Aktualität und Kontext von Jerzy Jedlickis Essay „Erbe und kollektive Verantwortung“
Erbe und kollektive Verantwortung
für Leszek Kołakowski, in Ehrerbietung
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Ich beabsichtige, mich hier mit einer überaus spezifischen Art von Verantwortung zu beschäftigen, konkret mit den Gründen, aus denen unterschiedliche menschliche Gemeinschaften und Institutionen wie Volk, Staat, Kirche oder politische Organisationen für ihre Vergangenheit verantwortlich gemacht werden, also für das Handeln vergangener Generationen.
Diese Definition erscheint sofort fremd und liberalen Geistern wahrscheinlich sogar abstoßend, sind sie doch davon überzeugt, dass die Verantwortung stets persönlich ist und der Mensch nur dafür verantwortlich zu machen ist, was er selbst aus eigenem Willen getan oder gelassen hat. Der Gedanke, dass jemand für Taten und Ereignisse zur Verantwortung gezogen wird, auf die er keinerlei Einfluss hatte oder die sogar vor seiner Geburt stattgefunden haben, erscheint so gesehen als Täuschung oder barbarisches Vorurteil. In der Tat gehört es nur zu oft zum politischen Spiel und zur Demagogie, gewissen Völkern Rechnungen aus ihrer Vergangenheit zu präsentieren, was dann wiederum zur Stärkung von Vorurteilen und Stereotypen führt. Es gibt daher gute Gründe, grundsätzlich misstrauisch gegenüber solchen Formen von Verantwortungszuschreibung zu sein.
Dennoch hat dieses Verständnis von Verantwortung, also mit dem vergangenen Geschehen von Stämmen oder Gesellschaften deren lebende Mitglieder zu belasten, eine lange Tradition, die so tief in unserer Zivilisation verwurzelt ist, dass es schwerfällt, sich diese ohne eine so verstandene Verantwortung vorzustellen. Die Überzeugung, dass heldenhafte Taten und Verdienste, aber auch Schuld und Verbrechen der Vorväter als Erbe auf deren Nachfahren kommen, ist vor allem in den europäischen Kulturen, aber sicher nicht nur dort, gegenwärtig. Dies ist die Quintessenz des jüdisch-christlichen Mythos von der Erbsünde, jener ersten Grenzüberschreitung des Rechts durch die ersten Eltern, wodurch die menschliche Natur verdorben wurde und wofür nun die gesamte Menschheit büßen muss.
Das Alte Testament enthält widersprüchliche Überlieferungen hinsichtlich der Vererbung von Schuld und Sünde. Ähnlich wie sich der Segen Gottes auf den ganzen Stamm des Gerechten erstreckt, trifft auch der Zorn Gottes das Haus und die Nachfahren des Sünders: Der Gott des Moses verfolgt „die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation“ (2 Mose 20,5; 34,7). Im 5. Buch Moses folgt eine lange Aufzählung von Verfluchungen, die über denjenigen kommen werden, der nicht auf die Gebote und Gesetze Gottes hört: „Für immer werden sie als Zeichen und Wunder an dir und an deinen Nachkommen haften.“ (5 Mose 28,15-18; 28,46; 28,58-59). Im selben Buch ist zuvor jedoch auch die Rede davon, dass „Väter [...] nicht für ihre Söhne und Söhne nicht für ihre Väter mit dem Tod bestraft werden. Jeder soll nur für sein eigenes Verbrechen mit dem Tod bestraft werden.“ (5 Mose 24,16). Auf dieses Prinzip berufen sich Amazja, König von Juda, als er die Nachkommen der Mörder seines Vaters verschont (2 Kön 14,6; 2 Chr 25,4) sowie der Allmächtige selbst, als er durch den Mund des Propheten Ezechiel verkündet, dass er jeden nach seinen Taten richten wird. (Ez 18,19-20 und 29-30).
In der griechischen Mythologie fällt der Fluch auf das ganze Geschlecht desjenigen, der die Götter beleidigt hat. Mit der Vererbung des Fluchs geht die Vererbung der heiligen Pflicht, das erlittene Unrecht und den Tod der Eltern zu rächen, einher. Diese Notwendigkeit wurde zum Hauptmotiv vieler Mythen und Tragödien – erinnert sei nur an Orestes und Hamlet. Sie hat Dauer erlangt als Brauch in der Ritterkultur und den Volksbräuchen sowie dem Recht auf Vergeltung in den alten Rechtsüberlieferungen. Die Vererbung der Rache ist dabei beiderseitig: Ihre Erfüllung lastet auf den Nachfahren der Opfer, während der Racheakt auch an den Nachfahren der Täter vollzogen werden kann, so dass sie die Form einer familiären Vendetta annehmen kann.
Mit der Zeit wurden die Begriffe „Geschlecht“, „Erbe“, „Vor- und Nachfahren“ auf größere Zusammenhänge von Stämmen und Ständen ausgedehnt, so dass keine genealogische und Blutsverwandtschaft mehr bestehen musste, auch wenn man sich mental daran orientierte. Die Vorstellung von einem moralischen Erbe, also der Übernahme von Verdiensten, Schuld und Verpflichtungen der Vorfahren, erwies sich als nicht weniger stark und dauerhaft. Nicht selten wurde dabei auch auf Mythen vom Bluterbe zurückgegriffen.
Der Stolz auf die Vorfahren, auf die wahre oder mythische Vergangenheit und den Ruhm des eigenen Stammes, Volkes, Standes, der Klasse oder Kirche ist ein allgegenwärtiges soziopsychologisches Phänomen und, wie es scheint, unverzichtbarer Bestandteil des Gefühls kollektiver Identität. Der Adel glaubte in allen Ländern daran, dass er bedeutender und edler erscheint, wenn er sich von antiken Helden herleitet: von den Trojanern, Athenern, Römern, Normannen... Solche genealogischen Mythen spielten keine geringe Rolle bei der Bildung von mittelalterlichem und später neuzeitlichem Nationalbewusstsein. Mit dessen Festigung wurde der Glaube an die gemeinsame biologische Herkunft unverzichtbar, sollte jedoch noch eine Steigerung im Rassismus des extremen Nationalismus erfahren. Das metaphorische Verständnis war jedoch dehnungsfähig: Es vermochte auch Mitglieder in die nationale Gemeinschaft zu adoptieren. So wurden die polnischen Bauern, polonisierte Juden, Ruthenen oder Deutsche zu Erben des polnischen Rittertums und der gesamten Geschichte der Krone und Litauens.
Die bürgerliche Pädagogik des 19. Jahrhunderts, die die „Karrieristen“ zum Stolz darauf ermunterte, dass sie sich selbst aus dem Nichts erschaffen hatten, brachte keine großen Erfolge. Der Nachweis einer echten oder imaginierten Herkunft scheint also ein fast allgemeines menschliches Bedürfnis zu sein. Von der Qualität dieses Herkunftsnachweises hängt das Bewusstsein des eigenen Wertes ab: Die Suche nach den „Wurzeln“ sowie ein heraldischer Snobismus sind dafür der beste Beweis. In allen Epochen war es jedoch nur Wenigen vergönnt, ehrenvolle Stammbäume vorweisen zu können. Die Mehrheit musste sich mit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaftstradition zufriedengeben, die jedoch sogar dem unbedeutendsten Mitglied ein Gefühl von kollektiver Stärke, Gemeinschaft und langer Dauer vermittelte. Beginnend mit Edmund Burke definierten die romantischen Schriftsteller das Volk als „Verbindung von verstorbenen, lebenden und noch nicht geborenen Generationen“ und haben damit besser als die Rationalisten verstanden und gefühlt, dass es ein allgemeines geistiges Bedürfnis nach Zugehörigkeit gibt, dessen Fehlen die Menschen zu Obdachlosen und Entwurzelten macht.
Irgendwie fühlen die Menschen, dass sie ihren persönlichen Anteil an der nationalen Geschichte haben. Je ärmlicher unsere aktuelle Lage ist, desto mehr klammern wir uns an vergangene Größe und Ruhm, desto mehr sind wir stolz auf den Umstand, dass unsere heimatliche Erde, die heute unfruchtbar scheint, einst große Krieger, Propheten, Staatsmänner, Erfinder, Philosophen und Poeten hervorgebracht hat. Daraus folgt auch, dass Kritik an der Vergangenheit unseres Volkes oder Versuche, uns lieb gewordene historische Legenden zu zerstören, nicht selten als Anschlag auf unsere eigene Ehre und unseren Besitz angesehen werden.
Die Übernahme der kollektiven Herrschaft über die Vergangenheit durch die lebende Generation hat jedoch moralische und psychologische Konsequenzen, denen man nicht leicht gerecht wird. Schließlich enthält dieses Erbe nicht nur Ehre und den Segen Gottes, sondern auch Unrecht, Schuld und Verpflichtungen. Kann man nur den Segen übernehmen und den Fluch verwerfen? Kann man das Erbe übernehmen und die Bezahlung der darauf lastenden Schulden ablehnen? Kann man nur den Stolz für sich in Anspruch nehmen und die Scham unterdrücken? Kann man sich vor der Welt der Verdienste der Vorfahren rühmen, aber nicht die Mitverantwortung für ihre Schuld übernehmen?
Natürlich kann man das alles tun. Es wird unter der raffinierten Losung „Traditionsauswahl“ auch allgemein getan. Es gibt schließlich keine Pflicht, das ganze Erbe zu übernehmen, einheitlich und ungeteilt. Vielmehr lassen sich daraus diejenigen Muster auswählen, die mit unseren heutigen Standpunkten übereinstimmen. Wir sind frei, denn Tradition ist Auswahl, kein Schicksal. Einverstanden. Es lohnt sich jedoch, daran zu erinnern, dass sich unter dem Label „Traditionsauswahl“ zwei verschiedene, ja sogar widersprüchliche Operationen verbergen. Die eine Operation beruht auf der kritischen Umwertung des Erbes und einer klaren ehrenhaften Hervorhebung derjenigen Bestandteile, die den aktuell anerkannten Werten entsprechen. Die zweite, häufigere, Operation beruht auf einer mit Absicht oder unbeabsichtigt geheim gehaltenen Auswahl von Bestandteilen des Erbes, die im kollektiven Bewusstsein, oft aber auch im Bewusstsein des Manipulators selbst verdrängt werden sollen, weil sie vom Standpunkt der aktuellen Axiologie schwierig, unbequem oder doppeldeutig sind. Bezeichnend ist dabei, dass diese Operation, wiewohl sie im öffentlichen Raum stattfindet, im Schrifttum, im Bildungssektor, in den Massenmedien oder bei Gedenkveranstaltungen, im Grunde genommen identisch ist mit der Verdrängung von schambesetzten individuellen Gedanken und Ereignissen aus dem Bewusstsein und Gedächtnis des Einzelnen. Diese Ähnlichkeit kann als Argument dafür dienen, einige Methoden der Psychoanalyse auf die Erforschung von Kultur und Mentalität gesellschaftlicher Gruppen anzuwenden. Hier ist jedoch in diesem Zusammenhang ein anderer Befund wichtiger: Diese Verteidigungs- und Zensurmechanismen, das Verschweigen oder gezielte Vergessen, Vermeidungen und Rationalisierungen, die empfindlichen Reaktionen auf Kritik oder Herabwürdigung des Erbes zeugen davon, wie stark unsere moralische Identifikation mit der Geschichte der Gemeinschaft ist. Es sind diese Mechanismen, die viele hier, an der Weichsel, nervös zusammenzucken lassen, wenn auf dem Bildschirm Soldaten in den Uniformen des Herzogtums Warschau erscheinen, die spanische Nonnen vergewaltigen oder polnische Bauern, die über Jüdinnen und Juden schwafeln, denn es kommt einem dann vor, als ob sie selbst gezeigt würden. Mit anderen Worten: Die Menschen neigen dazu, Angelegenheiten, an denen sie nicht den geringsten Anteil hatten und Haltungen, für die sie persönlich nicht verantwortlich sind, zu vertuschen oder zu beschönigen, wie erniedrigende und schamhafte Momente im eigenen Leben oder dem der Eltern. Dies sind Reaktionen, die sich im Allgemeinen der bewussten Kontrolle entziehen.
Bekannt ist, dass sogar gebildete und in der Geschichte bewanderte Menschen in einigen europäischen Ländern, z.B. in Frankreich, meistens nur ungern zugeben, dass ein großer Teil ihrer Landsleute, darunter Berühmtheiten aus der Kultur, mehr oder weniger eifrig mit den deutschen Okkupanten kollaboriert haben. Es ist auch nicht verwunderlich, dass die Kollaborateure sich anschließend mit einer öffentlichen Beichte nicht beeilt haben. Die psychologischen Realitäten sind hingegen komplexer: Als die ersten Jahre der nationalen Abrechnungen verflossen waren, bemühte sich die Öffentlichkeit, unangenehme Dinge zu vergessen, wobei die Helden des Widerstands dazu mehr noch als andere bereit waren, denn sie glaubten schließlich, dass sie die wahren Repräsentanten ihres Landes seien, während die anderen keinen Platz im nationalen Gedächtnis einnehmen sollten. Wenn in Polen hingegen der Mantel des Schweigens über die Tätigkeit der polnischen staatlichen Polizei während der Okkupation ausgebreitet wurde, dann geschah dies nicht, um die ehemaligen Polizisten zu schützen, sondern auf Initiative derjenigen Institutionen und Milieus, die glaubten, dass die polizeiliche Kollaboration die Reputation des ganzen Volkes beschmutzt, nicht nur damals, sondern noch heute.
Die polnische Intelligenz, einschließlich der Historiker, scheint seit Jahren nicht in der Lage zu sein, sich mit dem Problem des Massenantisemitismus im Polen des 19. und 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Mir geht es dabei nicht um die Anhänger des Antisemitismus – die sind uninteressant – sondern um diejenigen, die ihn verachteten und verachten, die dessen Ausbrüche vor, während und nach dem Krieg mit Entsetzen und Angst beobachteten und sich ihm tapfer entgegenstellten, so oft sie konnten. Dennoch sind viele von diesen Leuten bereit, zu beweisen, dass der Antisemitismus lediglich ein Produkt extremer chauvinistischer Demagogie sei, ein Vorurteil des Mobs, das niemals zum gesunden Kern des Volkes vorgedrungen sei. Sämtliche Gegenzeugnisse werden dabei mit Schweigen übergangen, schlimmer noch, man entfernt sie gar aus Quellenpublikationen. Warum tun dies diejenigen, auf denen keine Schuld lastet? Diejenigen, die als Einzelne keinerlei Grund zur Scham haben und nichts verbergen müssen?
Der Grund liegt wohl darin, dass es eine besondere Empfindlichkeit in diesem Punkt gibt, der schmerzhaft das moralische Bewusstsein verletzt. Und auch, weil eine starke kollektive nationale Identität besteht und die große Anziehungskraft voreiliger Verallgemeinerungen und Stereotype bekannt ist. Die Schatten der Vergangenheit fallen gleichmäßig auf Schuldige und Unschuldige. Die permanente Vermeidung und Umgehung dieses Themas oder dessen Umschreibung mit verlogenen Phrasen, die Unfähigkeit zur sachlichen Erforschung der Wahrheit und ihrer Präsentation ohne Umschweife sind nicht so sehr ein politischer Trick als vielmehr eine Verteidigungsreflex, der sich im Laufe der Jahre als Antwort auf generelle stereotype Anschuldigungen dieser Art verfestigt hat. Es scheint eine Grundregel zu sein, dass eine ehrliche und gnadenlose Bewertung der eigenen Vergangenheit am schwierigsten dann zu leisten ist, wenn man Gegenstand von Anschuldigungen von außen ist.
Ähnliche Ausflüchte und Verteidigungshaltungen lassen sich, wie ich glaube, nicht sinnvoll erklären, ohne die psychologische Annahme, dass Menschen, die emotional mit einer seit vielen Generationen bestehenden Gemeinschaft verbunden sind, sich irgendwie verantwortlich fühlen – und von anderen verantwortlich gemacht werden – für das Böse, das sie geerbt haben. Daraus resultiert keineswegs, dass sie die Schwere dieser Verantwortung auch tragen können und wollen. Man kann sich schließlich davor drücken, indem man die Dissonanz zwischen historischem Wissen und heutigen Werten reduziert: Opfer einer solchen Operation ist für gewöhnlich das Allgemeinwissen, womit die Auffassung von Jerzy Szacki bestätigt wird, wonach die Tradition einer gesellschaftlichen Gruppe eine Form des historischen Bewusstseins ist, „die gekennzeichnet ist durch die Umgestaltung vieldeutiger Fakten der Vergangenheit in eindeutige Werte der Gegenwart“.
Derselbe Autor charakterisiert „Traditionslosigkeit“ als Haltung, „deren Bestandteil eine völlige Indifferenz gegenüber allen Gruppenwerten, aber auch gegenüber dem gemeinsamen Erbe ist“. Wie man leicht erkennen kann, beschreibt diese Charakteristik, bezieht man sie auf die nationale Gemeinschaft, das Verschwinden patriotischer Gefühle. Es erscheint also fast tautologisch, dass mit der Schwere der Vergangenheit diejenigen am leichtesten klarkommen, denen das nationale Erbe und die Meinungen über ihr Volk gleichgültig sind und die deswegen keinerlei Verpflichtungen aus ihrer Geburt und Erziehung ableiten, also auch nicht beabsichtigen, nationale Schulden zu bezahlen. Damit haben sie auch die besten Gründe auf ihrer Seite, um alle Formen der Verantwortung jenseits der persönlichen Täterschaft zu verwerfen, insbesondere also die kollektive Verantwortung für die Vergangenheit.
Dies ist eine konsequente Haltung und mit Sicherheit heute verbreiteter als früher, jedoch eher im Westen als in Ostmitteleuropa, wo patriotische Gefühle deutlich lebendiger zu sein scheinen. Solche Gefühle lassen sich tatsächlich nicht in Übereinstimmung bringen mit einem gleichgültigen Verhältnis zum Erbe.
Der für die europäische (oder wer das vorzieht: westliche) Zivilisation charakteristische Prozess der Individualisierung von moralischen Subjekten hat sozusagen auf halbem Wege einen unsere Kultur quälenden Haltungskonflikt entlarvt. Peter L. Berger beschreibt eine der geistigen Erfahrungen des autonomen Subjekts wie folgt: „I am responsible for my own actions; I am not responsible for the actions of others; no one else is responsible for my actions.“ Diese Überzeugung, die nach Berger sowohl hellenistische als auch biblische Wurzeln hat, löste eine moralische Revolution aus: „It liberates man from moral bondage both in the present (the collective responsibility of, say, one’s tribe) and to the past (carrying along the moral accounts of one’s ancestors)“.
Im Lichte der hier präsentierten Überlegungen darf man jedoch bezweifeln, dass diese Befreiung sich vollständig vollziehen kann: Ist, anders gefragt, die völlige Befreiung des Subjekts von seinem gesellschaftlichen Hintergrund möglich und, daraus folgend, eine völlige Autonomie des individuellen Gewissens erwartbar? Sache der axiomatischen Wahl ist es zudem festzustellen, bis zu welchen Grenzen diese Autonomie erwünscht wäre. Was auch immer die moderne anthropologische Philosophie darüber denken mag: Die derzeitige Welt erinnert gewiss nicht an eine Bühne, auf der einzelne Schauspieler, frei von gesellschaftlichen Bindungen, ihre Rolle ausschließlich aus freier und durch nichts erzwungene Wahl spielen und nur für diese Einzeldarstellung bewertet werden.
Die Individualisierung der Verantwortung hat sich in der Neuzeit am deutlichsten im Strafrecht vollzogen, weniger im zivilen und internationalen Recht.
In der Theologie – sofern das ein Laie beurteilen kann – sieht die Sache etwas anders aus. Die christlichen Kirchen lehren, dass jeder Sterbliche als Person vor Gott für seine Taten verantwortlich gemacht wird: Wir werden einzeln erlöst und einzeln verdammt. Unbekannt bleibt, wie diejenigen Gerechten das Jüngste Gericht erleben, die auf Erden Sünder und auf ewig Verdammte geliebt haben. Nichtsdestotrotz war die Kollektivierung von Sünde und Verantwortung in der Geschichte der christlichen Kultur keineswegs eine marginale Erscheinung. Mit der christlichen Doktrin stimmte schließlich die Überzeugung überein, dass es keine Erlösung außerhalb der Kirche (dieser oder anderer) gebe und das deswegen ganze konfessionelle Großgruppen von Gott verflucht werden könnten. Der religiöse Glauben unserer Zeit, durchdrungen vom Geist des Personalismus, hat diese Ansichten verworfen, aber es deutet nichts darauf hin, dass der christliche Personalismus das andere Extrem anstreben könnte, also die Zertrennung der solidarischen Bindungen, welche die menschliche Person mit der Gemeinschaft der Nächsten verbindet. Im Gegenteil: Das Gebot der Solidarität wird in der Lehre des gegenwärtigen Papstes ständig betont. Solidarität lässt sich jedoch weder vom allgemeinen Gang des Schicksals trennen, noch erlaubt sie, das Erbe der Vergangenheit zu verdrängen.
Solange im Menschen die individuelle Natur mit der gesellschaftlichen verbunden ist, die Biographie mit der kulturellen Kontinuität, solange jeder Mensch sich und andere sowohl als autonomes Subjekt, als auch als Teil eines (und gewöhnlich nicht nur eines) kollektiven Subjekts ansieht, solange werden die im Widerspruch zueinanderstehenden Ideen der individuellen und kollektiven (auch der vererbbaren) Verantwortung nebeneinander existieren in der gesellschaftlich verfassten Welt. Die praktische Aufgabe beruht dann nicht auf der Verfolgung des Trugbildes von der völligen Befreiung des Menschen aus der „moralischen Sklaverei“, sondern auf einer Mediation zwischen den Konsequenzen beider Prinzipien, die den zwischen ihnen bestehenden Konflikt mildert. Eine wesentliche Bedingung dieser Mediation ist die Eingrenzung des Inhalts, den wir unter dem Begriff der kollektiven Verantwortung verhandeln. Wenn darunter die Vererbung von Schuld und Fluch sowie das göttliche oder menschliche Recht zur Bestrafung der Nachkommen für die Schuld der Vorfahren verstanden wird, dann lässt sich ein solcher Begriff auf keinen Fall mit dem individuellen Prinzip von Gerechtigkeit vereinbaren. Anders sieht es aus, wenn die Verantwortung der Gemeinschaft als Vererbung von Verpflichtungen gesehen wird. Mit dem Prinzip der individuellen Gerechtigkeit verträgt sich schließlich das Prinzip, dass auf den Erben, der das Erbe nicht ausschlägt, die Schulden und Verpflichtungen des Erblassers übergehen.
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Tief verwurzelt in den menschlichen Herzen, in der menschlichen Natur und kodiert in fast allen uns bekannten Kulturen ist die Vorstellung von einer moralischen Ordnung der Welt. Verbrechen bringen diese Ordnung zum Einsturz, weswegen – wie in der griechischen Tragödie – das Gleichgewicht wiederhergestellt werden muss. Dieses Gefühl der Ordnung, die Forderung nach Erlösung bildet mehr noch als alle möglichen pragmatischen Erwägungen den Kern der Vorstellung von Gerechtigkeit. Die moralische Ordnung der Welt muss wiederhergestellt werden, aber dies kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen. Den Schuldigen kann eine göttliche oder menschliche Strafe ereilen, er kann Reue zeigen und um Vergebung bitten oder den angerichteten Schaden entsprechend den Bräuchen in einer gegebenen Kultur entschädigen: z.B. durch eine Pilgerreise ins Heilige Land, mildtätige Gaben oder die Bezahlung von Sühnegeld an die Verwandten des Opfers. Dies alles sind jedoch lediglich symbolische Entschädigungen, denn der durch das Verbrechen angerichtete Schaden kann nicht mehr repariert werden. Dennoch ist eine derartige symbolische Entschädigung auf Grund eines Gerichtsurteils oder durch Bekennen und Sühne der Schuld die Bedingung zur Wiederherstellung der moralischen Ordnung. Wenn der Schuldige jedoch nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann, dann fällt die Pflicht zum Schuldbekenntnis auf die Erben, auch wenn diese selbst nicht schuldig am Blutvergießen sind. Wenn diese Erben wiederum die Verantwortung für die von ihnen nicht begangenen Taten nicht auf sich nehmen wollen, dann werden die Geister der ungesühnten Vergangenheit Geschlecht und Stamm der Ermordeten heimsuchen und blinde Rache wird die einzige Möglichkeit sein, das Gleichgewicht wiederherzustellen.
So geschah es nach der Ausrottung der türkischen Armenier in den Jahren 1915–1916, die in der historischen Literatur als erster geplanter und organisierter Völkermord in der neueren Geschichte beschrieben wird.
„Der Schatten dieses Verbrechens ist umso stärker, als bis heute weder türkische Historiker noch Politiker zugeben wollen, dass tatsächlich ein Völkermord stattgefunden hat.“
Trotz des Prozesses gegen die Führer der Jungtürken, der 1919 in Abwesenheit stattfand, erhielten die Armenier nie eine wenigstens symbolische Wiedergutmachung, wie sie den überlebenden Juden nach der Shoah durch die Aufsehen erregenden Kriegsverbrecherprozesse und die damit verbundene Enthüllung der Wahrheit über die sogenannte Endlösung zuteilwurde. Die Armenier übten daher blutige Vergeltung von eigener Hand. Die Hauptorganisatoren der Ausrottung starben nach dem Ersten Weltkrieg durch Anschläge armenischer Attentäter in ihrem Exil in Berlin, Rom oder Tiflis. Und noch 60 Jahre später rächten armenische Terroristen an zufälligen türkischen Opfern das nie gesühnte Massenverbrechen. Im Übrigen ist dies nicht die einzige Kette von Hass und Vergeltung, die sich über Generationen hinzieht.
Anders als die Türkei haben aufeinanderfolgende Regierungen der Bundesrepublik Deutschland vielfach erklärt, dass sie sich zur Verantwortung für die Verbrechen des „Dritten Reiches“ bekennen. Ausdruck dessen waren u.a. die Schaffung besonderer Beziehungen zu Israel und die Auszahlung von Entschädigungen wenigstens an einen Teil der überlebenden Opfer des Naziterrors. Es ist klar, dass ein so offenes Bekenntnis der deutschen Schuld nur möglich war durch die totale Kriegsniederlage Deutschlands und der damit verbundenen Unterbrechung der historischen Kontinuität des Staates. Bezeichnend und für die hier präsentierten Erwägungen besonders wesentlich ist dabei der Umstand, dass die kollektive Verantwortung des eigenen Volkes vor allem, wenn nicht ausschließlich, von denjenigen bekannt wurde, die weder persönlich, noch durch Parteizugehörigkeit mit Schuld belastet waren und sogar mehr noch von denjenigen, die selbst Opfer von Verfolgungen geworden waren oder aktiv gegen das verbrecherische Regime gekämpft hatten.
Als Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Denkmal für die Helden des Warschauer Gettos niederkniete, konnte niemand diese symbolische Geste als Akt einer individuellen Buße interpretieren. Vielmehr erwies das neue Deutschland in seiner Person den Opfern des Völkermordes Ehre, während die Tatsache, dass Willy Brandt selbst gegen Hitler gekämpft hatte, ihm in den Augen der Welt das Recht zu diesem öffentlichen Sühneakt gab.
Das schmerzhafte und komplexe Problem der deutschen „Kollektivschuld“ hat gleich nach dem Krieg Karl Jaspers thematisiert. Er war sich darüber klar, dass „Urteil und Gefühl der Menschen [...] in der ganzen Welt weitgehend durch Kollektivvorstellungen geführt [wird]“. Deshalb wollte er untersuchen, ob ein Denken in solchen Kategorien irgendwelche wahren Inhalte enthalten kann. Dies geschah zu einer Zeit, als die Deutschen von allen Seiten beschuldigt wurden, im wörtlichen Sinne zumindest Mittäter oder schweigende Zuschauer des nationalsozialistischen Völkermordes gewesen zu sein, also nationale Verantwortung trügen. Entsprechend der schon dargestellten psychologischen Gesetzmäßigkeit mobilisierten diese Anklagen Verteidigungsmechanismen: Allgemein verbreitet waren Schutzbehauptungen von der nach liberalem Prinzip verstandenen rein individuellen Schuld. Zudem wurde den siegreichen Alliierten das selbst erfahrene Leid und Unrecht entgegengehalten.
Jaspers verwarf entschieden eine generalisierte Anklage des ganzen Volkes für die Verbrechen der Nationalsozialisten, wollte damit seine Landsleute jedoch nicht vom Tragen der Geschichtslast befreien.
„Wir fühlen etwas wie Mitschuld für das Tun unserer Familienangehörigen. Diese Mitschuld ist nicht objektivierbar. Jede Weise der Sippenhaftung würden wir verwerfen. Aber wir sind doch geneigt, weil gleichen Blutes, uns mitgetroffen zu fühlen, wenn einer aus unserer Familie Unrecht tut, und darum auch geneigt, je nach Lage und Art des Tuns und der vom Unrecht Betroffenen, es wiedergutzumachen, auch wenn wir moralisch und juristisch nicht haften. [...] Wir fühlen uns weiter beteiligt nicht nur an dem, was gegenwärtig getan wird, als mitschuldig am Tun der Zeitgenossen, sondern auch an dem Zusammenhang der Überlieferung. Wir müssen übernehmen die Schuld der Väter. Daß in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens die Möglichkeit gegeben war für ein solches Regime, dafür tragen wir alle eine Mitschuld.“
All diese Ausführungen von Jaspers, der sich im „Dritten Reich“ in der „inneren Emigration“ befand, zeichnen sich durch ein starkes Gefühl der nationalen Zugehörigkeit aus, aus dem für ihn eine besondere Verpflichtung resultierte, wegen der „Mitbetroffenheit als zum deutschen geistigen und seelischen Leben gehörender Mensch“. Gleichwohl behauptete er auch, „anderen Kollektiven nahe zu sein“:
„Darin aber ist die Gegebenheit des Deutschseins, das heißt wesentlich das Leben in der Muttersprache, so nachhaltig, dass ich mich auf eine rational nicht mehr fassliche, ja rational sogar zu widerlegende Weise mitverantwortlich fühle für das, was Deutsche tun und getan haben. Ich fühle mich näher den Deutschen, die auch so fühlen – ohne daraus eine Pathetik zu machen – und fühle mich ferner denen, deren Seele diesen Zusammenhang zu verleugnen scheint.“
Viele waren es nicht, die wie er empfanden und dem auch Ausdruck gaben: eine Handvoll Schriftsteller, Historiker, Geisteswissenschaftler, einige Kirchenführer, insbesondere evangelische, junge Idealisten der „Aktion Sühnezeichen“, die freiwillig in Auschwitz und Majdanek arbeiteten, als Zeichen der Buße für die Verbrechen der Väter und Ausdruck des Willens zur Versöhnung mit den Opfern der deutschen Aggression. Solche Einstellungen sind aller Ehren wert, aber massenhaft unmöglich. In der DDR ging die Staatsideologie den einfachsten Weg und distanzierte sich vom Erbe der Nazis, als ob der Nationalsozialismus eine Okkupation gewesen wäre. In der Bundesrepublik hingegen ist die Veränderung des moralischen und politischen Klimas scheinbar nicht so sehr Ergebnis einer kritischen Neubewertung der Vergangenheit, sondern eher Ergebnis der geringen Beschäftigung damit, die sicher auch mit dem wachsenden Wohlstand und der kosmopolitischen Erziehung der Jugend zusammenhängt. Diese Jugend ist heute – in ihrer Masse – frei von Nationalismus wie auch vom nationalen Schuldkomplex, also schlicht normal. Für sie ist der Nationalsozialismus nur noch ein unverständlicher und lächerlicher Irrsinn von Psychopathen, eine ebenso exotische Episode wie die Massaker des Timur. Man könnte annehmen, dass gerade dies die gesündeste und natürlichste Form zur Überwindung der fürchterlichen Vergangenheit ist.
Es ist jedoch nicht sicher, dass das Problem des Erbes für immer neutralisiert ist. In letzter Zeit sind aus beiden deutschen Staaten, Signale einer gewissen Renaissance des deutschen Patriotismus zu vernehmen (aus der DDR eher eines preußischen Patriotismus), was von neuem die Notwendigkeit der Rekonstruktion einer nationalen Tradition auf die Tagesordnung bringt. Im Mai 1986 fand in diesem Zusammenhang in Aschaffenburg ein Treffen von Intellektuellen mit dem Thema: „Patriotismus nach Auschwitz?“ statt. Kann man nach Auschwitz noch ein deutscher Patriot sein? Auf diese Frage gab es unterschiedliche Antworten. Aus der Presseberichterstattung kann man schlussfolgern, dass die Mehrheit der Teilnehmer der Ansicht zuneigte, die Bindung ans Vaterland impliziere nicht nur Stolz auf seine historischen und kulturellen Errungenschaften, sondern auch Scham für die begangenen Verbrechen.
„Diese Scham nimmt uns niemand, niemand ab.“ Diese Worte stammen schon vom ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, geäußert in einer Rede anlässlich der Enthüllung eines Denkmals für die Opfer des Konzentrationslagers Bergen-Belsen 1952.
Der 40. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands weckte in der Bundesrepublik eine neue Welle bisher unterdrückter Emotionen, wodurch erneut die Ambivalenzen der Haltungen zu Tage traten. So unterschiedliche Politiker wie Helmut Schmidt und Franz-Joseph Strauss bekannten zwar, dass das Schandmal nicht verschwunden sei, warnten aber gleichzeitig davor, die andauernde Ankettung der Deutschen in den Kasematten der Geschichte könne am Ende eine moralische Paralyse auslösen. Kein Volk, so Strauss, könne ewig mit einer „kriminellen Vergangenheit“ leben. Gleichzeitig zeigten jedoch alle möglichen Umfragen, dass das Interesse an den Ursachen und Verbrechen des Nationalsozialismus in den Nachkriegsgenerationen deutlich ausgeprägter ist als bei denen, die das Dritte Reich noch bewusst erlebt hatten. Dies bestätigte wiederum die These, dass der Schuldkomplex eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit blockiert.
Die unterschiedlichen Gefühle und Haltungen versuchte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner sorgfältig austarierten und allgemein gut aufgenommenen Rede auf der gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat am 8. Mai 1985 zu versöhnen. Es gebe, so von Weizsäcker, keine kollektive Schuld, so wie es auch keine kollektive Unschuld gebe.
„Der ganz überwiegende Teil unserer heutigen Bevölkerung war zur damaligen Zeit entweder im Kindesalter oder noch gar nicht geboren. Sie können nicht für Taten, die sie gar nicht begangen haben, eine eigene Schuld bekennen. Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein Büßerhemd zu tragen, nur weil sie Deutsche sind. Aber die Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft hinterlassen. Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen [Hervorhebung von J. J.]. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. [...] Gerade deshalb müssen wir verstehen, dass es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann.“
Weiter führte er aus:
„Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird. Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit.“
Wie man aus diesem flüchtigen Überblick erkennen kann, ist die Verlegenheit im Umgang mit den dunklen Seiten der eigenen Geschichte nicht zu trennen vom Gefühl einer kollektiven Identität. Diese Unruhe – egal ob man sie nun als Scham, Gefühl der Schande, Verantwortung oder Verpflichtung zur Erinnerung und Beurteilung nennt – kann man in sich unterdrücken, aber die Unterdrückung selbst zeugt von ihrer Anwesenheit. Damit bleibt die Idee einer Verantwortung für die nationale Vergangenheit schwankend und unklar. Das Vaterland ist, auch wenn man es ablehnen kann, so oder so keine Freiwilligenorganisation mit verbindlicher Doktrin und einem Glaubensbekenntnis. Die Geschichte eines jeden Volkes enthält widersprüchliche politische Ideale, Gewohnheiten und Verhaltensmuster, zwischen denen man frei auswählen und sich auch nur für einen Teil des Erbes entscheiden kann.
Anders verhält sich die Sache, wie ich meine, mit formalen Institutionen wie politischen Parteien oder Kirchen.
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Jede Institution, die lange genug existiert, steht vor dem komplexen Problem von Kontinuität und Veränderung. Ihre Handlungsweisen oder auch ihre deklarierten Ziele können sich vielfach ändern: Sie kann ein neues Ethos annehmen, eine neue Sicht auf die sie umgebende Welt, neue Erziehungsprinzipien. Dennoch bleibt sie immer die gleiche Institution, mit dem gleichen übergeordneten Prinzip und Sendungsbewusstsein, den gleichen heiligen Büchern, Propheten und Märtyrern. Ihr Beginn und die spätere Tradition dienen ihr als Bekräftigung, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt kann sich erweisen, dass ein Teil der Tradition zu den heute geltenden Werten im Widerspruch steht, ja dass diese Tradition zur Scham veranlasst. Was dann? Der Tradition entsagen geht nicht und in stark integrierten Organisationen verzichtet man in der Regel nicht auf die offizielle Auslegung der eigenen Geschichte. Diese Auslegung muss in jedem Zeitraum einigermaßen einheitlich und verbindlich sein, sie kann sich jedoch mit der Zeit ändern, was jedoch eine empfindliche Operation darstellt. Eine kompromisslose Umwertung des geschichtlichen Erbes bringt schließlich die Gefahr einer Unterbrechung der Kontinuität mit sich, sät Skepsis und birgt das Risiko eines Schismas. Gemeinhin löst man dieses Dilemma mit Hilfe unzureichender Mittel: Man verändert die Anordnung der historischen Dekoration, hebt die einen Bestandteile des Erbes hervor, rückt die anderen in den Schatten, so dass die eigentlich ins Auge stechenden Unstimmigkeiten zwischen den Werten verkleinert werden. Schwierige Zeiträume setzt man in Klammern, beschreibt sie als zufällige Episoden, momentane Abweichungen, die jedoch nicht den heiligen Missionsauftrag beschädigt haben. Einige historische Gestalten können bei dieser Gelegenheit verschwinden oder ihre Porträts werden retuschiert.
Trotz solcher Anpassungsbemühungen kehrt die Frage der institutionellen Verantwortung für die Vergangenheit, wie sie sich heute darstellt, immer irgendwann zurück und verursacht Probleme. So haben die kommunistischen Parteien, die ihren früheren Radikalismus hinsichtlich der Ziele und Mittel verloren haben und nun pragmatischer, konventioneller, ja sogar bewahrender geworden sind, heute ernsthafte Probleme mit ihrer Tradition und deren verschiedenen Bestandteilen, beginnend mit den revolutionären Quellen. Schon dort tritt die erwähnte Disharmonie der symbolisierten Werte zu Tage: Das Ethos des radikalen Nonkonformismus der alten Kämpfer ist schließlich schwer mit der heutigen Betonung von Ruhe, Ordnung und Akzeptanz der Herrschenden sowie Gesetzestreue in Übereinstimmung zu bringen. Dass der 80. Jahrestag der Revolution von 1905 mit ihren Streikwellen, Demonstrationen und Straßenkämpfen in Polen fast vollständig mit Schweigen übergangen wurde, ist ein charakteristisches Beispiel jener Verlegenheit gegenüber dem eigenen Traditionskanon. Ähnlich sieht es mit dem Erbe der SDKPiL (Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen) und der KPP (Kommunistische Partei Polens) aus, das immer dann Schwierigkeiten verursacht, wenn die Partei nationale Werte betont.
Ein noch ernsthafteres Problem ist mit dem Zeitraum der sogenannten „Fehler und Abweichungen“ verbunden, nicht so sehr hinsichtlich der Disharmonie der maßgeblichen Werte, sondern wegen der Kompromittierung der damaligen Methoden. Hier sind zwei Haltungen möglich, die beide eine gewisse Berechtigung haben. Einerseits kann man sagen, dass auch Institutionen ihre Verbrechen verantworten müssen, solange sie nicht abgebüßt sind, so wie dies für den einzelnen Menschen gilt, womit man die ununterbrochene Kontinuität der Institution betont. Anderseits bestehen Institutionen aus Menschen. Neue Führer und neue Mitglieder sind daher nicht verantwortlich für die früheren Verfolgungen, denn einige von ihnen waren sogar deren Opfer. Heute streben sie unter Verwendung gemäßigterer Mittel neue Ziele an. Aus welchem Grunde sollten sie ihr Gewissen mit fremden Sünden belasten und auf aufdringliche Fragen zu abgeschlossenen Kapitel der Geschichte antworten?
Sofern sie sich jedoch nicht vor Anklagen fürchten müssen, könnte man vermuten, dass ihnen die Enthüllung der Wahrheit leichter fallen müsste, umso mehr, als die Distanz die alten Leidenschaften doch mindert und Umwertungen fördert. In der Praxis stellt sich dies jedoch nicht so einfach dar. Nach jeder Umwälzung und jedem Austausch der Führungsriege kommt es zur „Abrechnung“ mit dem vorherigen Zeitraum: Es werden einige kritische Publikationen gedruckt, zuvor zurückgehaltene Filme und Romane veröffentlicht, Kommissionen zur Aufarbeitung der Unrechtmäßigkeiten eingesetzt und manchmal den Opfern Denkmäler gesetzt. Sobald jedoch die durch die Veränderung freigesetzten Emotionen abgeklungen sind und sich die neue Ordnung der Dinge stabilisiert hat, wird dies alles zum Schweigen gebracht, die Berichte der Kommissionen werden zensiert oder wandern ins Archiv, oberflächliche Aufarbeitungen werden beendet. Was führt zu dieser Blockade? Zum Teil gewiss der Umstand, dass der Personalaustausch nie vollständig ist, weshalb die Enthüllung von Sensationen aus dem vorherigen Zeitraum auf den Widerstand derjenigen trifft, die davon bedroht werden. Stärker ist jedoch, wie es scheint, die Angst vor einer Bedrohung der Institution selbst: Eine vollständige Enthüllung der Wahrheit über die Vergangenheit wirft schließlich einen Schatten auf die Partei als solche, untergräbt also auch die Autorität der neuen Führung. Bisher gab es keine Gelegenheit zu überprüfen, ob diese Angst begründet ist, aber es ist klar, dass sie paralysierend wirkt.
Am interessantesten ist in diesem Zusammenhang, dass es dabei schließlich nicht um wirkliche Enthüllungen geht. Die wichtigsten Fakten sind den Menschen schließlich bekannt aus eigenen Erfahrungen oder ausländischen und illegalen Publikationen. Es geht vielmehr um das Bekenntnis, also die Übernahme von Verantwortung. Durch einen derartigen Akt verändert sich die psychologische und politische Funktion der Information schließlich fundamental, selbst wenn ihr Inhalt gleich bleibt.
Die regierenden Parteien sind gefesselt von einem nervösen Komplex der historischen Schuld, der sich am stärksten zeigt in der Erinnerung an die sich immer weiter entfernende Stalinepoche, die weiterhin als vermintes Gelände mit Schweigen oder Euphemismen behandelt wird. Hier und da werden Andeutungen gemacht, manchmal in Filmen oder Romanen mutigere Bilder von der Atmosphäre des Terrors gezeichnet, aber keine Partei hat es bisher gewagt, offen und ohne Auslassungen dasjenige zu bekennen, was ohnehin seit langem bekannt ist. Daher werden uns die Gespenster der Vergangenheit weiterhin besuchen, solange eine symbolische Buße die moralische Ordnung der Welt nicht wiederherstellt.
4
Vor den schwierigen Problemen des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit können auch die christlichen Kirchen nicht entfliehen, insbesondere die katholische Kirche nicht. In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sie sie sich fundamental verändert und die lange Tradition von Autoritarismus und Intoleranz hinter sich gelassen. Zwar gibt es heute die Tendenz, diese Veränderung als evolutionär und organisch darzustellen, so z.B. in der Redaktionsdiskussion der Zeitschrift „Więź“ zum Thema „Postconcilium“. Halina Bortnowska stellte dabei fest, dass die Haltung Johannes Pauls II. im Widerspruch stehe zur Sichtweise, wonach das Zweite Vatikanische Konzil einen Umbruch darstelle:
„Für den Papst Wojtyła ist das Konzil eine Etappe in der Geschichte der Kirche, durch das nichts abrupt unterbrochen, nichts widerrufen wird. Das Konzil sei nicht irgendein Parteitag gewesen, auf der sich herausstellt habe, dass alles Bisherige vergiftet und entstellt gewesen sei und erst jetzt damit begonnen werden könne, eine neue wahre Ordnung zu errichten.“
Dieser Vergleich hinkt, denn gerade auf Parteitagen stellt sich niemals heraus, dass alles Bisherige verdorben gewesen ist; einer Institution, die zu so einem Ergebnis kommen würde, bliebe nur die Selbstauflösung.
In Momenten tiefer axiologischer Veränderungen finden sich immer solche, die eher die Kontinuität der Tradition betonen, und solche, die den Konflikt zwischen neuen und alten Prinzipien verschärfen: Diese Interpretationen sind im Grunde komplementär und nicht widersprüchlich. Hier interessiert der Konflikt, denn dieser generiert das Problem der Verantwortung. Die Last der Geschichte vermindert sich schließlich nicht, sondern wächst umso mehr, je stärker man von bisherigen Praktiken und Bestimmungen abweicht. So hat sich das Verhältnis der katholischen Kirche zu anderen Bekenntnissen – christlichen und nichtchristlichen – radikal verändert wie auch ihr Verhältnis zur weltlichen Wissenschaft sowie zu den unterschiedlichsten gesellschaftlichen und nationalen Befreiungsbewegungen, was die axiologischen Widersprüche zwischen der heutigen und der früheren Lehre der Kirche immer dramatischer erscheinen lässt. Daraus resultiert wiederum das steigende Bedürfnis, das gesamte historische Erbe neu zu erklären und zu bewerten, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Es lässt sich schließlich nicht leugnen, dass viele Dekrete des Heiligen Offiziums, Beschlüsse von Konzilien oder päpstliche Bullen, die – voller Erfindungen und Hass –, Dissidenten, Pietisten, Juden, angebliche Hexen, wahre Gelehrte, Philosophen, Schriftsteller und Freiheitskämpfer oder radikale Gesellschaftsreformatoren verfluchten und mit dem Bann belegten, nicht mehr mit dem heutigen Standpunkt der Kirche in Übereinstimmung zu bringen sind. Die heutige Haltung lässt sich weder mit der Ideologie der Kreuzzüge vereinbaren noch mit der Ausrottung der Albigenser, nicht mit Doktrin und Praxis der Hl. Inquisition, den Hexenprozessen, Index und Syllabus, Antisemitismus, der Unterstützung von Tyrannen und Mächtigen dieser Welt.
Eine Revision der Tradition ist jedoch eine unerhört schwierige Aufgabe sowohl für die Menschen als auch für die Institution selbst, psychologisch auch schwieriger als die bereits vollzogene Veränderung in der positiven Lehre, denn damit wird die emotionale Schicht stärker berührt. Es lässt sich auch im Vorhinein nicht sagen, wie weitreichend und folgenreich die Veränderungen einer solchen Revision sein werden. Immerhin finden sich auch unter den Heiligen, die vor Jahrhunderten auf die Altäre gehoben wurden, fanatische Verfolger und Anstifter von religiösen Pogromen wie Johannes Capistranus oder Vinzenz Ferrer. Was soll man damit anfangen? Sollte man empfehlen, die Heiligsprechungsprozesse in jedem aus heutiger Sicht zweifelhaften Einzelfall einer Revision zu unterziehen?
Angesichts solcher Dilemmata kann die Kirchengeschichtsschreibung mit Theologie und Moral nicht Schritt halten. Sie wirkt unsicher und unruhig, es fehlt ihr an Mut und sie flüchtet in den Nebel von Euphemismen und Andeutungen, insbesondere dann, wenn es um die Auseinandersetzung mit den Problemen von religiöser Gewalt und Verfolgung geht.
Einige Autoren reagieren mit Ungeduld und Misstrauen auf sämtliche entsprechende Aufforderungen. Vor zwei Jahren äußerte ein katholischer polnischer Autor dazu:
„Geht es um die Scheiterhaufen, dann brannten diese zu einer Zeit, als die Menschen zutiefst davon überzeugt waren, dass ein Fehler aus bösem Willen resultieren muss, was nicht wahr ist. Als sie sich darüber klar wurden, bekannten sie, dass sie falsch gehandelt hatten. Was sollen sie noch tun? Sich vor dem Kreuz niederwerfen bis zum Tag des Jüngsten Gerichts?“
Andere bemühen sich, die Geschichte von Hass und Angst als fast unbedeutende Nebenströmungen, als „Fehler und Abweichungen“ zu interpretieren, die hier und da den klaren Strom der christlichen Liebe etwas getrübt hätten oder sie erinnern daran, dass Verfolgungen, Folter und Scheiterhaufen zum Erbe der gesamten europäischen Kultur gehören, also nicht nur zu dem der institutionalisierten Kirche. Dies ist sicher richtig, nur haben sich weltliche Philosophie und Historiographie schon seit dem 18. Jahrhundert damit beschäftigt, wobei ihnen das Gefühl einer europäischen Identität in dieser Hinsicht nicht geschadet hat.
Manchmal wird auch unterstrichen, dass eine Bewertung der Vergangenheit mit historischer Distanz erfolgen sollte und unter Berücksichtigung der beispielsweise mittelalterlichen Mentalität, was jedoch de facto die Zustimmung zu einem axiologischen Relativismus bedeutet, der eher im Widerspruch stehen dürfte zur christlichen Morallehre. Zu dieser Haltung äußerte sich Johannes Paul II. in seiner Ansprache in der Synagoge von Rom:
„Der Blick auf die jahrhundertealten kulturellen Bedingungen könnte jedoch nicht verhindern, anzuerkennen, dass die Akte der Diskriminierung, der ungerechtfertigten Einschränkung der religiösen Freiheit und der Unterdrückung auch auf der Ebene der bürgerlichen Freiheit gegenüber den Juden objektiv äußerst bedauerliche Vorfälle gewesen sind.“
Die Kommission für das Verhältnis zum Judentum der französischen Bischofskonferenz hatte jedoch schon 1973 festgestellt, dass „es natürlich unmöglich ist, innerhalb eines Tages alle Feststellungen und historischen Einstellungen, die in Jahrhunderten von der Kirche geäußert wurden zu revidieren.“
Dies ist gewiss nicht möglich. Wesentlich ist jedoch, dass trotz aller verständlichen Animositäten und Verteidigungsmechanismen, zu denen unter den polnischen Bedingungen noch besondere Empfindlichkeiten hinzu kommen , dennoch ein Prozess der kritischen Umwertung des Erbes begonnen hat, was von einer Übernahme der Verantwortung dafür zeugt.
In dieser Hinsicht bezeichnend sind solche Tatsachen, wie die, mit Billigung des Papstes erfolgte, offizielle „Tilgung aus dem Gedächtnis“ der gegenseitigen Exkommunikation von Ost- und Westkirche, die Wiederaufnahme der Untersuchung gegen Galileo Galilei zu dessen Rehabilitierung oder die kürzliche Forderung von Professor Stefan Świeżawski im „Tygodnik Powszechny“ nach einer Revision des Prozesses gegen Jan Hus. Der Artikel von Świeżawski, eines in der Kirche sehr angesehenen Gelehrten, zeugt – insbesondere im Hinblick auf die kompromisslose Bewertung der Konzilsatmosphäre in Konstanz – von der Existenz eines historischen Denkens, das die bisherigen Blockaden überwindet. Der Autor selbst spricht von einem „heute dringenden Bedürfnis nach Revision vieler kirchlicher Verurteilungen und Verbote“, die aus dem vom Vaticanum beschlossen Prinzip der Offenheit resultieren, aus dem „den Kern des Konzils bildenden berühmten aggiornamento.“ Es steht außer Zweifel, dass diese Revision und Werteanpassung, vor der die Kirche steht, in einem bisher ungeahnten Ausmaß erfolgen muss, wenn sie konsequent sein soll. Dies anzugehen, kann sich nur eine Institution leisten, die nicht um ihre Autorität zittert.
5
„Wir hatten keine Regierung und das ist einzig und allein die Ursache für unseren Untergang“, schrieb ein polnischer Historiker vor einem Jahrhundert. „Im Verlauf von 123 Jahren haben wir sechs Aufstände überstanden“, schreibt ein polnischer Historiker heute. Das seltsame „wir“, das den Sprecher nicht einbezieht! Es kann überhaupt kein physisches Subjekt mit einbeziehen, denn niemand hat schließlich sechs Aufstände miterlebt. Das historische „wir“ ist, bewusst oder unbewusst, ein Bekenntnis zur solidarischen Teilnahme an Leben und Werten, Höhen und Tiefen einer Gemeinschaft vieler Generationen. Wir Polen, wir Deutsche, wir Christen, wir Sozialisten... Wir Europäer, wir Weiße: Hat Sartre nicht uns die Verantwortung für die Gräueltaten des Kolonialismus zugewiesen? Wir Menschen, die nicht nur einmal mit Erschrecken daran denken, wozu wir fähig sind. Die Verantwortung nimmt damit die Ausmaße einer „metaphysischen Schuld“ an. Es ist schwer, damit fertig zu werden.
Ich bin mir der methodologischen Schwierigkeiten bewusst und auch der manchmal gefährlichen praktischen Konsequenzen, die aus der Anerkennung des Umstands resultieren kann, sich nicht vor einer Verantwortung für die Vergangenheit, die ererbt wurde, drücken zu können. Ich glaube jedoch, dass dieses Prinzip, egal ob bewusst oder unbewusst anerkannt, so oder so im gesellschaftlichen Leben gegenwärtig ist, in der moralischen Haltung. Besonders hartnäckig macht es auf sich aufmerksam, wenn schwierige Ereignisse verdrängt werden. Geschichte lässt sich nicht begraben, denn es findet sich immer jemand, der sie wieder ausgräbt und allen vor Augen führt. Das Erbe ist allen gegeben und von allen hängt es ab, was damit angefangen wird.
Kollektive Verantwortung – das soll hier wiederholt werden – fasse ich als Verpflichtung zur symbolischen Wiedergutmachung eines einstmals begangenen Unrechts auf, nicht als Heimzahlung. Eine symbolische Wiedergutmachung bewirkt in der menschlichen Gesellschaft eine Reinigung oder Katharsis, wodurch verhindert wird, dass sich Hass ansammelt, und das Recht auf Vergeltung erlischt.
Die gewiss erfolgreichste Form der symbolischen Wiedergutmachung ist die möglichst vollständige, allseitige, ausgewogene und redliche Beschreibung und Verbreitung der Wahrheit. Kein Berufshistoriker wird sich jedoch darüber täuschen, wie viele Befürchtungen und Widerstände man dabei in sich überwinden muss. Befürchtungen vor den Wächtern des Wortes, aber auch vor der Öffentlichkeit; wie viele eigene Ausflüchte man bekämpfen, wie viele festsitzende Vorurteile und Komplexe besiegen, wie viele Interessen man verletzen muss, um vor einer solchen Pflicht nicht zu kapitulieren und stattdessen einen leichteren und sicheren Weg zu wählen.
Wenn die historische Wahrheit als Katharsis dienen soll, dann kommt noch erschwerend hinzu, dass es keinesfalls gleichgültig ist, wer sie enthüllt und lehrt. Es ist nicht gleichgültig, ob das Zeugnis über die Vernichtung der Armenier in Anatolien von armenischen oder türkischen Historikern oder aber von Forschern aus an dem Konflikt unbeteiligten Ländern verkündet wird. Es ist nicht gleichgültig wessen Imprimatur dieses oder jenes Schulbuch, jene Kurzdarstellung oder Dokumentenveröffentlichung aufweist. Es ist seitens der Wissenschaft zwar völlig gleichgültig, aber nicht im gesellschaftlichen Leben, wo es weniger um die Kenntnis der Fakten geht als um gemeinschaftliche Gefühle, die geweckt oder gedämpft werden durch diese Fakten, durch Erfindungen und Verheimlichungen, durch Rechtfertigungen und Bewertungen.
Schließlich ist es nicht so, dass die Bewältigung der Vergangenheit nur aus Rücksicht auf andere notwendig ist, also denjenigen, denen wir Wahrheit und Wiedergutmachung schulden. Niemand fordert etwa solches im Namen der restlos ausgelöschten Albigenser. Leicht lässt sich sagen: Sollen die Toten ihre Toten begraben, jetzt muss man an die Aufgaben von heute und morgen denken. Leider fesselt die Erinnerung an die nicht beerdigten Skelette unsere Schritte, verhindert Ehrlichkeit gegenüber uns selbst, behindert den Mut zu Reformen und zur Herausbildung neuer, offener Haltungen. Apologetik kann bis zu einem gewissen Punkt günstig für die Integration und die Gemeinschaftsmoral sein, aber nicht für deren Entwicklung. Entwicklung, sowohl persönliche als auch kollektive, ist schließlich nicht möglich ohne Überwindung der unterdrückten Angst. Deshalb hat die Erkenntnis der Geschichte und deren mutige Annahme therapeutische Eigenschaften.
Januar 1987
Aus dem Polnischen übersetzt von Matthias Barelkowski, Berlin