Einleitung

Die Anregung zu diesem ungewöhnlichen Vorhaben der historischen Narration verdanke ich Bernhard Chiari, der im Jahr 1999 die Geschichte eines fiktiven Dorfes in Weißrussland geschrieben hat. Der für das gemeinsame Forschungsprojekt gewählte Ansatz ermutigte mich bei der Wahl meines Themas. Die Konstruktion einer aus vielen verschiedenen Lebensläufen und Erinnerungen entwickelten Familiengeschichte stellt eine besondere, aber vielleicht eben deswegen anregende und interessante Anmerkung zum Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft dar. Aus methodischer Sicht bewege ich mich in einer Grauzone der kritischen „Rekonstruktion der Vergangenheit“. Um dies dem Leser zu verdeutlichen, möchte ich im Haupttext bewusst einen erzählenden Stil verwenden, während im Anmerkungsapparat deutlich die Forschungs- und Quellenlage nachgezeichnet wird. Soweit möglich, vermeide ich, Überlegungen und Gedanken einzelner Familienmitglieder explizit darzustellen, weil damit eine empirische Rückbindung nicht mehr gegeben wäre. Um mit Wolfgang J. Mommsen zu sprechen: „Jedoch ist der Historiker durch die vorfindlichen Quellenaussagen, die allerdings erst im Zuge eines perspektivischen Zugriffs (welcher, wie bereits angedeutet, fiktionale Elemente enthält) zu historischen Tatsachen erhoben werden, strikten Begrenzungen unterworfen, während der Schriftsteller darin grundsätzlich frei ist.“ Hinzu kommt die sprachliche Heterogenität zwischen Literatur und Historiographie. Ich werde mich deshalb betont vorsichtig narrativer Darstellungsmittel bedienen, insbesondere werde ich keine fiktiven Dialoge vorstellen: Wörtliche Rede wird nur dann verwendet, wenn ein entsprechendes Zitat belegt werden kann. ...

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