Die Nikolaipoler Mennonitensiedlungen
Einleitende Bemerkungen
Gewaltsame Konflikte zwischen den Bürgern eines Landes und Bürgerkriege als deren radikalste Zuspitzung erschüttern eine Gesellschaft in ihren Grundfesten und führen in letzter Konsequenz zu ihrer gnadenlosen Zerstörung. Der vor hundert Jahren in den Weiten des einstigen Russischen Reiches wütende blutige Bürgerkrieg zog ausnahmslos alle in Russland lebenden sozialen Gruppen, Nationalitäten und Konfessionen in seinen Strudel. Die Ereignisse des Bürgerkriegs waren und sind traditionell Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung, die das Geschehene aus allen möglichen Blickwinkeln betrachtet. Einen wichtigen Aspekt bildet dabei die Analyse des Verhaltens einzelner in den kriegerischen Konflikt verwickelter nationaler und konfessioneller Bevölkerungsgruppen. In diesem Zusammenhang ist die Erforschung der Verhaltens- und Überlebensstrategien der den nationalen Minderheiten zugehörigen religiösen Pazifisten von erheblichem Forschungsinteresse.
Die zahlenmäßig größte Gruppe religiöser Pazifisten stellten die Mennoniten dar – eine deutschsprachige ethnokonfessionelle Gruppe, deren Vorfahren als ausländische Siedler vor allem in die Schwarzmeerregion gekommen waren. Angesichts dieser geografischen Gegebenheiten fanden sich die traditionell vom Wehrdienst befreiten und in der Regel eher wohlhabenden Mennoniten im Epizentrum der Kampfhandlungen des Bürgerkriegs wieder. Ihr Status als nationale und konfessionelle Minderheit hatte zur Folge, dass sich vor allem ihre einst aus Russland emigrierten Nachkommen für das Thema interessierten. Dabei war es angesichts einer begrenzten Menge an verfügbaren Quellen zunächst überaus schwierig, ein umfassendes Bild der Ereignisse zu zeichnen, so dass es dringend geboten scheint, die Analyse auf eine breitere Quellenbasis zu stellen.
Dieser Aufgabe hat sich Aleksandr Beznosov erfolgreich angenommen. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass der Historiker sich auf verschiedene Quellenkomplexe stützt: Neben bereits zuvor in einem von dem bekannten mennonitischen Historiker J.B. Toews herausgegebenen Sammelband veröffentlichtem Material erschließt und analysiert der Autor erstmals einzigartige Archivdokumente: Im Einzelnen handelt es sich dabei um die Materialien des Nikolaipoler Amtsbezirkssowjets, anhand derer sich die Haltung sowohl der Mennoniten selbst als auch der örtlichen Vertreter der Staatsmacht und der benachbarten ukrainischen und russischen Bevölkerung nachzeichnen lässt. Eine weitere wichtige Quellengruppe bilden Materialien einer historisch-ethnografischen Expedition, in deren Verlauf Mitarbeiter der Nationalen Universität Dnepropetrovsk einschließlich des Autors 2001 die Erinnerungen alteingesessener Bewohner der früheren Nikolaipoler Kolonien gesammelt haben, die die Archivdokumente in erheblichem Ausmaß ergänzen.
Im vorliegenden Aufsatz unternimmt Beznosov den Versuch, das Schicksal der in der Ukraine lebenden Mennoniten zur Zeit des Bürgerkriegs im Rahmen eines mikrohistorischen Ansatzes am Beispiel einer kleinen Gruppe der in den Kolonien des Amtsbezirks Nikolaipol ansässigen Mennoniten zu untersuchen.
Der Autor analysiert die Geschichte der Nikolaipoler Kolonien im Verlauf der einzelnen Etappen des Bürgerkriegs, die zeitlich mit dem Bestehen mehrerer politischer Regime in der Region zusammenfielen: Die Ukrainische Volksrepublik, der Ukrainische Staat des Hetman Skoropadskij, das Ukrainische Direktorium, die Bolschewiki, die Weiße Armee General Anton Denikins, die Armee des Anarchisten Nestor Machno und schließlich erneut die Bolschewiki, die jetzt endgültig die Macht an sich rissen.
Beznosov weist darauf hin, dass die Überlebensstrategie der Bevölkerung v.a. darin bestand, Kompromisse mit allen Konfliktparteien zu suchen. Dies schloss in vielen Fällen auch die Bereitschaft ein, umfangreiche Requirierungen von Besitz und Lebensmitteln zu akzeptieren und zog somit letztlich den weitgehenden ökonomischen Ruin der Siedlungen nach sich.
Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor der Frage der Aufstellung und Aktivität mennonitischer Selbstschutzeinheiten – ein bislang kaum erforschter Aspekt, dem die mennonitische Geschichtsschreibung angesichts des Widerspruchs zu den Grundprinzipien der mennonitischen Glaubenslehre nur wenig Aufmerksamkeit zukommen ließ. Beznosov zeigt, dass die Gründung des Selbstschutzes eine durch die Notlage erzwungene Maßnahme darstellte, der sich nur ein Teil der Mennoniten um des physischen Überlebens willen anschloss, nachdem alle Versuche, zwischen den einzelnen Konfliktparteien zu lavieren und Konflikte friedlich beizulegen, gescheitert waren. Der vom Selbstschutz geleistete Widerstand provozierte auf Seiten der die Siedlungen überfallenden anarchistischen Einheiten Nestor Machnos heftige Gegenreaktionen, so auch massenhafte demonstrative Strafaktionen gegen die männliche Bevölkerung einzelner Kolonien. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der Autor dieser Einleitung die Verantwortung für die Überfälle und das Auslöschen der mennonitischen Siedlungen im Gegensatz zum Standpunkt der traditionellen mennonitischen Geschichtsschreibung nicht allein den Kommandos Machnos zuschreibt, sondern auch einen Teil der Bewohner der benachbarten ukrainischen Dörfer mit in die Verantwortung nimmt, die sowohl aus persönlicher Rache als auch aus Habgier Gewaltakte verübten.
In diesem Vorwort sind nur einige Aspekte und Probleme des Überlebenskampfes der pazifistischen Mennoniten aus den Nikolaipoler Siedlungen in den Jahren des Bürgerkriegs angesprochen. Die Thematik des Aufsatzes von Aleksandr Beznosov ist breiter und vielschichtiger. Beznosovs Beitrag erschien erstmals auf Russisch in dem Sammelband „Voprosy germanskoj istorii“ (Dnepropetrovsk, 2002).
Aleksandr Innokent’evič Beznosov ist Kandidat der Historischen Wissenschaften und führender Spezialist für Geschichte am Lehrstuhl für Geschichte und Kultur des Instituts für Ethnokulturelle Bildung – BIZ (Moskau, Russland) sowie Verantwortlicher Sekretär und Vorstandsmitglied der Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen.
Die Nikolaipoler Mennonitensiedlungen in den Jahren des Bürgerkriegs (1918–1920)
Die Jahre der Revolution und des Bürgerkriegs 1917–1920 gehörten zu den schwierigsten und tragischsten Zeiten in der Geschichte der Ukraine. In den Strudel der blutigen Ereignisse wurden wohl oder übel Vertreter aller Klassen und Stände, Nationalitäten und religiösen Bekenntnisse hineingezogen. Dabei bildeten auch die in der Ukraine ansässigen Mennoniten keine Ausnahme.
Bedauerlicherweise wurde dieser Phase der Geschichte der in der Ukraine lebenden Mennoniten in der russischen Geschichtsschreibung nie die gebührende Aufmerksamkeit zuteil.
Das Ziel der vorliegenden Studie besteht darin, die Hauptereignisse in Leben und Geschichte der in den Nikolaipoler Kolonien ansässigen Bevölkerung zur Zeit des Bürgerkriegs zu rekonstruieren und deren Beziehungen zu den verschiedenen militärischen und politischen Gruppierungen jener Zeit zu analysieren.
Als Quellenbasis dienten vor allem die im Staatsarchiv des Gebiets Dnepropetrovsk verwahrten Dokumente des Nikolaipoler Amtsbezirkssowjets sowie das bislang unveröffentlichte Material einer im Jahr 2001 vom Institut für Ukrainisch-Deutsche Forschungen der Nationalen Universität Dnepropetrovsk durchgeführten historisch-ethnografischen Expedition.
Anfang des 20. Jahrhundert lagen auf dem Gebiet des Amtsbezirks Nikolaipol (Bezirk Ekaterinoslav/Gouvernement Ekaterinoslav) fünf große Siedlungen, die Ende der 1860er – Anfang der 1870er Jahre gegründet worden waren. Nach Angaben aus dem Jahr 1908 lebten in Nikolaipol (Nikolajfeld), Varvarovka (Franzfeld), Morozovo (Hochfeld), Dolinovka (Adelsheim) und Dubovka (Eichenfeld) 1 066 Einwohner auf insgesamt 182 Höfen. Darüber hinaus gab es im Amtsbezirk zahlreiche Weiler, Einzelgehöfte und Landgüter wie z.B. Elenovka, Čistopol’, Nedežkovka, Ivangorod, Pavlovka, Petersdorf usw.
Die Wirtschaft des Amtsbezirks war vor allem von der Landwirtschaft geprägt, die wiederum auf die Produktion von Konsumgetreide spezialisiert war. Im Jahr 1911 verfügten die mennonitischen Dorfgemeinschaften über insgesamt 9 722 Desjatinen Land, die nach Angaben N.V. Ostaševas in der Regel in halbe 32-Desjatinen-Flurstücke aufgeteilt waren. Darüber hinaus gehörten den im Amtsbezirk ansässigen privaten mennonitischen Landbesitzern 2 252 Desjatinen. Zugleich lebte in den Kolonien auch eine recht große Zahl landloser mennonitischer Familien. Neben der Landwirtschaft gab es im Amtsbezirk in Form von jeweils drei Dampf- und Windmühlen sowie einigen Hirsemühlen und Buttereien auch ein eigenes verarbeitendes Gewerbe. Hinzu kamen zwei Ziegeleien, die hochwertige Ziegel und Dachziegel produzierten.
Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die Bevölkerung des Amtsbezirks bereits ihren früheren monoethnischen Charakter eingebüßt. So hatte der Amtsbezirk im Jahr 1910 461 (größtenteils ukrainische) orthodoxe sowie 210 lutherische und 61 katholische Einwohner, die allesamt landlos waren und sich wie die mennonitischen armen Bauern bei den wohlhabenden mennonitischen Landwirten als Landarbeiter verdingten. Ungeachtet dieser offensichtlichen Statusunterschiede traten die sozialen Gegensätze den verfügbaren Quellen zufolge nicht offen zu Tage und wurden erst durch die Ereignisse des heraufziehenden Bürgerkriegs an die Oberfläche transportiert.
Durch die am 7. November 1917 erfolgte Machtübernahme der Bolschewiki und den Sturz der Provisorischen Regierung verschärfte sich die politische Lage in Russland. Der Zweite Allrussische Sowjetkongress (7.–9. November 1917) verkündete den Übergang der gesamten Macht an die Sowjets, gründete in Form des von V.I. Lenin geführten Rats der Volkskommissare eine Provisorische Arbeiter- und Bauernregierung und verabschiedete die Dekrete über Boden und Frieden. In der Ukraine verkündete die Zentralrada am 7. November 1917 in ihrem III. Universal nicht nur die Gründung der Ukrainischen Volksrepublik (UNR) als föderalen Bestandteil Russlands, sondern auch die Abschaffung des Rechts auf Privatbesitz an Gutsherren- und sonstigem Land so genannter nicht werktätiger Wirtschaften, das entschädigungslos in den Besitz des gesamten werktätigen Volkes übergehen sollte. Die entsprechenden Bestimmungen sowohl des Universals als auch des Leninschen Bodendekrets berührten in erheblichem Maße die Interessen der in der Ukraine ansässigen mennonitischen Bevölkerung, die zu einem großen Teil aus Mittel- und Großbauern bestand. Den in der Ukraine lebenden nationalen Minderheiten garantierte das Universal eine Autonomie, die das Recht auf Selbstverwaltung der nationalen Angelegenheiten gewährleisten sollte.
Von Ende November 1917 an verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der Ukrainischen Volksrepublik und der RSFSR. Die Führung Sowjetrusslands war bestrebt, ihre Macht auf das Territorium der Ukraine auszudehnen, während die Zentralrada die Tätigkeit der Sowjets in der Ukraine verbot, Bolschewiki verhaftete und Kommandos der Roten Armee und revolutionär gesinnte Einheiten der alten Armee entwaffnete. Der am 24./25. Dezember 1917 stattfindende Erste Allukrainische Sowjetkongress wiederum verkündete die Gründung einer Ukrainischen Sowjetrepublik, erklärte die Ukraine zu einem föderalen Bestandteil der RSFSR und dehnte die Geltung der Dekrete und Anordnungen des Rats der Volkskommissare Sowjetrusslands auf deren Territorium aus. Zur Unterstützung der ukrainischen Bolschewiki wurden aus Rotarmisten und revolutionär gestimmten Matrosen und Soldaten bestehende Truppen aus Russland entsandt, die Ende Dezember 1917 bis Februar 1918 mit Hilfe ukrainischer Bolschewiki einen großen Teil der Ukraine unter Sowjetherrschaft bringen konnten, während die Zentralrada mitsamt ihrer zahlenmäßig kleinen Armee zum Rückzug in den nordwestlichen Teil der Republik gezwungen war.
Im Zuge des Aufbaus der Sowjetmacht kam es zu spontanen Enteignungen des Großgrundbesitzes sowie der Landgüter und Einzelgehöfte. Wie andere Mittel- und Großbauern wurden zu dieser Zeit auch zahlreiche Mennoniten Opfer von Plünderungen. In Nikolaipol und den benachbarten Amtsbezirken des Gouvernements Ekaterinoslav waren neben ukrainischen Bauern auch mindestens sechs Bewohner aus Nikolaipol aktiv an Plünderungen beteiligt.
Am 9. Februar 1918 schloss die Zentralrada in Brest-Litovsk einen Friedensvertrag mit Deutschland und seinen Verbündeten, da sie auf deren militärische Hilfe gegen die vorrückenden bolschewistischen Truppen sie hoffte.
Der Einzug der reichsdeutschen und österreich-ungarischen Truppen auf das Territorium der Ukraine begann am 18. Februar 1918. Anfang April erreichten österreichische Voraustruppen das Gebiet des Amtsbezirks Nikolaipol, deren Ankunft die mennonitische Bevölkerung mehrheitlich als Erlösung von den Bürden und Entbehrungen der Zeit der revolutionären Anarchie wahrnahm. Auf Befehl des Besatzungskommandos wurden im Amtsbezirk Repressionen gegen die örtlichen radikalen Elemente eingeleitet. So wurden allein im Zeitraum vom 8.–12. April sechs vom österreichischen Militärfeldgericht verurteilte Personen erschossen: die Deutschen Zinn, Pfeifer, I.E. Ilenseher und F.F. Faltin sowie die Brüder Valentin [möglicherweise die Mennoniten Warkentin, A. B.], denen zur Last gelegt wurde, sich aktiv an der Roten Garde und an Plünderungen beteiligt zu haben. Bei der Gerichtsverhandlung traten die Großgrundbesitzer Bergman, Friesen und Neustätter als Zeugen auf. Insgesamt verurteilten die Österreicher auf dem Gebiet des Amtsbezirks einschließlich der bereits Genannten 14 Personen zum Tod durch Erschießen.
Am 29. April 1918 sanktionierte die mit dem instabilen innenpolitischen Regime der Zentralrada unzufriedene reichsdeutsche und österreich-ungarische Oberste Führung den Staatsstreich des Hetman P. Skropadskij, dessen innen- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen die mennonitische Bevölkerung größtenteils positiv aufnahm. Die Regierung des Hetman bestätigte die Unantastbarkeit des Rechts auf privaten Landbesitz und sanktionierte de facto die Rückgabe des zuvor von den Bauern enteigneten Landes der Gutsbesitzer. Zusammen mit anderen Großgrundbesitzern beteiligten sich auch einige von den Enteignungen betroffene Nikolaipoler Mennoniten aktiv an den gegen die revolutionäre Bewegung in den ukrainischen Dörfern gerichteten Strafaktionen der Besatzungstruppen und des Hetmanschen Staatsschutzes. In dem im Bezirk Ekaterinoslav gelegenen Dorf Trituznoe erschossen die Landbesitzer Friesen und Neustätter eigenhändig sieben ukrainische Bauern, denen die Plünderung ihrer Besitzungen zur Last gelegt wurde. Im Amtsbezirk Solenoe wurden die örtlichen Bauern auf dem Hof der Bergmannschen Wirtschaft zusammengetrieben und auf Forderung des Besitzers der Prügelstrafe unterzogen bzw. in einigen Fällen erschossen.
In den meisten Fällen trugen derartige Strafexpeditionen allerdings nicht zur „Befriedung“ der ukrainischen Bauernschaft bei, sondern verstärkten im Gegenteil nur deren revolutionäre Stimmung, da die Strafaktionen in der Regel nur einfache Mitläufer oder gar gänzlich unschuldige Menschen trafen, während sich die Organisatoren der Plünderungen in den meisten Fällen rechtzeitig absetzen konnten. So entstanden bald Dutzende kleinerer Aufstandskommandos und -gruppen, die einen Partisanenkrieg gegen die österreich-ungarischen und deutschen Truppen und das Hetman-Regime führten. Im Gouvernement Ekaterinoslav schlossen sich die meisten dieser Kommandos im Herbst 1918 nach und nach zu der unter dem Kommando N.I. Machnos stehenden Aufstandsarmee zusammen, die im September/Oktober 1918 in den Bezirken Aleksandrovsk und Mariupol’ zahlreiche Einzelgehöfte und Güter russischer, ukrainischer, mennonitischer und deutscher Landbesitzer plünderte, die sich an den Strafexpeditionen beteiligt hatten. Auch einige Tochterkolonien hatten unter den Überfällen zu leiden und wurden zerstört. So drohte den Mennoniten nicht nur die völlige ökonomische Zerrüttung, sondern auch die physische Auslöschung der gesamten Bevölkerung.
Als zuverlässigster Garant ihrer Sicherheit blieben den in der Ukraine ansässigen Deutschen nur die reichsdeutschen und österreich-ungarischen Truppen, die allerdings größtenteils in den Verwaltungszentren und Eisenbahnknotenpunkten stationiert und deshalb kaum in der Lage waren, die Situation im ganzen Land und insbesondere in den ländlichen Regionen zu kontrollieren. Deshalb sollte die wohlhabende Bevölkerung der Region einschließlich der deutschen Kolonisten und Mennoniten auf Beschluss des Besatzungskommandos den Schutz ihrer Siedlungen selbst in die Hand nehmen und zur Abwehr der von den Aufständischen und kriminellen Banden verübten Angriffe lokale Selbstschutzkommandos aufstellen, deren Ausbildung und Bewaffnung das österreichisch-deutsche Kommando übernahm.
Die Idee der Aufstellung von Selbstschutzkommandos wurde von den Mennoniten allerdings mit äußerst gemischten Gefühlen aufgenommen, da diese einem ihrer Hauptglaubensgrundsätze zuwiderlief – der Weigerung, mit der Waffe in der Hand Militärdienst zu leisten. Im Amtsbezirk Nikolaipol sprachen sich sowohl die Führer der beiden Gemeinden der Kirchen- und Brüdermennoniten als auch namhafte Vertreter der Öffentlichkeit wie G. Andres, Ja. Neufeld, G. Gisbrecht, K. Dick u.a. gegen die Gründung von Selbstschutzeinheiten aus, da ein solcher Schritt nicht nur in eklatantem Widerspruch zu ihrer Glaubenslehre stand, sondern die Mennoniten auch in einen offenen Krieg gegen die revolutionär gesinnten ukrainischen Bauern gezogen hätte, den sie nicht gewinnen konnten.
Vom 30. Juni bis 2. Juli 1918 diskutierten die Mennoniten diese für alle ihre in der Ukraine lebenden Glaubensbrüder äußerst wichtige Frage auf einer eigens einberufenen Konferenz in der Moločansker Kolonie Lichtenau. Ungeachtet der kategorischen Weigerung der meisten Prediger, die Gründung von Selbstschutzkommandos gutzuheißen, wurde eine Kompromisslösung verabschiedet, der zufolge die mennonitische religiöse Gemeinde als Ganzes weiterhin am festen Dogma der Waffenlosigkeit festhielt, die Entscheidung, sich mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, aber jedem einzelnen Mennoniten selbst überlassen wurde.
Im Amtsbezirk Nikolaipol sprachen sich bis Herbst 1918 immer mehr Einwohner für die Gründung eines lokalen Selbstschutzes aus, die schließlich unter der Führung und Kontrolle des Chefs der örtlichen österreichischen Garnison umgesetzt wurde, der alle Männer im Alter von 18-35 Jahren verpflichtete, den Selbstschutzeinheiten beizutreten. Jedes Dorf stellte eigene Selbstschutzkommandos auf, die größtenteils aus Infanteristen bestanden und u.a. von P. van Kampen, Ja. Nibur und Ja. Dick geführt wurden. Zu jeder Einheit gehörten zudem jeweils etwa 10-20 Kavalleristen, deren Aufgabe darin bestand, die Verbindung zwischen den Siedlungen sicherzustellen und nächtliche Wachdienste zu halten. Alle Selbstschutzkommandos wurden von den Deutschen mit Gewehren und Munition in ausreichender Menge sowie jeweils einem Maschinengewehr ausgerüstet und militärisch ausgebildet. Alle Dorfkommandos waren einem einheitlichen Kommando unterstellt, das im Zentrum des Amtsbezirks stationiert war.
Nach der Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg und dem Ausbruch der Revolution in diesen Ländern waren die Besatzungstruppen gezwungen, sich aus der Ukraine zurückzuziehen, was den baldigen Sturz des Regimes Hetman P. Skropadskijs nach sich zog, an dessen Stelle das Direktorium trat. In Ekaterinoslav zwangen bewaffnete Anhänger S. Petljuras nach erbitterten Kämpfen die zahlenmäßig kleinen Einheiten des 8. Kaderkorps der früheren Hetman-Armee am 23. November 1918 zum Abzug und übernahmen am 27. November endgültig die Macht in der Stadt. Zugleich erklärte das für die Gründung und Stärkung eines unabhängigen ukrainischen Staates eintretende Direktorium die Nationalisierung des großen und mittleren Privatbesitzes (einschließlich des Landbesitzes) und dessen Übergabe an die Arbeiter und landlosen bzw. landarmen Bauern. Darüber hinaus sollten alle Personen, die sich zur Zeit des Hetman-Regimes Gewaltakte gegen die ukrainische Bauernschaft zu Schulden kommen lassen hatten, zur Rechenschaft gezogen werden.
Wahrscheinlich mit diesem Ziel wurde im Dezember 1918 unter der Führung eines gewissen Gladčenko ein mehrere hundert Mann starkes und mit Artillerie bewaffnetes Kommando in den Amtsbezirk Nikolaipol entsandt, das allerdings nördlich der Kolonie Morozovo vom Selbstschutz des Amtsbezirks gestoppt wurde. Im weiteren Verlauf der Ereignisse unternahmen die Soldaten Petljuras zwischen Dezember 1918 und Anfang Januar 1919 noch mehrere Versuche, auf das Territorium des Amtsbezirks vorzudringen, die allerdings allesamt nicht von Erfolg gekrönt waren. Bei diesen Kämpfen kamen die aus Morozovo bzw. Varvarovka stammenden Mitglieder des Selbstschutzes Frese und P. Ens ums Leben.
Anfang 1919 rückten sowjetische Truppen unter dem Kommando des Matrosen P. Dybenko von Sowjetrussland aus auf das Gebiet der Ukrainischen Volksrepublik vor und nahmen am 26. Januar 1919 von Einheiten Machnos unterstützt Ekaterinoslav ein. Anfang Februar 1919 vereinbarte Machno mit der Sowjetmacht ein gemeinsames Vorgehen gegen die Konterrevolution, woraufhin dessen Truppen der neu formierten 1. Sowjetischen Transdnepr-Division angeschlossen wurden.
Bald nach diesen Ereignissen erhielten die Bewohner des Amtsbezirks die Information, dass von Sinel’nikovo aus ein unbekanntes Kommando in Richtung Nikolaipol vorrückte, das auf seinem Weg über die deutsche Kolonie Jamburg und die ukrainischen Dörfer Volosskoe, Sura und Solonen’koe zahlreiche Plünderungen und Gewaltakte verübte. Bald darauf erschienen drei Vertreter dieses Kommandos im Amtsbezirk und forderten dessen Führung im Namen ihres Kommandeurs (eines gewissen Ivančenko) auf, die Waffen niederzulegen. Die Führung des Amtsbezirks beteuerte den Abgesandten gegenüber ihre Loyalität zur Sowjetmacht und bat darum, die Truppen nicht auf das Gebiet der Kolonien zu führen. Nachdem Ivančenko diese Bitte bei telefonischen Verhandlungen kategorisch zurückgewiesen hatte, beschlossen die Mennoniten, ihre Kolonien mit Waffengewalt zu verteidigen. Den bald darauf in der Gegend der mennonitischen Kolonie Morozovo erfolgenden Angriff der Einheiten Ivančenkos konnten die Mennoniten in erbitterten Kämpfen zunächst abwehren und den Angreifern empfindliche Verluste zufügen (drei Gefallene und 35 Verwundete). Im Zuge der Kampfhandlungen hatte auch die Bevölkerung der benachbarten ukrainischen Dörfer Verluste zu beklagen. Als die Angreifer jedoch wenig später von Ekaterinoslav aus Verstärkung erhielten, sahen die Mennoniten ihre Unterlegenheit ein, legten die Waffen nieder und zogen sich in ihre Häuser zurück. Die Führung des Amtsbezirks war aus Sorge vor Repressionen gezwungen, sich zu verstecken.
Am 11. Februar 1919 forderte der eigens nach Nikolaipol gekommene Stabschef der Truppen, Dybenkos Kejlin, die Mennoniten auf einer Vollversammlung der Bewohner des Amtsbezirks ultimativ auf, sich deutlich zur Sowjetmacht zu bekennen, die Orte zu zeigen, wo die gefallenen Rotarmisten verscharrt waren, die Heu-, Hafer- und Speckvorräte zu berechnen, die man der Roten Armee zum Requirierungspreis überlassen könne, unverzüglich 50 Stück Vieh nach Ekaterinoslav zu schicken, für das Lazarett der Roten Armee 1 000 Sätze Bettwäsche (Decken, Laken und Handtücher), 200 Hosen und Oberhemden und 20 Paar Stiefel zusammenzutragen, bis zum 12. Februar alle Pferde zur Beschau in der Nähe des Amtsbezirkszentrums zusammenzutreiben und schließlich 205 000 Rubel Kontribution zu zahlen (10 000 Rubel für jeden Gefallenen, 5 000 Rubel für jeden Verwundeten). Noch am gleichen Tag stimmte die Versammlung der Vertreter der Kolonien für die Anerkennung der Sowjetmacht. Innerhalb der nächsten zwei Tage wurde die geforderte Kontributionssumme zusammengetragen und übergeben. Und auch alle anderen Forderungen wurden nach und nach erfüllt.
Die Führung des Amtsbezirks konnte Kejlin überzeugen, dass die Bevölkerung loyal und an einem Konflikt mit der Sowjetmacht nicht interessiert war, woraufhin dieser am 14. Februar 1919 der Führung eine Bescheinigung ausstellte, in der es hieß, dass die Bevölkerung des Amtsbezirks die Sowjetmacht bedingungslos anerkannt und alle Forderungen des Militärkommandos erfüllt habe und deshalb der Schluss gezogen worden sei, dass der „Morozovoer Zwischenfall“ aus einem Missverständnis der Kolonisten des Amtsbezirks Nikolaipol und infolge des unglücklichen Vorgehens des Chefs des Kommandos Genosse Ivančenko geschehen sei.
Derweil gingen die Requirierungen im Amtsbezirk weiter. So wurden am 15. März 1919 auf Anordnung des Kommandanten von Ekaterinoslav Dombrovskij fünf Pferde requiriert. Am 25. März riegelte ein 55 Mann starkes Rotarmistenkommando unter Führung eines gewissen Prusakovyj die Kolonie Morozovo ab und nahm der örtlichen Bevölkerung 40 Pferde ab. Am 30. März war die Bevölkerung des Amtsbezirks gezwungen, der Roten Armee weitere 24 Pferde zu übergeben.
Eine schwere Bürde stellte für die Bevölkerung des Amtsbezirks die Verpflichtung zu Fuhrdiensten dar. So wurden die Bewohner der an der Hauptstraße zwischen Ekaterinoslav und Aleksandrovsk gelegenen Kolonien immer wieder zum Transport von Truppen und Gütern herangezogen. Die langen und häufigen Fahrten zermürbten den ohnehin schon stark dezimierten Pferdebestand. Im Mai 1919 blieben z.B. in Elenovka und Čistopole nur noch 74 Arbeitspferde, um 1 070 Desjatinen Land zu bestellen.
Auch die Lebensmittelabgaben lasteten schwer auf den Kolonien. Neben der Erfüllung der staatlichen Ablieferungsnormen musste die Bevölkerung die Mitarbeiter der örtlichen Miliz, die abkommandierten Partei- und Sowjetarbeiter und nicht selten auch durchziehende Truppeneinheiten mit Lebensmitteln versorgen. Darüber hinaus organisierten die Machthaber immer wieder kleinere Lebensmittelkampagnen wie z.B. eine Woche der Hilfeleistungen für die Front, Lebensmittelsammlungen für hungernde Kinder des Nordens usw.
Die strikte Einhaltung all dieser Vorschriften und Anordnungen der Sowjetmacht wurde von aus Ekaterinoslav entsandten Parteiarbeitern sowie den Angehörigen der örtlichen Miliz kontrolliert, bei denen es sich größtenteils um Ukrainer und Russen handelte. Ungeachtet der Tatsache, dass es einen von G. Andres geführten legal gewählten Sowjet des Amtsbezirks gab, übten diese auch die reale Macht im Amtsbezirk aus. Die Ekaterinoslaver Führung vertraute den „Nikolaipolern [als] früheren Ausbeutern der ukrainischen Bauernschaft“ nicht, bemerkte einer der Sowjetarbeiter später rückblickend. Selbstredend sorgten sowohl die oben geschilderten Maßnahmen als auch die unverhohlen feindselige Einstellung, die die Vertreter der Sowjetmacht den meisten Bewohnern des Amtsbezirks gegenüber an den Tag legten, unter der Bevölkerung für großen Unmut.
Im Sommer 1919 spitzte sich die Lage in der Region zu, was nicht zuletzt durch die militärischen Erfolge der von Osten hervorrückenden Freiwilligenarmee General Denikins bedingt war. Wie überall im Bezirk Ekaterinoslav waren auch im Amtsbezirk Nikolaipol weißgardistische Aufstandskommandos aktiv.
In der Nacht auf den 13. Juni 1919 wurde der in Nikolaipol gelegene Stab des 3. Bezirks der Sowjetmiliz von einer unbekannten bewaffneten Gruppe überfallen. Die von dem Angriff überraschten Milizionäre versuchten, den Angreifern Widerstand zu leisten, waren aber nach einem einstündigen Kampf gezwungen, auf Befehl ihres Chefs die Waffen niederzulegen und sich dem Feind zu ergeben. Nichtsdestotrotz erschossen die Angreifer vier Personen, darunter den Chef der Miliz Slesarenko, den Unteroffizier der Miliz Gibert sowie die beiden am Vortag aus Ekaterinoslav eingetroffenen Sowjetarbeiter Alliluev und Golubev und verschleppten die übrigen Milizionäre mit unbekanntem Ziel. Der Vorfall sorgte bei den Ekaterinoslaver bolschewistischen Behörden für große Empörung, die insbesondere den Verlust Alliluevs beklagten, eines exponierten Parteiarbeiters, der aus Moskau abkommandiert worden war, um die Sowjetmacht in der Ukraine aufzubauen. Das Organ des Ekaterinoslaver Gouvernementsrevolutionskomitees „Zvezda“ würdigte Alliluevs große Verdienste um die Revolution sogar in einem ausführlichen Nekrolog. Eine zur Untersuchung des Vorfalls nach Nikolaipol entsandte Gruppe der Tscheka verhaftete mehrere Dorfbewohner, von denen zwei nach einer Woche wieder entlassen wurden, während die übrigen nach Ekaterinoslav gebracht und zusammen mit anderen Gefangenen auf einem alten in der Mitte des Dnepr vor Anker liegenden Binnenschiff festgehalten wurden, das im Fall eines Rückzugs der Roten Armee aus der Stadt gesprengt werden sollte.
Die Todgeweihten wurden nur durch den Umstand gerettet, dass die Kosaken General Škuros am 26. Juni plötzlich die Stadt einnahmen. Auch wenn die erhaltenen Archivdokumente keinerlei Belege für eine unmittelbare Beteiligung von Mennoniten an dem geschilderten Überfall enthalten, lieferte der Augenzeuge Ju. Leven in seinem Buch einen indirekten Hinweis auf deren Beteiligung.
Von Juli 1919 an stand das Territorium des Amtsbezirks unter der Kontrolle der Armee Denikins. Bedauerlicherweise lässt sich anhand der wenigen im Bestand des Nikolaipoler Amtsbezirkssowjets erhaltenen Dokumente jener Zeit kein umfassendes Bild der Beziehungen der Bevölkerung zu den Weißgardisten zeichnen. Nach Aussage N.V. Ostaševas begrüßte die ortsansässige Bevölkerung die auf die Unterstützung des Privateigentums ausgerichtete Politik Denikins und war deshalb bestrebt, die aufgrund eines entsprechenden Erlasses Denikins einmalig zu leistende Getreide- und Kornsteuer freiwillig zu erfüllen. So trugen sie 255 Pud Korn zusammen, die sie den Weißgardisten mit einem einzigen Treck übergaben.
Als sich die Armee General Denikins im Herbst 1919 nach ihrer Niederlage gegen die Rote Armee auf den Rückzug nach Süden begab, brachen in den von den Weißen geräumten Gebieten umgehend Bauernaufstände aus, die vor allem von Soldaten Machnos organisiert wurden. Am 11. Oktober 1919 fiel ein erstes, 50 Mann starkes Kommando in Varvarovka ein, trieb die Bewohner zusammen und forderte unter Androhung von Erschießungen die Übergabe von 250 Gewehren oder 100 000 Rubeln. Da die Dorfbewohner weder Waffen noch Geld in den geforderten Mengen hatten, prügelten die Soldaten die Hausbesitzer nieder, plünderten deren Höfe und nahmen alle Wertgegenstände, derer sie habhaft werden konnten, an sich (Geld, Kleider, Schuhe usw.). Nach drei Stunden lud die Bande den geraubten Besitz auf Fuhrwerke und trat den Rückzug an.
Zur gleichen Zeit eroberte der Hauptteil der Machno-Armee den rechtsufrigen Teil der Stadt Ekaterinoslav. Da sie sich dort allerdings angesichts ständiger Angriffe von Seiten des von Denikin gegen sie geschickten Korps General Slaščevs und einer schlechten Versorgungslage nicht lange halten konnten, traten sie den Rückzug in Richtung Süden an und kamen bald in den Amtsbezirk Nikolaipol. Zu dieser Zeit ereignete sich auch ein Vorfall, der als „Tragödie von Dubovka“ in die Geschichte eingehen sollte. Aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Quellen lässt sich das folgende Bild der Ereignisse zeichnen:
Am 26. Oktober drang ein vor den Truppen Machnos operierender berittener Aufklärungstrupp in Dubovka ein, wurde aber bei dem Versuch, das Dorf zu plündern, vom örtlichen Selbstschutz aus einem Maschinengewehr beschossen und trat den Rückzug an, nachdem er unterschiedlichen Quellen zufolge zwei oder vier Mann verloren hatte. Erst als die Machno-Soldaten das Dorf unter Artilleriebeschuss nahmen, hissten die Verteidiger die weiße Fahne und legten die Waffen nieder. Die meisten Soldaten Machnos zogen nach der Entwaffnung des Selbstschutzes wieder ab und schlugen ihr Nachtquartier in den benachbarten ukrainischen Dörfern Fedorovka, Avgustinovka und anderen auf. Machno, den der von den Mennoniten geleistete Widerstand und die erlittenen Verluste zur Weißglut trieben, gab zunächst den Befehl, ausnahmslos alle Einwohner Dubovkas zu töten, änderte seinen Beschluss dann aber dahingehend, nur die erwachsenen Männer zu töten. In der Nacht auf den 27. Oktober 1919 wurden in Dubovka vor allem mit Stichwaffen (Säbel) 79 Männer im Alter von über 16 Jahren sowie drei Frauen getötet. Die beiden einzigen überlebenden Männer waren ein Vater mit seinem Sohn, die zum Zeitpunkt der Tat nicht vor Ort waren. Neben den Soldaten Machnos waren auch einige Einwohner Fedorovkas an den Morden beteiligt. Am Morgen des 27. Oktober flohen die überlebenden Frauen und Kinder, ihre Häuser und fast den gesamten Besitz zurücklassend, nach Dolinovka. Später zogen viele von ihnen in andere Siedlungen des Amtsbezirks. Die zurückgelassenen Höfe wurden von den Bewohnern der benachbarten ukrainischen Dörfer Fedorovka und Avgustinovka geplündert. 1921 waren von den Häusern und Wirtschaftsgebäuden der Siedlung nur noch Mauerreste übrig.
Was die Motive für das überzogen harte Vorgehen der Soldaten Machnos betrifft, lässt sich vermuten, dass dieses Blutbad vor allem der Abschreckung dienen sollte. Machno, der daran gewöhnt war, die wohlhabenden Bevölkerungsschichten nahezu ungestraft auszuplündern, war bereits mehrfach mit Versuchen der Mennoniten konfrontiert gewesen, den Plünderungen bewaffneten Widerstand entgegenzusetzen. So galt dieser Massenmord womöglich dem Ziel, die mennonitischen Selbstschutzversuche ein für alle Mal zu brechen. Zugleich ging es wahrscheinlich auch darum, sich an den Mennoniten für deren Zusammenarbeit mit den österreichischen und reichsdeutschen Truppen und den Weißgardisten zu rächen, wofür auch die Tatsache spricht, dass fast zeitgleich (26. Oktober 1919) auch in Varvarovka drei Mennoniten getötet wurden (Petr Isaakovič Friesen, Jakov Jakovlevič Kviring und Abram Jakovlevič Kviring) und es an diesem Tag wahrscheinlich auch in anderen Siedlungen zu Morden kam. Den vorhandenen Quellen ist zudem zu entnehmen, dass die Getöteten größtenteils wohlhabenden Familien entstammten, die Morde also auch eine deutlich zu Tage tretende soziale Komponente aufwiesen. Insgesamt wurden in der Zeit, als die Soldaten Machnos im Amtsbezirk operierten, mindestens 136 Menschen getötet, bei denen es sich größtenteils um Männer handelte. Unter den Opfern waren auch drei der vier in Nikolaipol ansässigen Prediger.
Die im Amtsbezirk verübten Morde sorgten für Panik und Flucht eines erheblichen Teils der Bevölkerung. Einer der zu dieser Zeit im Amtsbezirk aktiven Untergrundkommunisten erinnerte sich später: „[…] Am Abend kamen wir in die deutsche Kolonie Nikolaipol. Kein einziger Kolonist war da, alle waren weg. Die Sahne stand auf den Tischen, aber die Leute waren weg. Sie hatten Angst […]“. Die zurückgelassenen Häuser und der Besitz der Mennoniten wurden von den Soldaten Machnos gnadenlos geplündert. Innerhalb der neun Wochen, in denen die Armee Machnos auf dem Territorium des Amtsbezirks operierte, geriet dessen Wirtschaft an den Rand der Katastrophe. Auch wenn die Hauptkräfte Machnos, nachdem sie erneut in Konflikt mit der Sowjetmacht getreten waren, Ende Dezember 1919 aus den Nikolaipoler Kolonien abzogen, blieben einzelne Gruppen, denen vor allem Leute aus den benachbarten ukrainischen Dörfern angehörten, in der Region und setzten die Überfälle und Plünderungen von Einzelgehöften und Landgütern noch bis zum Frühjahr 1920 fort.
Anfang April 1920 kam die örtliche Führung bei einer Bestandsaufnahme der im Amtsbezirk bestehenden Lage zu den folgenden Resultaten: Von den 1 400 Arbeitspferden, über die die Bevölkerung im April 1919 noch verfügt hatte, waren nach Stand vom 15. März 1920 nur noch gerade einmal 108 geblieben. Die Zahl der Rinder war seit dem 1. Oktober 1919 von 1 288 auf 491 Tiere zurückgegangen. Die Menge der geraubten Schweine, Landmaschinen und sonstigen Besitztümer war so groß, dass sich die örtlichen Behörden schwertaten, den Verlust zu beziffern. Von den im Herbst 1919 geernteten 300 000 Pud Getreide hatten die Soldaten Machnos 104 709 Pud mitgenommen.
Eine der neben den Morden und Plünderungen schrecklichsten Folgen der Machno-Zeit war eine von dessen Leuten eingeschleppte Typhusepidemie. Bereits im Oktober 1919 wurden erste Fälle dokumentiert, im November/Dezember konnte man bereits von einer Epidemie sprechen. In der Kolonie Morozovo wurden z.B. im Zeitraum Oktober 1919 bis 1. Mai 1919 394 Krankheitsfälle dokumentiert. Nach Stand zum 1. Januar 1920 waren in Nikolaipol 135 und in Varvarovka 138 Typhuserkrankungen registriert. Allerdings gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine dokumentierten Todesfälle, die wenig später Massencharakter annahmen. Besonders häufig erkrankten Männer. Erst Ende März 1920 konnte die Epidemie allmählich zurückgedrängt werden, nachdem ein Feldscher und zwei Krankenschwestern aus Ekaterinoslav in den Amtsbezirk gekommen waren.
Infolge der Typhusepidemie blieben in einzelnen Kolonien des Amtsbezirks zahlreiche Kinder ohne Eltern. Diese Gelegenheit ließen sich Plünderer nicht entgehen. So schrieb die Führung des Amtsbezirks am 22. Januar 1920 in einem Bericht an das Ekaterinoslaver Gouvernementsrevolutionskomitee: „Dunkle Elemente nutzen die Schutzlosigkeit der Kolonien des Amtsbezirks dazu aus, Tag und Nacht Lebensmittelvorräte und landwirtschaftliches Inventar bei den zurückgebliebenen Waisen fortzubringen. Die Bevölkerung ist infolge der Typhusepidemie nicht in der Lage, diesen Raubzügen auch nur den geringsten Widerstand entgegenzusetzen […]“.
Anfang Januar 1920 begann im Amtsbezirk der Prozess der Zwangsliquidierung der Einzelgehöfte und Landgüter. Am 5. Januar stellten nicht genauer zu identifizierende Personen den Bewohnern von Ivangorod ein Ultimatum zur Aussiedlung, woraufhin das gesamte Getreide und der gesamte sonstige Besitz mit unbekanntem Ziel abtransportiert wurden. Čistopol’ stand derweil jede Nacht unter Beschuss. Die Bewohner von Egoropol’ mussten innerhalb von 24 Stunden die Siedlung verlassen, woraufhin das zurückgelassene Vieh, Inventar und alle Lebensmittelvorräte in die „Hände dunkler Elemente und Spekulanten“ fielen. Im Frühjahr 1920 waren alle früheren Einzelgehöfte und Landgüter im Amtsbezirk zerstört. Ihre Bewohner waren in die vier noch bestehenden Siedlungen geflohen, wo auch zahlreiche Flüchtlinge aus anderen durch den Bürgerkrieg zerstörten mennonitischen Ortschaften der Region zusammenkamen.
Ein gravierendes Problem stellte für die Bevölkerung des Amtsbezirks die Unterstützung der zurückgebliebenen Familien und Waisen dar. Im April 1920 bestätigte die in Chortica ansässige Waisenkasse für den Amtsbezirk Nikolaipol 89 Vormünder und 50 Betreuer, die den Witwen und Waisen im Sommer 1920 bei der Einbringung des Wintergetreides auf den Feldern der verlassenen Siedlungen Dubovka, Pavlovka und Petersy halfen. Hilfe wurde den genannten Personen auch durch Spenden zuteil, die nicht nur auf dem Gebiet des Amtsbezirks, sondern auch in anderen mennonitischen Siedlungen der Region gesammelt wurden. Das Sammeln der für die Waisen bestimmten Spenden war unter den Bedingungen des Bürgerkriegs allerdings lebensgefährlich. So überfielen Banditen am Morgen des 23. September 1920 in der Nähe des bei dem Dorf Karabinovka gelegenen zerstörten Landguts „Mizgo“ (Amtsbezirk Znamenovka / Bezirk Novomoskovsk) den Vorsitzenden des Dorfexekutivkomitees Varvarovka Ja.Ja. Neufeld, töteten ihn selbst und seinen Sohn, beraubten und entkleideten seine Frau und zwei aus dem Gouvernement Char’kov stammende Begleiterinnen und zogen mit drei Pferden, dem Fuhrwerk und allen für die Waisen und Kranken „Bethaniens“ bestimmten Spenden ab (Kleidung, Unterwäsche, Wolle, Trockenfrüchte, Schinken und 1 Mio. in bar).
Im Frühjahr 1920 leiteten die Sowjetbehörden den Prozess der Verkleinerung des mennonitischen Landbesitzes ein. Am 20. März fasste der Landkongress des Rayons den Beschluss, den Bewohnern des benachbarten Amtsbezirks Avgustinovo Ländereien der Siedlungen Petersy, Pavlovka, die Besitzungen von Sara Peters und Maria Warkentin sowie die Insel Tavolžanyj mit einer Gesamtfläche von 3 370 Desjatinen zu übergeben. Die praktische Umsetzung dieses Beschlusses erfolgte allerdings erst ein Jahr später.
Ungeachtet der katastrophalen Lage der Bevölkerung nahmen die Behörden im Februar 1920 die Praxis der Lebensmittelbeschlagnahmungen wieder auf. So lieferte der Amtsbezirk allein im März 1 745 Pud Getreide, 39 Pud Kartoffeln und neun Stück Vieh ab. Im Juni stellte die lokale Bevölkerung 2 346 Pud Getreide, 184 Pud Kartoffeln und Vieh mit 240 Pud Lebendgewicht für die Rote Armee bereit.
Derweil wurde die Versorgungslage ohne jede Hoffnung auf Besserung immer kritischer. Infolge der einsetzenden Kampfhandlungen konnte im Amtsbezirk im Herbst 1919 nur auf 1 348 Desjatinen ausgesät werden, von denen wiederum 545 Desjatinen im Frost eingingen. Im Frühjahr 1920 konnte infolge des Mangels an Zugvieh nur auf 986 Desjatinen Getreide ausgesät werden. Im Mai 1920 mussten 42 Familien (insgesamt 223 Personen) bei den Behörden um Lebensmittelnothilfe ansuchen.
Im Spätsommer 1920 drohten die Nikolaipoler Kolonien erneut, in den Strudel der Kampfhandlungen hineingezogen zu werden. Als die von der Krim aus vorrückende Armee General Vrangel’s im September Aleksandrovsk einnahm, drangen kleinere Voraustruppen bis auf das Territorium des Amtsbezirks vor. In den an Nikolaipol angrenzenden ukrainischen Amtsbezirken brach ein antisowjetischer Bauernaufstand aus, der bald auch auf die Nikolaipoler Kolonien übergriff. Den Quellen lässt sich entnehmen, dass sich die weißen Aufständischen den Mennoniten gegenüber deutlich loyaler verhielten als die roten Partisanen. Wahrscheinlich waren auch einige Mennoniten selbst an dem Aufstand beteiligt, wofür z.B. der Umstand spricht, dass der Mennonit Abram Peters im September 1920 unter der Anklage des Banditentums von der Sonderabteilung der 13. Armee erschossen wurde. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es sich dabei um Einzelfälle handelte.
Nach der erneuten Einnahme des Amtsbezirks durch die Rote Armee war die Sowjetmacht dort Ende September 1920 endgültig etabliert. Auf der Bevölkerung des Amtsbezirks lastete erneut die schwere Bürde der Lebensmittelablieferungspflicht. Nach Plan sollten die Bewohner dem Staat über 40 000 Pud Getreide, 195 Rinder, 69 Schweine sowie eine große Menge Geflügel und Gemüse usw. abliefern. Doch eine solche Menge „überschüssiger“ Lebensmittel hatte die Bevölkerung nicht. Noch darüber hinaus konstatierte eine aus Vertretern der Lebensmittelorgane und der örtlichen Führung bestehende Sonderkommission nach eingehender Prüfung aller Höfe des Amtsbezirks eine Fehlmenge von 16 726 Pud Konsum-, Saat- und Futtergetreide, die die Bevölkerung gebraucht hätte, um bis zur neuen Ernte zu überleben. Doch selbst diese Zahlen hielten die Machthaber nicht davon ab, die Kampagne zur zwangsweisen Eintreibung von Lebensmitteln zu starten.
So wurde am 22. Oktober das gesamte im gemeinschaftlichen Kornspeicher Varvarovkas lagernde Getreide (384 Pud) von Mitarbeitern der Lebensmittelorgane abtransportiert. Zugleich wurden die Höfe der Mennoniten immer wieder nach versteckten Vorräten durchsucht. Am 4. November 1920 fanden z.B. die örtlichen armen Bauern und „Lebensmittelarbeiter“ bei dem im Dorf Nikolaipol ansässigen Heinrich Kran unter dem Spreu versteckt zwölf Pud Weizen, die umgehend dem Komitee der armen Bauern des Amtsbezirks zur Verfügung gestellt wurden. Infolge eines solchen Vorgehens lebte die Bevölkerung des Amtsbezirks bereits von November 1920 an ausschließlich von bei Dritten gekauftem Getreide.
Als die Führung des Amtsbezirks nach Ende des Bürgerkriegs die ökonomische Lage analysierte, musste sie konstatieren, dass die Mennoniten viele Jahre des Friedens brauchen würden, um ökonomisch wieder auf die Beine zu kommen.
Aufgrund der geschilderten Ereignisse lässt sich das folgende Fazit ziehen:
Der nach der Oktoberrevolution ausgebrochene Bürgerkrieg zog ausnahmslos alle Bevölkerungsschichten in allen Regionen des Landes in seinen Strudel, was in vollem Umfang auch für die Bevölkerung der Nikolaipoler mennonitischen Kolonien galt. Die objektiv bestehenden sozialen Gegensätze, die zuvor nie offen zu Tage getreten waren, kamen infolge der zugespitzten politischen Rahmenbedingungen zum Ausbruch. Die Initiative zur Beschlagnahmung oder Plünderung des Privatbesitzes ging von einem kleinen Teil der ortsansässigen Einwohner aus, bei denen es sich allerdings überwiegend nicht um Mennoniten handelte. Die Beteiligung zahlreicher mennonitischer Landbesitzer an den der Niederschlagung der revolutionären Bewegung in den ukrainischen Dörfern dienenden Strafaktionen brachte einen Großteil der ansässigen Bevölkerung gegen die Mennoniten auf. Bei dem Versuch, sich selbst und den eigenen Besitz vor Angriffen radikal gesinnter Elemente zu schützen, waren die Mennoniten objektiv gezwungen, gegen ihre Glaubensgrundsätze zu verstoßen und eigene Selbstschutzkommandos aufzustellen. Diese waren zwar effektiv im Kampf gegen kleinere Banden politischer oder krimineller Art, konnten aber gegen so große militärisch-politische Formationen wie die Rote Armee oder die Aufstandsarmee N. Machnos nichts ausrichten und trugen eher zu einer weiteren Verschärfung der Lage der Mennoniten bei. Die Haltung der Mennoniten gegenüber den einzelnen zu jener Zeit bestehenden militärisch-politischen Gruppierungen wurde nahezu ausschließlich durch deren Einstellung zur Frage des Rechts auf Privatbesitz bestimmt. Die deutschen und österreich-ungarischen Besatzer, das Hetman-Regime und die Weißgardisten, die für die Unantastbarkeit des Rechts auf Privatbesitz eintraten, wurden von einem großen Teil der Mennoniten moralisch und zuweilen auch materiell unterstützt, obgleich sie sich nicht aktiv am bewaffneten Kampf beteiligten. Allen Gegnern des Privateigentums wiederum (Petljura, Machno, Bolschewiki) standen die Nikolaipoler Mennoniten ablehnend gegenüber, leisteten allerdings nur in Ausnahmefällen militärischen Widerstand. Während die Zusammenstöße mit Anhängern Petljuras aufgrund der geringen Zahl letzterer den Mennoniten immer wieder Erfolge brachten, hatten die seltenen militärischen Konflikte mit der Roten Armee und insbesondere mit den Soldaten Machnos katastrophale Folgen. Das Vorgehen der Soldaten Machnos in den von ihnen eingenommenen mennonitischen Kolonien forderte zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung und ließ deren Wirtschaft ausbluten. Die Politik der Sowjetmacht wiederum trieb die mennonitischen Wirtschaften endgültig in den Ruin.
Aus dem Russischen übersetzt von Lars Nehrhoff, Köln