheit ist nötig, um Handlungsmotive und Verhalten jener Leute verstehen zu können, die die gesellschaftliche Bewegung der Deutschen maßgeblich prägten.
Entstehung der gesellschaftlichen Bewegung der Russlanddeutschen, erste Etappe
Das Bewusstsein der Russlanddeutschen, gegen die haltlose Diskriminierung und die Beschneidung ihrer Rechte als Sowjetbürger kämpfen zu müssen, wurde vor allem durch zwei Ereignisse geweckt: einerseits durch die in der UdSSR 1953 nach und nach einsetzenden Prozesse der Abkehr der neuen Führung des Landes von den schlimmsten Auswüchsen des Stalinschen Regimes und andererseits durch die Normalisierung der Beziehungen der UdSSR zur Bundesrepublik Deutschland.
Je länger die Sondersiedlungen nach dem Krieg weiter bestanden, desto deutlicher trat zutage, wie unnötig, absurd und sogar schädlich sie waren, da sie die Bürger der UdSSR künstlich in zwei Klassen teilten und dadurch der Stabilisierung der sowjetischen Gesellschaft im Wege standen. Bei den zentralen Partei- und Staatsorganen der Sowjetunion traf ein gewaltiger Ansturm von Вriefen aus den Sondersiedlungen ein, deren Absender die Machthaber von ihrer Loyalität zu überzeugen versuchten und darum baten, die Sondersiedlungen oder wenigstens einige ihrer besonders erniedrigenden Beschränkungen aufzuheben.
So schrieb z.B. Katharina Haag [Gaag], eine junge Deutsche, in einem Gesuch, in dem sie um Aufhebung der Beschränkungen der Sondersiedlung bat, dass ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität nicht Grundlage für eine Einschränkung ihrer Rechte sein dürfe: „Ich habe keinerlei Verbrechen begangen. Mein ganzes Leben lang habe ich aufrichtig und gewissenhaft für das Wohl meiner geliebten Heimat gearbeitet. Meine Lage ist moralisch niederschmetternd“.
- Dill [Dil‘] erklärte in einem Schreiben an die Regierung, in dem er um seine Entlassung aus der Sondersiedlung bat, dass er vom Beginn des Vaterländischen Kriegs 1941 bis zum 1. September an den Kämpfen für seine sozialistische Heimat teilgenommen habe und schwer verwundet und ins Lazarett gebracht worden sei. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei er Invalide des Großen Vaterländischen Kriegs und mit einer Medaille ausgezeichnet worden. M. Litawer [Litaver] wandte sich mit der Erklärung an den Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, dass er den gesamten Krieg über in der Arbeitsarmee gewesen sei und nun in einer Kohlegrube in Vorkuta arbeite. Sein Brief endet mit den folgenden Worten: „1954 wurde ich für vorbildliche und langjährige Arbeit in der Kohleindustrie durch Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR mit dem Leninorden ausgezeichnet. Ich bitte den Ministerrat der UdSSR […] mich aus der Sondersiedlung zu nehmen“.
Zum 1. Januar 1953 waren in der Sowjetunion 2 753 400 Menschen als Sondersiedler erfasst. Unter diesen stellten die Deutschen mit 1 224 900 Menschen bzw. 44,5% den größten Anteil, gefolgt von den „Nordkaukasiern“ (Tschetschenen, Inguschen, Balkaren, Karatschai-ern u.a.), deren Proporz mit 498 400 Menschen oder gerade einmal 18% bereits deutlich kleiner war.
Innerhalb des „deutschen“ Anteils der Sondersiedler gab es folgende Unterteilungen: Ausgesiedelte – 855 800, Repatriierte – 208 400, Örtliche – 111 300, Mobilisierte – 48 500, sonstige – 900. Außerdem gab es Deutsche auch in einigen anderen Gruppen von Sondersiedlern und Kategorien von Repressierten. 160 Personen wurden in der Kategorie der Zwangssiedler geführt, 427 im Kontingent „von der Krim“, über 2 000 im Kontingent „Vlasovcy“, 38 Deutsche im Kontingent „Polen“, etwa 1 000 in den Kontingenten „Volksdeutsche“, „deutsche Helfershelfer“ u.a. Zur gleichen Zeit (1. Januar 1953) waren 13 900 Sowjetdeutsche im Gefängnis oder in Lagerhaft, die nach ihrer Entlassung zu Verwandten und Freunden an die Orte der Sondersiedlung kamen.
Deutsche Sondersiedlungen gab es fast über die gesamte UdSSR verstreut. In der RSFSR lebten 707 200 Deutsche, die sich sehr ungleichmäßig über die Republik verteilten. Die meisten waren in Westsibirien (338 100) und im Ural (198 600) ansässig, deutlich weniger in anderen Regionen. Nichtsdestotrotz gab es selbst in jenen Regionen deutsche Sondersiedlungen, aus denen die Deutschen 1941 deportiert worden waren. Im europäischen Teil der RSFSR lebten 83 300 deutsche Sondersiedler. Was die anderen Sowjetrepubliken betrifft, gab es mit 448 600 Personen die meisten Deutschen in Kasachstan, die sich mehr oder weniger gleichmäßig über das Gebiet der Republik verteilten. Relativ viele Deutsche lebten in Tadschikistan (28 200) und Kirgistan (15 700).
Nach 1954 begann die Sowjetführung mit der allmählichen Abschaffung der Sondersiedlungen. Am 5. Juli 1954 erließen das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR die gemeinsame Verordnung „Über die Aufhebung einiger Einschränkungen in der Rechtsstellung der Sondersiedler“, die eine stufenweise, vergleichsweise langsame Reduzierung der Zahl und der Kategorien von Sondersiedlern sowie eine gewisse Liberalisierung des Regimes der Sondersiedlungen vorsah.
Gemäß dieser Verordnung erhielten die Sondersiedler das Recht, sich innerhalb der Grenzen ihrer Republik, Region oder ihres Gebiets frei zu bewegen, ungehindert Dienstreisen zu unternehmen sowie zur ärztlichen Behandlung, zu Verwandtenbesuchen oder aus anderen triftigen Gründen entsprechend den für alle Sowjetbürger geltenden Regeln, jeden Ort der UdSSR aufzusuchen. Eine persönliche Meldepflicht bestand nur noch einmal im Jahr.
Durch die gleiche Verordnung wurden auch alle Kinder unter 16 Jahren sowie ältere Kinder, die Hochschulen oder mittlere Spezialschulen besuchten, vom Regime der Sondersiedlung ausgenommen. Für die Deutschen bedeutete dies die Befreiung von etwa 400 000 Menschen.
Am 13. August 1954 erschien eine weitere Verordnung des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR, der zufolge das Sondersiedlungsregime für „frühere Kulaken“ (für die es schon seit der Kollektivierung galt) sowie für die in Sibirien, Fernost, Kasachstan, Mittelasien und an anderen Orten, aus denen nicht deportiert worden war, lebenden Deutschen einschließlich früherer ‚Arbeitsarmisten‘ dieser Kategorie aufgehoben wurde. Auf diese Weise wurden weitere 105 800 Sowjetbürger deutscher Nationalität von der Sondersiedlung befreit.
Am 10. März 1955 verpflichtete der Ministerrat der UdSSR, die Organe für Innere Angelegenheiten, den Sondersiedlern sowjetische Pässe auszustellen und setzte so diesem moralisch höchst fragwürdigen Aspekt ihrer Diskriminierung als Sowjetbürger ein Ende.
Am 23. März 1955 erlaubte das ZK der KPdSU auf Vorschlag der Ministerien für Verteidigung und für Innere Angelegenheiten, einen erheblichen Teil der Kategorien von Sondersiedlern einschließlich der Deutschen beginnend mit den Geburtsjahrgängen 1936/37 zum regulären Wehrdienst einzuberufen. Am gleichen Tag folgte eine entsprechende Anordnung des Ministerrats der UdSSR, der zufolge die zum Wehrdienst einberufenen 19-jährigen jungen Männer nicht mehr als Sondersiedler geführt werden sollten.
Am 9. Mai 1955 wurde das Sondersiedlungsregime für Mitglieder und Kandidaten der KPdSU und deren Familien aufgehoben. Dies betraf etwa 5 000 Deutsche.
Auch wenn auf diese Weise bis zum Frühjahr 1955 über 500 000 Sowjetdeutsche aus dem Regime der Sondersiedlung entlassen waren, mussten noch immer über 700 000 Deutsche auch weiterhin in den Sondersiedlungen leben. Während die beschriebenen Schritte zur Befreiung der Deutschen im allgemeinen Kontext der von der neuen sowjetischen Führung betriebenen Politik der allmählichen Abschaffung der Sondersiedlungen als Bestandteil des aufgeblähten Repressionssystems der Stalinzeit standen, kam nach und nach ein neuer Faktor hinzu, der das Schicksal der Sowjetdeutschen beeinflussen sollte – der außenpolitische Faktor. Dieser stand in Zusammenhang mit der Aufnahme und Entwicklung der Beziehungen der UdSSR zur Bundesrepublik Deutschland nach 1954.
Zu dieser Zeit war die UdSSR bestrebt, den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und deren Integration in die sozio-ökonomischen und militärisch-politischen Strukturen des Westens zu verhindern, und trat deshalb für die Gründung eines vereinten neutralen Deutschlands ein. Am 25. Januar 1955 verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Erlass „Über die Beendigung des Kriegszustands zwischen der Sowjetunion und Deutschland“, der dem Kampf der Sowjetdeutschen für die Befreiung von der Sondersiedlung einen entscheidenden Anstoß gab und den Strom entsprechender Briefe an verschiedene Partei- und Staatsinstanzen merklich anschwellen ließ. Allein an den Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, N. Bulganin, waren in der Zeit von Februar bis Juni 1955 etwa 2 000 Briefe deutscher Sondersiedler adressiert. Die Gesamtzahl solcher Briefe lag im ersten Halbjahr 1955 bei mehreren zehntausend. Die Stimmung der meisten Sowjetdeutschen zu dieser Zeit kommt wohl am deutlichsten in dem folgenden Brief N. Kielgasts [Kil‘gast] an Bulganin zum Ausdruck: „Der Krieg ist bereits seit 10 Jahren vorbei. Durch den Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 25. Januar 1955 sind alle Rechte unserer Feinde – der „echten“ Deutschen – wiederhergestellt. Ich aber befinde mich ausschließlich aufgrund der Tatsache, dass meine fernen Vorfahren aus Deutschland stammten, bis zum heutigen Tag in der Lage eines Bürgers, der aus unerfindlichen Gründen und auf unabsehbare Zeit in seinen Rechten beschnitten ist. Irgendwie passt das nicht mit der von unserer Partei und Regierung verfolgten Nationalitätenpolitik zusammen“.
Im Juli 1955 kamen die Regierungsbeamten nach Sichtung der bis zu diesem Zeitpunkt beim Ministerrat der UdSSR eingegangenen Berge von Briefen zu dem folgenden Schluss: „Die Beschwerden der Sondersiedler über die dauerhafte Einschränkung ihrer Rechte und ihre fortdauernde Aufsicht durch die Sonderkommandanturen des Ministeriums für Innere Angelegenheiten allein aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit verdienen Beachtung. Die Zeit ist offenbar reif, einige bestehende Beschlüsse zu Fragen der Sondersiedlung zu überprüfen.“ Es folgte aber sogleich der Vorbehalt, dass „eine gleichzeitige Befreiung aller Sondersiedler aus der Sonderaufsicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum sinnvoll“ sei, da die Sondersiedler in einer Reihe von Regionen des Landes (Vorkuta, Karaganda, Uchta u.a.) einen erheblichen Teil der in Industrie und Landwirtschaft beschäftigten Arbeitskräfte stellten, von denen viele im Falle einer Aufhebung der Sondersiedlung in andere Regionen des Landes ziehen könnten, was entsprechende volkswirtschaftliche Schäden nach sich ziehen würde. Des Weiteren wurde empfohlen, eine allmähliche, über mehrere Jahre gestreckte Entlassung der Bürger aus der Aufsicht der Sonderkommandanturen zu realisieren, und dabei entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um die Sondersiedler an ihren Siedlungsorten in Arbeit zu bringen und am Wohnort zu halten. Genau so ging die Sowjetführung fortan mit Blick auf die Sondersiedler vor.
Unterdessen begannen die UdSSR und Westdeutschland die Vorbereitung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Eine der Fragen, die die bundesdeutsche Regierung in diesem Kontext gegenüber dem Verhandlungspartner vorbrachte, war die Freilassung und Heimkehr der noch in der Sowjetunion befindlichen Kriegsgefangenen und der bei Kriegsende bzw. in den ersten Nachkriegsmonaten in die UdSSR verschleppten Zivilisten. Zur Kategorie der „Zivilisten“ wurden dabei auch jene sowjetdeutschen Repatrianten gezählt, die sich in den Jahren 1943–1945 auf deutschem Gebiet befunden und die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten. Diese Staatsbürgerschaft wurde von der BRD per Gesetz vom 22. Februar 1955 anerkannt.
Bei den Moskauer Verhandlungen zwischen Konrad Adenauer und Nikolaj Bulganin nannte der deutsche Bundeskanzler im September 1955 eine Zahl von über 130 000 Deutschen, die in den Kriegsjahren die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und in der Zeit seit Stalins Tod ihren Wunsch auf Ausreise aus der UdSSR erklärt hätten. Die Sowjetführung, die von Ansprüchen solchen Ausmaßes kalt erwischt wurde, sah sich gezwungen, die Ausreise dieser Deutschen aus der UdSSR zu versprechen, machte jedoch den Vorbehalt, dass die reale Existenz dieser 130 000 ausreisewilligen Personen noch zu verifizieren sei.
Die diplomatischen Beziehungen wurden aufgenommen, aber aus ideologischen und politischen Erwägungen konnte die Sowjetführung nicht zulassen, dass eine so große Zahl ihrer Bürger das sowjetische „Paradies“ freiwillig gegen die „kapitalistische Versklavung“ eintauschte, und legte den Ausreisewilligen deshalb alle erdenklichen Steine in den Weg. Gleichzeitig wurde – wie dies schon mehrfach der Fall gewesen war – unter der deutschen Bevölkerung der UdSSR eine Propagandakampagne im Geiste des „sowjetischen sozialistischen Patriotismus“ organisiert. Sollte diese Kampagne Aussicht auf Erfolg haben, war es nötig, erstens die deutschen Repatrianten in der großen Masse der dem Sowjetregime gegenüber weit loyaleren übrigen deutschen Bevölkerung der UdSSR aufgehen zu lassen, und zweitens die Lebensbedingungen der Deutschen spürbar zu bessern.
Aus eben diesem Grund wurden die Sowjetdeutschen als erste nationale Gruppe aus dem Regime der Sondersiedlung entlassen. Per Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 wurden für ausnahmslos alle zu diesem Zeitpunkt noch in Sondersiedlungen lebenden Deutschen die entsprechenden Beschränkungen aufgehoben. Ungeachtet der Befreiung aus der Sondersiedlung bestanden eine Reihe diskriminierender Maßnahmen allerdings weiterhin fort. So wurde eine Rückgabe des bei der Aussiedlung konfiszierten Besitzes ebenso explizit ausgeschlossen wie die Rückkehr an jene Orte, aus denen sie ausgesiedelt worden waren. Außerdem wurden in dem Erlass alle nationalen Minderheitenrechte der Deutschen auf Bewahrung von Sprache, Kultur, Traditionen usw. vollständig ignoriert.
So entstand Mitte der 1950er Jahre die gesellschaftliche Bewegung der Russlanddeutschen. Ihre erste Etappe war eine Art Volksinitiative, die in zahlreichen Briefen an die Sowjetführung mit der Bitte um Rehabilitierung Ausdruck fand. Diese Initiative war allerdings nicht organisiert und hatte kein Führungszentrum, so dass sie letztlich ohne ernsthafte Folgen blieb. Sie spielte eine gewisse Rolle bei der Aufhebung des Regimes der Sondersiedlungen, führte aber nicht zu einer vollständigen Rehabilitierung der Deutschen oder gar zur Wiedererrichtung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen.
Die Gründe für die Halbherzigkeit der die Abschaffung der „deutschen“ Sondersiedlung betreffenden Beschlüsse gehen aus einem Expertengutachten für das ZK der KPdSU hervor, das sich im Sommer 1956 mit den Bittschriften von Tschetschenen, Karatschaiern, Balkaren, Kalmücken und Deutschen zur Schaffung einer eigenen Autonomie befasste und Licht auf die zu dieser Zeit von den Staatsorganen gegenüber den Deutschen verfolgte Politik wirft: „[…] eine Autonomie auch für die Deutschen einzurichten, ist aus den folgenden Gründen nicht geboten: Über das gesamte Gebiet der Sowjetunion verstreut leben etwa 1,5 Millionen Deutsche in Gruppen von drei, fünf, zehn oder zwanzig Tausend Menschen. Lediglich in neun Regionen bzw. Gebieten leben jeweils etwa 60-80 000 Menschen (Region Altaj – 63 393 erwachsene Deutsche, Region Krasnojarsk – 45 195, Gebiet Kemerevo – 43 119, Gebiet Novosibirsk – 48 087, Gebiet Akmola – 40 710, Gebiet Karaganda – 48 196 usw.). Selbst zu der Zeit, als die Autonome Republik der Wolgadeutschen bestand, lebten in dieser Republik nach den Daten der Volkszählung von 1939 gerade einmal 366 685 Deutsche. Die übrigen Deutschen lebten in anderen Republiken, Regionen und Gebieten. Auf diese Weise wäre die Gründung einer Autonomie für die Deutschen jetzt, da die Deutschen über die gesamte Sowjetunion verstreut leben, eine formale Angelegenheit, da die Mehrheit der Deutschen auch nach Einrichtung einer solchen Autonomie dort bleiben würde, wo sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt lebt […]“.
Allem Anschein nach hielt die Sowjetführung diese Argumentation für überzeugend und angemessen. Sie erlaubte es, auch nach der Aufhebung der Sondersiedlung eine große Masse an Arbeitskräften an Orten mit schwierigen natürlichen und klimatischen Bedingungen zu belassen.
Heute ist bestens bekannt, dass die Wiedererrichtung der Autonomen Republiken des Nordkaukasus in vielerlei Hinsicht durch die massenhafte eigenmächtige Rückkehr der deportierten Bevölkerung erzwungen wurde, deren aggressives Auftreten die Lage im nördlichen Kaukasus ernsthaft zu destabilisieren drohte. Ein solches Vorgehen war in den 1950er Jahren schon nicht mehr mit der europäisch-sowjetischen Mentalität der Deutschen zu vereinbaren. Zwar hatten auch die Deutschen ihre Geschichte des Widerstands, die man sich heute kaum noch vorstellen kann: So hatten die deutschen Bauern im März/April 1921 bei ihrem Aufstand im Gebiet der Wolgadeutschen praktisch die Sowjetmacht gestürzt, die sich nur in den Städten halten konnte. Außerdem hatten sie in den 1930er Jahren mit Gewalt gegen die Kollektivierung gekämpft. Aber das war in den 1950er Jahren schon ferne Vergangenheit: Durch den langjährigen Terror waren die aktivsten Gegner des Sowjetregimes verschwunden und auch die weiterhin bestehende Zersplitterung der einzelnen deutschen Bevölkerungsgruppen stand einer Konsolidierung im Wege. Die Deutschen brachten keine aktiven Anführer hervor, die bereit oder in der Lage gewesen wären, sich selbst zu opfern und das Volk zum zivilen Ungehorsam gegen die Machthaber zu mobilisieren. Aber es gab auch gravierende objektive Gründe: Während die Deutschen über ein riesiges Territorium verstreut lebten (was ja auch in dem Expertengutachten des ZK der KPdSU angemerkt wird), waren die deportierten kaukasischen Völker nicht zur „Arbeitsarmee“ eingezogen worden und siedelten vergleichsweise kompakt in Südkasachstan und Mittelasien. Zudem handelte es sich bei den kaukasischen Volksgruppen zu nahezu 100% um eine homogene ländliche Bevölkerung, die sich wesentlich leichter organisieren ließ.
Emigration. Im ersten Jahrzehnt nach der Abschaffung des Sondersiedlungsregimes waren es vor allem die eine Rückkehr nach Deutschland anstrebenden Repatrianten, die ihre Forderungen am hartnäckigsten und lautesten artikulierten. Eben sie, denen das Recht auf Emigration auf Druck der bundesdeutschen Regierung zugestanden worden war, legten den Grundstein der Emigrationsbewegung, die mit jedem Jahr anwuchs und auch auf andere Teile der Russlanddeutschen übergriff.
Nach heutigem Forschungsstand liegt der Schluss nahe, dass die Emigration für einen Teil der „sowjetdeutschen“ Bevölkerung von Anfang an eine spezifische Form des Kampfes für die Bewahrung ihrer nationalen Identität und eine Alternative zum Kampf gegen die Diskriminierung darstellte und bis zum heutigen Tag darstellt. Die Emigration kanalisierte die Protestaktivitäten der Deutschen und erschwerte insofern sogar den Aufbau einer für die weitere Rehabilitierung kämpfenden nationalen Bewegung. Die sowjetische Führung zeigte sich – wenigstens in den 1950er bis 60er Jahren – alarmiert und fühlte sich in ihrer Überzeugung bestätigt, dass es nicht geboten war, sich mit einer Wiedererrichtung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen zu beeilen, da sich im Fall einer Wiedererrichtung der Deutschen Republik ein Konflikt zwischen der Souveränität der Sowjetunion und dem nationalen Paternalismus der BRD ergeben hätte, und die Bundesrepublik womöglich die Rolle eines ausländischen Beschützers der innersowjetischen deutschen Staatlichkeit an sich gezogen hätte. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges und des Gegensatzes der Gesellschaftssysteme hätte dies den Eindruck eines ernsthaften und unangemessenen Zurückweichens vor der Position des ideologischen und politischen Feindes erweckt.
Im Unterschied zu vielen Historikern ist der Autor nicht geneigt, die Emigration der Deutschen einzig und allein durch eine „falsche“ Politik der Sowjetführung zu erklären, die den Deutschen keine angemessenen Bedingungen für die Bewahrung ihrer nationalen Identität bot, auch wenn ein solcher Zusammenhang natürlich nicht gänzlich zu leugnen ist. Der Emigration lagen aber auch ökonomische, soziale, persönliche und andere Gründe zugrunde, die in den Jahren der Perestrojka und nach der Perestrojka besonders deutlich wurden.
Von Beginn der 1960er Jahre an bereitete die zunehmende Bereitschaft der Deutschen zu emigrieren der Sowjetführung erhebliches Kopfzerbrechen, da sich daran der unzureichende Charakter der gegenüber den Deutschen in den Jahren 1954/55 unternommenen Rehabilitierungsmaßnahmen immer deutlicher bemessen ließ.
Zweite Etappe der gesellschaftlichen Bewegung der Russlanddeutschen –
Etappe der „Delegationen“
Am 29. August 1964 erschien der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über Änderungen des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 ,Über die Umsiedlung der in den Wolgarayons lebenden Deutschen‘“.
Der Erlass erklärte die gegenüber den Wolgadeutschen erhobenen Anschuldigungen des Landesverrats und der Beihilfe zur faschistischen Aggression für unbegründet, was de facto die politische Rehabilitierung der Russlanddeutschen bedeutete. So demonstrierten die Machthaber ihre Bereitschaft, das den Deutschen zugefügte Unrecht anzuerkennen und zurückzunehmen und ihnen an ihren neuen Siedlungsorten zu helfen. Zugleich machten sie allerdings deutlich, dass sie die „deutsche Frage“ als gelöst ansahen. Für die Russlanddeutschen zeugte der zweite Teil des Erlasses – wie seinerzeit schon der Erlass über die Aufhebung des Regimes der Sondersiedlung von 1955 – vom Unwillen der Sowjetführung, tatsächlich etwas an der Lage der Deutschen zu ändern.
Der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. August 1964 ließ einen offensichtlichen Widerspruch zwischen der Praxis der von der Sowjetführung gegenüber den Russlanddeutschen verfolgten Politik und den ideologischen Prinzipien zur nationalen Frage entstehen. Dies ließ die Hoffnung aufkeimen, mit loyalen Methoden, wenn nicht die völlige Rückkehr der Russlanddeutschen zum Status quo vor dem 28. August 1941, so doch wenigstens eine Wiedererrichtung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen erreichen zu können.
So gab der Erlass der Bildung einer legalen nationalen Bewegung einen kräftigen Anstoß, deren treibende Kräfte frühere Parteifunktionäre der Republik der Wolgadeutschen waren, die von einer Position der völligen Loyalität gegenüber den Machthabern aus und gestützt auf die Leninschen Prinzipien der Nationalitätenpolitik versuchten, die Sowjetführung zu einer Wiedererrichtung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen zu bewegen. Man muss ihnen den nötigen Respekt zollen, denn für ein solches Handeln bedurfte es zu jener Zeit eine gehörige Portion Mut.
Eine erste aus 13 Personen bestehende Delegation der Russlanddeutschen wurde am 12. Januar 1965 vom Präsidenten des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR Anastas Mikojan empfangen, eine zweite Delegation am 15. Juni 1965 im ZK der KPdSU und am 7. Juli erneut von Mikojan. Der Versuch, 1966 eine dritte Delegation nach Moskau zu schicken, wurde von den Behörden unterbunden, die Repressionen gegen die Aktivisten der deutschen Bewegung einleiteten. Die Bitte der Delegationsmitglieder, die Autonome Republik der Wolgadeutschen wiederzuerrichten, wurde rundheraus abgewiesen:
„Eine Massenübersiedlung [an die Wolga, im Falle einer Erlaubnis; A. G.] ist mit gewaltigen Ausgaben verbunden und fügt der Wirtschaft des Landes großen Schaden zu… Einfacher ist es mit den in der Landwirtschaft tätigen Deutschen, für die sich leichter Arbeit finden lässt, aber unter den Deutschen gibt es ja auch viele Städter, was die Gründung von Industriebetrieben erforderlich macht. Das alles lässt es nicht sinnvoll erscheinen, die Deutschen in die frühere Republik umzusiedeln“.
Es hat den Anschein, dass die gesellschaftliche Bewegung der Deutschen bessere Erfolgschancen gehabt hätte, wenn sie sich etwas früher gebildet hätte. So aber erschien der Erlass erst anderthalb Monate vor der Ablösung Nikita Chruščovs, was ihn von Anfang an unter einem schlechten Stern stehen ließ. Die neue Staatsführung mit Leonid Brežnev an der Spitze schlug recht schnell einen konservativen Kurs des Neostalinismus ein, fror alle politischen Veränderungen ein, beendete die Kritik am Stalinschen Personenkult, leitete stille Repressionen gegen „politische Romantiker“ ein und machte lieber keine „abrupten Bewegungen“. Vor diesem Hintergrund war die gesellschaftliche Bewegung der Mitte der 1960er Jahre von Beginn an zum Scheitern verurteilt.
Diese zweite Etappe der gesellschaftlichen Bewegung der Russlanddeutschen dauerte zwar nur ca. zwei Jahre, sie war dafür aber ein intensives Aufleuchten, das zeigte, wie effektiv konsolidierte Aktionen sein konnten. Der größte Erfolg dieser Zeitspanne bestand darin, die Probleme und Wünsche der Sowjetdeutschen vor die Sowjetführung gebracht zu haben. Es ist kein Zufall, dass die Sowjetregierung 15 Jahre später, nachdem sie alle Methoden der „sozialistischen“ Erziehung der Sowjetdeutschen durchprobiert hatte, die Notwendigkeit der Einrichtung einer territorialen Autonomie der Russlanddeutschen als Faktor anerkennen musste, der die Deutschen vor dem sich ausbreitenden Willen zu Emigrieren ablenken könnte. Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre wurden einige Projekte zur Gründung einer deutschen Autonomie ausgearbeitet, die sich allerdings jenseits der Grenzen oder nur teilweise auf dem historischen Territorium der Wolgarepublik befinden sollten. Eines dieser – undurchdachten – Projekte endete beim Versuch seiner Realisierung in Zentralkasachstan in einem Fiasko. Andere blieben auf dem Papier, bedingt auch durch den Wechsel an der Spitze des Landes. Der kompromisslose Jurij Andropov stoppte das Experiment.
Alles in allem lässt sich die Periode des gesellschaftlichen Lebens der Russlanddeutschen von 1966 bis 1987 als dritte Etappe der Dissidenten bezeichnen. Fehlende realistische Perspektiven der nationalen Entfaltung bildeten einen idealen Nährboden, um die Emigrationsbewegung und das auf den Kampf für das Recht auf Ausreise aus der UdSSR konzentrierte Dissidententum unter den Russlanddeutschen anwachsen zu lassen. Die Sowjetdeutschen, die sich in die Emigration begaben – und dies nicht etwa in die DDR, sondern in die Bundesrepublik – brachten ihre Haltung gegenüber den Machthabern unmissverständlich zum Ausdruck und kompromittierten das sowjetische System der „Volksherrschaft“. Die Situation erinnerte stark an die Zeit der Hungersnot Anfang der 1930er Jahre, als die Sowjetdeutschen durch ihre an ihre im Westen lebenden Verwandten gerichtete Hilferufe die Welt über die schreckliche Hungersnot in Kenntnis setzten und eine Welle von Mitleid und Hilfe auslösten. Während aber die Staatsmacht in den 1930er Jahren ausschließlich mit Repressionen gegen die Deutschen vorging, kam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Methode von Zuckerbrot und Peitsche zum Einsatz. Es gab zwar auch Repressionen, aber nur selektiv und als Ultima Ratio. Der KGB-Vorsitzende Jurij Andropov setzte lieber auf „Prophylaxe“ statt auf Repressionen. Zugleich hatten die Machthaber gar keine andere Wahl als Maßnahmen zu ergreifen, die das Bleiben der Deutschen in der Sowjetunion begünstigten.
Hier liegt der Grund für die Gründung deutschsprachiger Zeitungen, Zeitschriften und Radiosendungen sowie die Versuche, den deutschen Kindern von der ersten Klasse an ihre Muttersprache beizubringen usw. So beschränkt die Möglichkeiten dieser Projekte auch gewesen sein mögen, die Leute, die sie realisierten, ob sie nun Deutsche oder Vertreter anderer Nationalitäten waren, waren mit Herzblut bei der Sache und halfen der deutschen Bevölkerung, ein wie auch immer geartetes Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln.
Im Verlauf der gesamten Regierungszeit Leonid Brežnevs und seiner Nachfolger Jurij Andropov und Konstanin Černenko verfolgten die Machthaber einen Kurs der „stillen Rehabilitierung“ der Deutschen. 1972 wurde das Verbot, seinen ständigen Wohnsitz in die deutschen Siedlungsgebiete der Vorkriegszeit zurückzuverlegen, formal aufgehoben. Begabte Deutsche erhielten die Chance, in Industrie, in Landwirtschaft und in Partei- und Komsomolorganen in Führungspositionen der niederen, mittleren und sogar höheren Ebene aufzusteigen. Während 1961 gerade einmal 4 608 Deutsche in den Rayonssowjets vertreten waren, hatte sich deren Zahl 1984 bereits verdreifacht. Von 1973 an wurden die Sowjetdeutschen auch von Deputierten des Obersten Sowjets der UdSSR repräsentiert. 1965 wurde der Deutsche V. Lejn auf den Posten des Ministers für Nahrungsmittelindustrie der UdSSR berufen. 1983 stellten die Deutschen allein in Kasachstan zwölf hochrangige Parteifunktionäre (vom zweiten Sekretär des Rayonskomitees aufwärts), sieben Sowjetfunktionäre entsprechenden Ranges und 23 Führungskräfte von Ministerien, Verwaltungen und gesellschaftlichen Organisationen sowie Unternehmensdirektoren. Immer öfter stiegen Deutsche in die staatliche politische Elite auf und erarbeiteten sich den Weg auf immer höhere Ebenen.
Mit der Zeit standen den Sowjetdeutschen auch die Türen zu militärischen Karrieren und prestigeträchtigen Posten an staatlichen Universitäten und renommierten Hochschulen offen. Zahlreiche Deutsche bevorzugten in diesen Jahren technische und Agrarwissenschaften. An einzelnen Hochschulstandorten bildeten sich ganze Wissenschaftsschulen, in denen deutsche Spezialisten eine herausragende Rolle spielten. In Alma-Ata, Novosibirsk, Omsk, Tomsk und Sverdlovsk, wo immer Rüstungsbetriebe eine große Rolle spielten oder Hochschulen starke Dozentenkollektive hatten, ließen sich unter den Namen anerkannter Wissenschaftler und Betriebsleiter zunehmend mehr deutsche Familiennamen finden.
Gerade in dieser Zeit wuchsen die Leute heran, die mit Beginn der Perestrojka die Basis der neuen politischen Elite der Russlanddeutschen bilden sollten.
Vierte Etappe der nationalen Bewegung der Deutschen –
Perestrojka
Bekanntlich begann die Perestrojka bereits 1985, aber erst nach deren Radikalisierung im Zuge der Verkündung von „Glasnost‘ und Demokratie“ auf dem Januarplenum des ZK der KPdSU im Jahr 1987 waren günstige Bedingungen geschaffen worden, unter welchen sich praktisch jeder in der Politik angagierte und es auch zu einer Wiedergeburt der nationalen Bewegung der Russlanddeutschen kam. An ihrer Spitze stand überwiegend eine neue politische Elite.
Dieser neuen politischen Elite der Russlanddeutschen, die sich in den Jahren der Perestrojka formierte, gehörten größtenteils Vertreter der Nachkriegsgeneration an, deren Kindheit und Jugend in die poststalinistische Zeit fiel, als (insbesondere unter Leonid Brežnev) Bildungserwerb und der berufliche Aufstieg nicht mehr durch nationale Kriterien eingeschränkt waren und vor allem Loyalität gegenüber dem Regime und aktive Teilnahme an dessen sozial-ökonomischen, politischen und kulturellen Kampagnen erforderten.
Natürlich wirkten in der Zeit des „Stillstands“ bereits die verdeckten Mechanismen der Beförderung: verwandtschaftliche oder freundschaftliche Seilschaften, Schmiergelder usw. Aber das galt vor allem für die höchsten Kreise der Macht- und Wirtschaftsstrukturen, während auf der unteren und mittleren Ebene noch Wissen, Professionalität, Gewissenhaftigkeit, Fleiß, organisatorische Fähigkeiten usw. geschätzt waren. Dank diesen Umständen konnten – wie bereits erwähnt – in den 1970er bis 1980er Jahren zahlreiche Sowjetdeutsche höhere Bildung erlangen, Posten in den unteren, mittleren und zum Teil auch höheren Ebenen der Organe von Partei, Sowjets, Wirtschaft, Komsomol, Gewerkschaft usw. einnehmen und die Reihen der kreativen Intelligenz füllen. Auf diese Weise wurde aus der neuen Generation die intellektuelle Elite der Sowjetdeutschen wiedergeboren.
Allerdings lassen sich die oben beschriebenen Vertreter der deutschen Bevölkerung der UdSSR im Unterschied zu ihren in den Kriegsjahren liquidierten Vorgängern nur sehr bedingt als neue deutsche intellektuelle Elite bezeichnen, da sie sich selbst nicht als solche wahrnahmen. „Schuld“ daran war nicht nur der faktische Verlust sämtlicher Attribute des „Deutschseins“ wie Sprache, nationale historische Erinnerung, Traditionen und Gebräuche, Religion usw., sondern mehr noch die Tatsache, dass es die überwältigende Mehrheit der beruflich erfolgreichen Deutschen tunlichst vermied, erhaltene Reste ihres „Deutschseins“ offen zu zeigen. Dies galt in besonderem Maße für politische Fragen, da ein solcher „Nationalismus“ sie nicht nur ihren künftigen Wohlstand gekostet, sondern sie auch zu Dissidenten gemacht hätte.
Die durch das spättotalitäre Sowjetsystem geprägten „neuen Deutschen“ passten sich entweder an oder gingen ganz in ihrer Rolle als identitätslose Funktionsträger auf und übernahmen die Charakterzüge des Apparats: totaler ideologischer und politischer Konformismus („politische Reife“), persönliche Ergebenheit gegenüber dem Vorgesetzten, Schmeichelei und Unterwürfigkeit bis zur Selbstaufgabe, Fehlen (oder totales Verbergen) eigener Prinzipien bzw. einer moralischen und politischen Position, Kenntnis der ungeschriebenen Gesetze des Apparats, rechtzeitige Berichterstattung, Unterordnung, demonstrativer Aktionismus usw.
Das langjährige zersetzende Wirken des Nomenklatursystems konnte nicht ohne Folgen für die Persönlichkeit des Einzelnen bleiben und brachte bei den künftigen politischen Führern und Aktivisten der deutschen nationalen Bewegung entsprechende Mentalitätszüge hervor.
Die Führung der nationalen Bewegung dieser neuen Phase rekrutierte sich vor allem aus zwei Bereichen. Der erste Bereich waren deutsche Vertreter der Partei-, Sowjet- und Wirtschaftsnomenklatur sowie der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz, die über eine gewisse Arbeitserfahrung im Apparat verfügten und entsprechende diplomatische Fähigkeiten, Kompromissbereitschaft und andere für die demokratische Regulierung politischer Probleme erforderliche Kompetenzen mitbrachten. Der zweite Bereich waren Vertreter der meist technisch orientierten Provinz-Intelligenz, die nie in den Partei- und Sowjetstrukturen gearbeitet hatten und angesichts fehlender Erfahrungen in der Verhandlungsdiplomatie und wenig ausgeprägter Kompromissbereitschaft zu technokratischem Dogmatismus und extremen Entscheidungen neigten.
So gab es innerhalb der neuen politischen Elite der Russlanddeutschen von Anfang an zwei Gruppen politischer Aktivisten mit unterschiedlichen Mentalitäten, wodurch spätere Meinungsverschiedenheiten und Zwietracht praktisch schon vorgezeichnet waren. Abgesehen davon gab es zwischen den beiden beschriebenen Gruppen natürlich auch fließende Übergänge.
Einen entscheidenden Anstoß für die Wiedergeburt der nationalen Bewegung gab der bevorstehende 70. Jahrestag der Gründung des Gebiets (bzw. der Arbeitskommune) der Wolgadeutschen. Wie bereits 1965 wurden Delegationen nach Moskau entsendet und Treffen im ZK der KPdSU und im Obersten Sowjet der UdSSR (April bis Oktober 1988) organisiert. Eine wichtige Rolle spielte dabei Hugo Wormsbecher, der noch auf entsprechende Erfahrungen aus den 1960er Jahren zurückgreifen konnte. Bei diesen Treffen konnte ein gewisses gegenseitiges Verständnis erzielt werden, so dass im März 1989 die Allunionsgesellschaft für Politik, Kultur und Bildung der Sowjetdeutschen „Vozroždenie“ [Wiedergeburt] gegründet werden konnte.
Im ersten Jahr des Bestehens von „Vozroždenie“ bewahrte die auf eine schnelle Wiedererrichtung der deutschen national-territorialen Autonomie an der Wolga hoffende Führung wenigstens nach außen den Anschein von Einigkeit. Viele der Führungspersönlichkeiten der deutschen Bewegung (Heinrich Groth [Grout], Hugo Wormsbecher, Jurij Haar [Gaar] u.a.) wurden im russlanddeutschen Milieu zu bekannten und populären Figuren, weil sie sowohl in der Öffentlichkeit als auch gegenüber den Machthabern mutig für eine völlige Rehabilitierung ihres Volkes eintraten. Aber bereits auf der zweiten Konferenz von „Vozroždenie“ flammte im Januar 1990 ein ernster Konflikt auf, der sich in den Folgemonaten schnell weiter verschärfen sollte.
Das Auftreten einzelner Führungsfiguren der deutschen Bewegung erwies sich als wenig durchdacht und sogar schädlich für die deutsche Bewegung. So hatten unbedachte Äußerungen einiger Radikaler wie z.B. die Drohung, mit der örtlichen Führung des Wolgagebiets in Zukunft „aufzuräumen“, zur Folge, dass unter den Wolgadeutschen auf dem Gebiet der früheren ASSR eine Anti-Autonomie-Stimmung aufkam, die sich mit Hilfe der lokalen Behörden recht schnell zu einer starken Protestbewegung entwickelte.
Mittlerweile sind Dokumente veröffentlicht worden, aus denen klar hervorgeht, dass in jenen stürmischen Tagen eine realistische Chance auf Wiedererrichtung der deutschen Autonomie an der Wolga verspielt wurde. So arbeitete die Saratover Führung sogar eine Projektvorlage zur Schaffung einer Region Saratov aus, die auch ein deutsches Gebiet enthalten sollte. Eine solche Unterordnung der deutschen Autonomie unter Saratov hatte bereits in den Jahren 1928–1937 bestanden – bis 1934 innerhalb der Region Untere Wolga, dann in der Region Saratov. Aber die Führungspersönlichkeiten der deutschen Bewegung schlugen das Angebot aus und beharrten auf ihrer Forderung, die ASSR der Wolgadeutschen auf dem Vorkriegsgebiet und mit Vorkriegsstatus (unmittelbare Unterordnung unter Moskau) zu errichten.
Je länger sich die Lösung der „deutschen Frage“ hinzog, desto tiefer wurden die Gräben innerhalb der sowjetdeutschen Elite, die schließlich im Zuge der Vorbereitung der Ersten Konferenz der Deutschen der UdSSR ganz offen zutage traten. Gerade diese Konferenz bewirkte eine tiefe Spaltung in der nationalen Bewegung der Russlanddeutschen, deren Folgen noch lange nachwirkten und bis heute zu spüren sind.
Durch radikales Auftreten, politische Taubheit und die fehlende Bereitschaft, um der Bewahrung der Einheit willen auch nur den kleinsten Kompromiss innerhalb der eigenen Organisation einzugehen, provozierte die von Heinrich Groth [Grout] angeführte Mehrheit von „Vozroždenie“ immer wieder die Abspaltung einzelner Gruppen und begründete dadurch die unselige Tradition der Zersplitterung der russlanddeutschen Bewegung in immer neue einander bekämpfende Organisationen. Am 14. Mai 1991 wurde der von Petr Falk und Hugo Wormsbecher angeführte „Verband der Deutschen in der UdSSR“ gegründet. Für ein noch größeres Durcheinander innerhalb der politischen Elite der Russlanddeutschen sorgte eine kleine, aber überaus lautstarke Gruppe um Kurt Wiedmayer, die sich mit dem Vorschlag hervortat, eine deutsche Autonomie auf dem Territorium des Gebiets Kaliningrad einzurichten, und im August ihre eigene Organisation „Baltische Liga“ gründete. Es gab auch noch weitere politische Gruppen.
Der weitere Verlauf der Ersten Konferenz der Deutschen der UdSSR (Oktober 1991) brachte wie auch die folgenden Konferenzen der Deutschen der früheren UdSSR (im März 1992 und im Februar 1993) nicht nur keine Annäherung, sondern spaltete die verschiedenen deutschen Eliten nur noch weiter; dieser Prozess endete mit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Erklärung des Präsidenten Boris El’cin vom 8. Januar 1992, in der den Autonomieplänen der Wolgadeutschen faktisch eine Absage erteilt wurde.
Die vierte Etappe der gesellschaftlichen Bewegung der Russlanddeutschen hatte im Vergleich zu allen vorhergehenden und folgenden den größten Massencharakter. Es kam zu einer beispiellosen Mobilisierung des Volkes, zu einer Rückbesinnung auf die nationalen Ursprünge und zu einer Wiederbelebung der Volkskultur und ihrer Traditionen. Allein schon die Tatsache, dass sich die Deutschen frei versammeln und ihre Probleme diskutieren, ihre Feiertage begehen und Gottesdienste besuchen durften, sorgte für Euphorie. Eben zu dieser Zeit begann sich das Netz der deutschen national-kulturellen Zentren und Begegnungsstätten im ganzen Land zu entwickeln.
Am 28. Juni 1991 wurde der von Heinrich Martens geführte „Internationale Verband der deutschen Kultur“ (IVDK) gegründet, der seinen unpolitischen Charakter erklärte und für die Förderung und Wiederbelebung der nationalen Kultur der Deutschen stand.
Als objektive Gründe für das Scheitern der deutschen gesellschaftlichen Bewegung in der vierten Phase lassen sich die allgemeine Krise des Sowjetsystems, der Zusammenbruch der Wirtschaft und die Zuspitzung der Widersprüche in allen Bereichen des öffentlichen Lebens nennen. Das „deutsche Problem“ stand für die sowjetische Führung bei weitem nicht an erster Stelle. Auch trug die Regierung durch ihr Handeln nicht selten dazu bei, die Spaltung innerhalb der Führung der Bewegung weiter zu vertiefen. So gaben sowohl die russische als auch die bundesdeutsche Regierung der Gruppe um Wormsbecher und das Organisationskomitee der Konferenz den Vorzug und sorgten dadurch im gegnerischen Lager für Verbitterung und Hysterie. Einstige Kampfgefährten wurden zu Todfeinden.
In den Konflikten der politischen Elite trat deren „sowjetische Prägung“ deutlich zutage: fehlende Erfahrung in einem demokratischen Umfeld zu wirken, Unvermögen und mangelnde Bereitschaft, sich in die Lage des Opponenten zu versetzen und Kompromisse einzugehen. Ich denke, dass gerade darin die große Tragik der Führer der Perestrojka-Zeit lag. Ein weiterer Fehler bestand sicherlich darin, sich einzig und allein auf die Frage der Wiedererrichtung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen zu versteifen und alles auf diese Karte zu setzen. Auf diese Aufgabe war auch das Volk eingestimmt. Deshalb wurde die Niederlage in diesem Kampf von vielen als nicht wieder gut zu machende Tragödie erlebt, so dass Heinrich Groths [Grout] provokanter Aufruf, geschlossen nach Deutschland auszureisen, leider auf allzu offene Ohren traf.
Die folgende fünfte Etappe der nationalen Bewegung fällt in die Jahre 1992–1996 und lässt sich als Phase der Neuorientierung in Richtung einer Lösung der sozio-ökonomischen und national-kulturellen Probleme der Russlanddeutschen charakterisieren.
Die Entstehung neuer unabhängiger Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion trug objektiv zur Zersplitterung der deutschen politischen Vereinigungen bei, die sich auf unterschiedlichen Seiten der Grenzen wiederfanden, und schwächte den Kampfgeist sowohl der radikalen als auch der gemäßigten politischen Führer. In den Jahren 1992 bis 1993 ließ sich ein rasanter Rückgang der politischen Aktivitäten sowohl bei der Masse der Deutschen als auch in ihrer politischen Elite beobachten, die nun gezwungen war, ihre Kräfte neu zu bündeln und sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Zugleich wurde die Emigrationsbewegung immer stärker.
Nach Verabschiedung der neuen Verfassung der Russischen Föderation, Inkrafttreten neuer Prinzipien der national-territorialen Ordnung und Bildung neuer Verfassungs- und Verwaltungsorgane tat sich die politische Elite der Russlanddeutschen schwer, ihren Platz in der veränderten Ordnung zu finden. Außerdem begann sie schnell wegzubrechen, da viele Aktivisten der unterschiedlichen deutschen Organisationen nach Deutschland emigrierten. Unter diesen Bedingungen setzte ihr schneller Niedergang ein.
Die Initiative zur Entscheidung der Zukunft der Russlanddeutschen lag zunehmend in den Händen der neuen russischen Führung und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Wie Tat‘jana Ilarionova völlig zutreffend anmerkt, wurde der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung Horst Waffenschmidt dank seiner Aktivität, seinen häufigen Reisen nach Russland und energischen Verhandlungen mit Präsident Boris El’cin und anderen hochrangigen russischen Politikern zu einer Figur der Innenpolitik der Russischen Föderation.
Schließlich wurden Finanzmittel nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Wirtschafts- und Finanzkrise zum entscheidenden Hebel der Lösung der Probleme der Russlanddeutschen. Gerade die Verteilung der von Deutschland und Russland bewilligten Mittel bestimmte die Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen Gruppen der deutschen politischen Elite in Russland. 1996 wurde das föderale Programm zur Unterstützung der Entwicklung der Russlanddeutschen angenommen, dessen praktische Umsetzung bei dem staatlich-gesellschaftlichen Fonds „Russlanddeutsche“ lag, sein Vorsitzender I. Becker wurde zu einer der Schlüsselfiguren bei der Neuformierung der russlanddeutschen politischen Elite.
Die Regierungen Russlands und Deutschlands entschieden sich in dieser Situation für eine pragmatische Weichenstellung und legten den Schwerpunkt auf sozial-ökonomische und national-kulturelle Programme. Unter diesen Umständen zogen sich die an Einfluss verlierenden politischen Organisationen („Vozroždenie“, „Verband der Russlanddeutschen“ u.a.) immer mehr in eine Scheinwelt zurück, während andererseits die unpolitischen Organisationen wie der „Internationale Verband der deutschen Kultur“ (IVDK) und die weniger einflussreichen „Öffentliche Akademie der Wissenschaften der Russlanddeutschen“, „Deutsche Jugendvereinigung“ u.a. an Boden gewannen.
Rechtzeitig umorientieren konnten sich die politischen Vertreter der Wolgadeutschen, die 1993 mit der „Landsmannschaft der Wolgadeutschen“ eine universell orientierte Organisation gründeten, die sich die Lösung aller Probleme der Wolgadeutschen auf die Fahnen schrieb und die die regionalen Abteilungen der gesamtrussischen deutschen Organisationen unter ihren Einfluss bringen konnte. Angesichts der Tatsache, dass sich die Landsmannschaft auf die Lösung der sozio-ökonomischen und national-kulturellen Probleme der Wolgadeutschen konzentrierte, konnte sie einen Teil der russischen und bundesdeutschen Finanzströme in die Wolgaregion lenken und sich dadurch einen unmittelbaren Zugriff auf deren Verteilung und Verwendung verschaffen.
Besonders hervorzuheben ist, dass eine ganze Reihe von Vertretern der russlanddeutschen politischen Elite in den für Nationalitätenpolitik zuständigen Regierungsstrukturen aufsteigen konnten. Den Anfang machte der frühere Volksdeputierte der UdSSR und Vorsitzende des „Verbands der Deutschen der UdSSR“ Petr Falk, der die 1991 im Vorfeld des Ersten Kongresses der Deutschen der UdSSR im Staatskomitee für Nationalitätenfragen gegründete Abteilung für Völker ohne eigene Staatlichkeit leitete. Später arbeiteten im Staatskomitee bzw. im Ministerium für Nationalitätenpolitik zu unterschiedlichen Zeiten Arthur Weher [Veer], Vladimir Schreiner [Šrajner], Vladimir Bauer, Natal‘ja Wardenburg u.a. Dies versetzte einige von ihnen in die Lage, in diesen Strukturen Netzwerke aufzubauen, dank derer sie im Kampf um die Verteilung staatlicher Mittel nicht selten Vorteile für ihre Organisationen herausschlagen konnten.
Insgesamt war diese Phase von einem Abflauen der politischen Auseinandersetzungen und einer Art Waffenstillstand zwischen den zuvor verfeindeten Gruppen geprägt.
Dieser Friede währte bis 1997. Grund für den neuerlichen Ausbruch der Konflikte war das 1996 verabschiedete föderale Gesetz „Über die nationale Kulturautonomie“, das den Russlanddeutschen den Aufbau einer neuen staatlich-gesellschaftlichen Struktur mit guten Finanzierungsperspektiven ermöglichte. Damit begann die sechste Etappe der nationalen Bewegung, die sich durch die Tätigkeit der Föderalen Nationalen Kulturautonomie der Russlanddeutschen (FNKA) auszeichnete und bis April 2009 dauerte.
Die wendigsten Vertreter der deutschen politischen Elite, die sich bis dato im Hintergrund gehalten hatten, merkten schnell, welche persönlichen Vorteile sich aus der Führung der neuen Organisation ziehen ließen, und begannen eine aktive Kampagne zum Aufbau neuer Strukturen. Im Kampf um die Kontrolle über die Föderale nationale Kulturautonomie der Russlanddeutschen spielte die Gruppe um Vladimir Bauer, der als Stellvertretender Minister für Nationalitätenfragen der Russischen Föderation seine „administrativen Ressourcen“ ausspielen konnte, von Anfang an eine führende Rolle.
Nachdem im Verlauf des Jahres 1997 in den einzelnen Subjekten der Föderation lokale Strukturen der nationalen Kulturautonomie gegründet worden waren, fand am 19./20. Dezember 1997 der Gründungskongress der Föderalen nationalen Kulturautonomie der Russlanddeutschen statt, auf dem Vladimir Bauer zum Präsidenten gewählt wurde. Auch wenn die meisten Posten in der Führung der FNKA mit Mitstreitern Bauers besetzt wurden, waren zu diesem Zeitpunkt noch Repräsentanten aller gesellschaftlichen Organisationen der Russlanddeutschen aktiv in der FNKA vertreten. Der politischen Elite der Russlanddeutschen bot sich die einmalige Chance, die gemeinsamen Anstrengungen im Dienst am eigenen Volk auszurichten. Doch statt die Chance zur Konsolidierung zu nutzen, reproduzierte die Führung der FNKA erneut die Arbeits- und Umgangsformen, die bereits für „Vozroždenie“ charakteristisch waren.
Vom ersten Tag ihres Bestehens an erhob die Führung der FNKA mit Vladimir Bauer an der Spitze den Anspruch, die einzig legitime Vertretung aller Interessengruppen der Russlanddeutschen zu sein und folglich auch das alleinige Recht auf Erhalt und Verteilung der zur Unterstützung der deutschen Minderheit vorgesehenen russischen und bundesdeutschen Gelder zu haben. So war es nur folgerichtig, dass die FNKA unverzüglich versuchte, alle anderen Organisationen unter ihre Kontrolle zu bringen, was bei diesen zwangsläufig auf heftigen Widerstand stieß. So begann eine neue Phase des aufreibenden Kampfes innerhalb der politischen Elite der Russlanddeutschen.
Der neue Konflikt wurde schon bald in aller Öffentlichkeit ausgetragen, da jede der beteiligten Gruppierungen über ein eigenes Presseorgan verfügte. Zum Organ der FNKA wurde die Zeitung „Neues Leben“, die lange eine kümmerliche Existenz gefristet hatte, bevor Vladimir Bauer sie sich aneignete. Bauers Gegner innerhalb der FNKA schlossen sich um die von Heinrich Martens herausgegebene „Moskauer Deutsche Zeitung“ zusammen.
Als Vladimir Bauer den offenen Widerstand gegen seine Linie vonseiten der Vertreter anderer gesellschaftlicher Organisationen spürte, schloss er diese Opposition – gestützt auf die Mehrheit seiner Anhänger im Präsidium der FNKA – einfach aus der FNKA aus. In gleicher Weise ging er auch gegen alle anderen Mitglieder der FNKA vor, die im Zentrum oder in den Regionen versuchten, gegen ihren Präsidenten zu opponieren.
Die Gegner der FNKA wählten drei Richtungen des Kampfes: Erstens ergriffen sie ernsthafte Maßnahmen, um einen Zusammenschluss aller Gleichdenkender der FNKA-Führung sowohl im Zentrum als auch in den Regionen zu erreichen und gründeten mit diesem Ziel die Vereinigung „Vozroždenie, Edinstvo, Soglasie“ [„Wiedergeburt, Einheit, Eintracht“]. Zweitens intensivierten sie ihre Aktivitäten in den Regionen, um die lokalen Strukturen der FNKA unter ihre Kontrolle zu bringen. Drittens begannen sie, einen neuen Kongress der Russlanddeutschen vorzubereiten, um die FNKA über dieses höchste Repräsentationsforum der deutschen Bevölkerung des Landes in ihre Hände zu bringen. Diese Strategie zeigte Erfolge: So unterstützten 19 der 27 registrierten regionalen national-kulturellen Autonomien die Forderung, Anfang 2001 einen Kongress der Russlanddeutschen abzuhalten.
Es liegt auf der Hand, dass dieses neuerliche Aufflammen der Konflikte weder bei der russischen noch bei der bundesdeutschen Führung für Begeisterung sorgte und Zweifel an der Fähigkeit der russlanddeutschen politischen Elite nährte, die Probleme der Russlanddeutschen zu lösen. Dies wiederum zog eine Kürzung der für die Russlanddeutschen vorgesehenen Finanzhilfen sowie die Einstellung bzw. das Einfrieren einer Reihe von Programmen und Projekten nach sich. Vladimir Bauer und seine Anhänger reagierten darauf mit einer umfassenden und unverblümten Kritik nicht nur an ihren „Gegnern“ innerhalb der russlanddeutschen Organisationen, sondern auch an den Führungskreisen Russlands und insbesondere der Bundesrepublik Deutschland.
Schließlich trat die extreme Position der Gruppierung Bauers so offen zutage, dass sich seine Opponenten sowohl innerhalb als auch außerhalb der FNKA zusammenschlossen, um ihn mit vereinten Kräften zu „stürzen“. Neuer Präsident der FNKA der Russlanddeutschen wurde Viktor Baumgärtner. Aber auch die Neubesetzung der Führungsposten brachte keine wirkliche Änderung des Stils, der Methoden und der Umgangsformen innerhalb der FNKA. Auch unter der Führung Baumgärtners wurde die Arbeit der FNKA durch einen autoritären Führungsstil und das Unvermögen geprägt, gute Beziehungen zu den lokalen Organisationen und den Regierungsstrukturen Russlands und Deutschlands zu unterhalten. Hinzu kam die Tendenz, die im Zentrum (IVKD) und vor Ort (Begegnungsstätten) geleistete national-kulturelle Arbeit gering zu schätzen oder sogar vom Standpunkt der vorgeblichen Hauptaufgabe – der Wiedererrichtung der territorialen Autonomie – als schädlich einzustufen.
Zugleich schlugen die neuen Führungspersönlichkeiten der FNKA, die sich des immer ephemeren Charakters der Möglichkeit einer Wiedererrichtung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen durchaus bewusst zu sein schienen, als neues Ziel die utopische Idee vor, vom Staat ein anderes Territorium als künftige kompakte Siedlungsregion der Russlanddeutschen zu erhalten. Die Führung der FNKA verlor zunehmend die Kontrolle über die lokalen Organisationen, die sich angesichts der offensichtlichen Hilflosigkeit des Zentrums ihrerseits gezwungen sahen, die Lösung ihrer Probleme selbst in die Hand zu nehmen und russische und deutsche Finanzquellen zu suchen. Das wiederum provozierte immer neue Konflikte und ließ die Autorität der deutschen Organisationen zusehends schwinden.
Angesichts dieser immer unbefriedigenderen Situation ergriffen die lokalen Strukturen der FNKA und der national-kulturellen Organisationen der Zentralregion 2007 die Initiative zum Aufbau einer Bewegung der Selbstorganisation, die recht schnell in anderen Regionen Fuß fasste und immer mehr Anhänger gewinnen konnte. Die Selbstorganisation konzentrierte sich auf Fragen der national-kulturellen Entwicklung der Deutschen, was ihr die Unterstützung des IVDK einbrachte, mit dem die FNKA aus alter Tradition einen unversöhnlichen Kampf führte. So bildete sich eine Koalition zentraler und lokaler Organisationen, die dafür eintrat, die Arbeitsmethoden der deutschen Organisationen grundlegend zu ändern.
Die Bewegung der Selbstorganisation trat für die Einberufung eines außerordentlichen Kongresses der Russlanddeutschen ein, der die ineffektive Führung der FNKA ablösen sollte. Diese Idee fand immer mehr Anhänger und wurde im April 2009 schließlich realisiert. Der Kongress wählte – gestützt auf die absolute Mehrheit der Reformkräfte unter den Delegierten – neue Führungsorgane der FNKA. Neuer Vorsitzender wurde Heinrich Martens.
So begann 2009 die siebte, bis heute anhaltende Etappe der Entwicklung der nationalen Bewegung der Russlanddeutschen – die Etappe der Selbstorganisation. Auch wenn viele Probleme weiterhin bestehen, hat dieses neue System der Organisation der Russlanddeutschen in den letzten sechs Jahren seine Lebensfähigkeit unter Beweis gestellt. Was imponiert, ist die Tatsache, dass alle Subjekte der Selbstorganisation in die Entscheidungsprozesse einbezogen sind und Probleme demokratisch und mit Rücksicht auf andere Meinungen diskutiert werden. Die Organe der Selbstorganisation lernen, sammeln Erfahrung und geben Anlass zur Hoffnung, dass in der aktuellen Phase ein Ausweg aus dem Teufelskreis der inneren Zwietracht und der autoritären Führung gefunden wird und die Beziehungen sowohl zwischen den Organisationen als auch zwischen den Mitgliedern auf eine höhere Stufe gehoben werden.
Aus dem Russischen übersetzt von Lars Nehrhoff, Köln