Aktualität und Kontext von Jerzy Jedlickis Essay „Erbe und kollektive Verantwortung“
Einleitende Bemerkungen
Der von dem Historiker und Soziologen Jerzy Jedlicki 1987 verfasste und 1988 in London vom polnischen Exil-Verlag Aneks publizierte Essay „Erbe und kollektive Verantwortung“ , den wir hier erstmalig auf Deutsch veröffentlichen, ist trotz seines Erscheinens vor fast 35 Jahren von anhaltender Aktualität, ist doch das Thema, welches Erbe und welche Verantwortung eine Gemeinschaft annimmt schon aufgrund seiner prozesshaften Natur ein stets aktuelles, ein Thema, das nicht abgeschlossen werden kann. Vergangenheit kann in dem Sinne nicht „bewältigt“ werden, weil jede Generation ihr Verhältnis zur Vergangenheit neu definiert. Dies geschieht nach Jedlicki stets in einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart, denn das Verhältnis zur Vergangenheit sei ein unverzichtbarer Bestandteil des Gefühls kollektiver Identität.
In Polen – wie auch anderswo – wird daher im Jahr 2022 noch ebenso über die kollektive Verantwortung für die Vergangenheit gestritten und debattiert wie seit den späten 1980er Jahren. Geschichte und Erinnerung stehen regelmäßig im Zentrum öffentlich ausgetragener und nicht selten hitzig geführter Debatten. Das zentrale Ereignis, auf das sich diese Debatten beziehen, ist der Zweite Weltkrieg und die damit zusammenhängenden emotional aufgeladenen Fragen von (Mit-)Täterschaft, Opferstatus und Verantwortung. Dabei stehen sich die Meinungen oft dichotomisch gegenüber – zwar herrscht Konsens darüber, dass der Vergangenheit gedacht werden soll und Geschichte und Erinnerung eine immens wichtige Rolle in der polnischen Öffentlichkeit spielen, jedoch ist die Frage, welche Geschichten erzählt werden sollen, welche Museen gegründet werden, und welches Narrativ zur Meistererzählung Polens gemacht werden soll, gesellschaftlich höchst umstritten. Die seit 2015 allein regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) hat eine relativ eindeutige Antwort auf diese Frage gefunden: Sie stellt eine nur wenig diverse, affirmativ nationalistische und auf positiv konnotiertes Heldentum abzielende Erzählung in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen, Geschichte in zahlreichen neu gegründeten Museen, Forschungseinrichtungen und weiteren Institutionen zu popularisieren.
Mit dieser Art von erinnerungspolitischem Populismus soll explizit Patriotismus befördert werden. Dieser Patriotismus wiederum habe der Stärkung von Nation, Familie und Religion, der Pflege polnischer Freiheitstraditionen und der Stimulierung von Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger Polens zu dienen, wie es im Parteiprogramm der PiS von 2019 heißt. Dies läuft auf eine selektive, zielgerichtete und apologetische Verwendung von Vergangenheit hinaus, in der diejenigen Anteile möglichst abgespalten oder zumindest nicht prominent exponiert werden sollen, die kein uneingeschränkt positives Bild der polnischen Gesellschaft zeichnen. Dazu gehören etwa der zeitweilig weit verbreitete, auch gewalttätige Antisemitismus in Polen, die begrenzte Mittäterschaft während des Holocaust oder das Vorgehen polnischer Institutionen und Personen während der Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung nach 1945.
Jerzy Jedlicki hat in seinem Essay und in seinem Nachdenken darüber, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst, eine andere Haltung eingenommen: Für ihn war es klar, dass Gemeinschaften und Institutionen die jeweilige Vergangenheit in Gänze erben, es sei unmöglich, nur die positiven Traditionen zu übernehmen, denn, so Jedlicki: „Geschichte lässt sich nicht begraben, denn es findet sich immer jemand, der sie wieder ausgräbt und allen vor Augen führt. Das Erbe ist allen gegeben und von allen hängt es ab, was damit angefangen wird.“ Er bezweifelte, dass eine Gemeinschaft nur den Stolz auf die Verdienste der Vorfahren in Anspruch nehmen und gleichzeitig die Mitverantwortung für deren Schuld unterdrücken könne. In einer produktiven Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kollektivschuld, wie ihn der Philosoph Karl Jaspers für die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Regimes nach 1945 diskutiert hat, sah Jedlicki eine Verantwortung der Erben, eine Verantwortung aber ohne „Schuld und Strafe“. Wenn man ein Erbe mit den dazu gehörigen Schulden übernehme, so Jedlicki, dann ist man keineswegs moralisch für diese Schulden verantwortlich, aber dennoch dazu verpflichtet, diese Schulden zu regulieren. Ebenso sah es Jedlicki im Fall einer Gemeinschaft, einer Nation, einer Religion, politischer Parteien oder sozialer Gruppen: Wenn im Namen solcher Gemeinschaften in der Vergangenheit Verbrechen oder verwerfliche Taten begangen wurden, dann sind die einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaft dafür nicht moralisch zur Verantwortung zu ziehen. Sie haben aber die moralische Verpflichtung, das verbrecherische Handeln anzuerkennen, es beim Namen zu nennen, und, wenn möglich, den Opfern Genugtuung zu verschaffen, indem sie sich um ein möglichst wahrheitsgetreues, ausgewogenes und redliches Bild der Vergangenheit bemühten. Jedlicki war davon überzeugt, dass eine solche, sowohl positive als auch negative Anteile umfassende Aufarbeitung von Vergangenheit eine kathartische Wirkung haben könne:
„Kollektive Verantwortung […] fasse ich als Verpflichtung zur symbolischen Wiedergutmachung eines einstmals begangenen Unrechts auf, nicht als Heimzahlung. Eine symbolische Wiedergutmachung bewirkt in der menschlichen Gesellschaft eine Reinigung oder Katharsis, wodurch verhindert wird, dass sich Hass ansammelt, und das Recht auf Vergeltung erlischt.“
Hier argumentiert Jedlicki im Sinne von Karl Jaspers, der davon überzeugt war, dass erst aus Schuldbewusstsein „das Bewusstsein der Solidarität und Mitverantwortung, ohne die die Freiheit nicht möglich ist,“ entsteht. Die Fähigkeit wiederum, historische Schuld zu benennen und anzuerkennen, ist als eine Voraussetzung für demokratische Einstellungen und Verhaltensdispositionen interpretiert worden, denn sie befördere ein Bewusstsein für Verantwortung, für Empathie, Selbst- und Fremdvertrauen – Eigenschaften, die für die Mitlieder einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar seien. Ähnlich sah es Jedlicki, der quasi ex negativo argumentierte und postulierte, dass die „nicht beerdigten Skelette“ in Polen, wozu er unter anderem einen „Massenantisemitismus“ im 19. und 20. Jahrhundert zählte, „Ehrlichkeit gegenüber uns selbst“ , den Mut zu Reformen und die Herausbildung neuer, offener Haltungen behinderten. Der damals herrschenden historischen Apologetik bescheinigte er zwar, bis zu einem gewissen Punkt hilfreich für die Integration einer Gesellschaft und der Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls zu sein, attestierte ihr aber gleichzeitig, die Entwicklung dieser Gemeinschaft zu behindern, sei doch persönliche und kollektive Entwicklung nur möglich, wenn unterdrückte Ängste überwunden würden. Deshalb, so Jedlicki am Ende seines Essays, „hat die Erkenntnis der Geschichte und deren mutige Annahme therapeutische Eigenschaften.“
Wie ist Jedlickis Text in die Geschichtsdiskurse der Volksrepublik Polen einzuordnen? Von 1949 bis etwa 1980 bildete der Zweite Weltkrieg einen zentralen Referenzraum der staatlichen Erinnerungspolitik, die weitgehend von den staatssozialistischen Machthabern definiert wurde. Sie bestand aus Elementen des traditionellen historischen Kanons der Nationalgeschichte, gereinigt von antirussischen und antisowjetischen Narrativen. Während in der offiziellen Ideologie Internationalismus und Völkerfreundschaft verkündet wurden, stellte sich der Nationalismus der Kommunisten, der ihre Macht stabilisieren sollte, als überaus traditionell und fremdenfeindlich dar. Offene Diskussionen über den Holocaust, sowjetische Kriegsverbrechen, die Minderheiten, aber auch über den als bürgerlich verpönten Warschauer Aufstand blieben durch die kommunistischen Regierungen blockiert. Solche Diskurse fanden eher im privaten Rahmen eines Gegengedächtnisses einen Raum, so dass insgesamt nicht von einer gänzlich monolithischen und nur offiziellen Erinnerungskultur in Polen auszugehen ist. Über die private Erinnerung waren Juden im nationalen Bewusstsein präsent, die Erinnerung an die ermordeten Juden als eigenständige Opfergruppe spielte in Polen aber keine herausragende Rolle.
Dieses von den staatsozialistischen Institutionen gestützte, einseitige und nationalistische Narrativ wurde in den 1980er Jahren vielfach von polnischen Autoren herausgefordert. Viel Beachtung erhielt etwa der von Jan Józef Lipski 1981 verfasste Essay „Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen“, in der Lipski die polnische Fremdenfeindlichkeit, den Größenwahn und die Verlogenheit der öffentlichen Debatte über Juden und Deutsche im sozialistischen Polen anprangerte. Er wies darauf hin, dass eben nicht nur nichtjüdische, christliche Polen Opfer des Krieges waren, sondern auch die Juden in Polen und er integrierte hier auch die aus den historisch deutschen Ostgebieten vertriebenen Deutschen. Der Autor forderte einen kritischen Patriotismus und den Aufbau einer Zivilgesellschaft in Polen.
Während Lipskis Text noch im Exil in der Pariser Zeitschrift „Kultura“ erscheinen musste, erlaubte die Zensur in Polen sechs Jahre später bereits die Veröffentlichung eines Artikels des Literaturwissenschaftlers Jan Błoński in der katholisch geprägten Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“, der ebenfalls für eine radikal andere Interpretation der Vergangenheit plädierte. Unter dem Titel „Die armen Polen schauen aufs Ghetto“ diagnostizierte Błoński 1987 in der polnischen Gesellschaft einen Habitus von Gleichgültigkeit gegenüber dem Völkermord an den Juden und löste damit eine erste, große Debatte über das Verhältnis der nichtjüdischen polnischen Gesellschaft zur jüdischen Bevölkerung während der deutschen Okkupation aus. In diesem Kontext einer allmählichen Öffnung der polnischen Gesellschaft für die Komplexität und Diversität der Vergangenheit, die neben Widerstand und Opferbereitschaft auch weniger heldenhafte Verhaltensweisen wie Gleichgültigkeit angesichts des Holocaust, Denunziation oder Mittäterschaft enthielt, erschien auch Jedlickis Text und trug zu dieser Öffnung bei. Auch sein Text rief ein lebhaftes Interesse und Diskussionen hervor. Einen Teil der Debatte dokumentieren wir hier mit – so die Replik des Philosophen Stefan Amsterdamski unter dem Titel „Verantwortung ohne Schuld und Strafe?“, die ebenfalls 1987 erschienen ist, sowie ein in den Jahren 1991–1993 verfasstes „Postscriptum“ von Jerzy Jedlicki, in dem er seinen Kritikern antwortete und eine Kontextualisierung seines Textes vornahm.
Maciej Janowski hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass Jedlicki seinen Standpunkt später weiterentwickelt und etwas modifiziert hat. Anstelle der Annahme, einzig und allein eine innere Aufarbeitung kollektiver Schuld könne die Voraussetzung für Versöhnungsprozesse sein, argumentierte Jedlicki im Jahr 1999 in einem weniger bekannten Aufsatz, dass eine gewisse Distanzierung von einer verbrecherischen Vergangenheit ein pragmatischerer Ansatz für eine Verständigung zwischen verschiedenen Nationen oder Gruppen sein könnte. Diese Einsicht formulierte er unter anderem vor dem Hintergrund des Krieges in Jugoslawien. Höchst unwahrscheinlich sei es demnach, dass nach dem Ende der Gewalt nur eine einzige Wahrheit hinsichtlich Ursachen und Verlauf des Krieges von allen beteiligten Gruppen akzeptiert werden würde. Dies erwies sich als richtige Voraussage und wichtige Ergänzung zu seinen vorherigen Überlegungen. Jedlicki betonte jedoch auch in diesem Text, dass die Vergangenheit nicht einfach vergessen werden könne, besonders nicht, wenn es sich um traumatische Ereignisse gehandelt habe.
Jerzy Jedlicki (1930–2018) war einer der bedeutendsten Ideenhistoriker Polens im 20. Jahrhundert. Er war lange Jahre mit dem Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften verbunden, wo er seit 1954 die Arbeitsstellte zur Geschichte der Inteligencja leitete. Jedlicki, der eine Ausbildung als Soziologe erhalten hatte, veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Sozial- und Kulturgeschichte Polens und nahm immer wieder auch an öffentlichen Debatten zur Geschichte und Erinnerung in Polen teil.