Anna Guadalupe Lorenz Tirado wurde 1925 in Mexiko geboren. 1938 schickte ihr Vater, ein deutscher Staatsbürger, sie zusammen mit ihren zwei Schwestern nach Berlin, um dort in einem Vorort zu leben und zur Schule zu gehen. Während der Ausgangssperre wurde sie im Sommer 1945 in Berlin von sowjetischen Soldaten unter dem Verdacht, für den britischen Geheimdienst zu spionieren, festgenommen. Sie verbrachte mehrere Jahre in Gefängnissen und Lagern der Sowjetunion und wurde schließlich nach Sibirien verbannt. 1956 wurde sie rehabilitiert und konnte nach Mexiko zurückkehren.
Vera Yarilinia, die im Herbst 2024 im Rahmen des Programms „Erinnerungspolitische Kontroversen in den deutsch-russischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts“ Fellow des Nordost-Instituts ist, geht in ihrem Forschungsprojekt „Der Fall Anita Lorenz Tirado: Weibliche Erfahrung sowjetischer Verbannung und ein vergleichender Ansatz der unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Deutschland und Russland“ dieser Geschichte nach. Die Historikerin kann dafür auf Briefe und Erinnerungen zurückgreifen, in denen Anita Tirado ihre Erfahrungen und Erlebnisse festgehalten hat. Detalliert schildert sie darin das Alltagsleben im ländlichen Sibirien, ihre Beziehungen zu Kollegen und Nachbarn und die Reaktionen der örtlichen Bevölkerung auf Stalins Tod. Scharfsinnig und präzise beobachtet und interpretiert Anita Tirado die lokalen Festtagsrituale und Bräuche. Zugleich aber fehlt jegliche Erwähnung des Krieges oder gar eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus in Deutschland. Die Zeugnisse, die Anita Tirado hinterlassen hat, sind wertvolle Quellen. Sie erzählen die Geschichte einer Frau, die lange um ihr Leben, ihre Ehre und Würde kämpfen musste, aber ebenso eine Geschichte selektiven Erinnerns. Vera Yarilinia analysiert in ihrem Projekt diese Erinnerung, verweist auf die Fehlstellen und nimmt das Projekt zum Anlass, sich mit den Besonderheiten der Erinnerungskulturen in Russland und Deutschland auseinanderzusetzen.
Vera Iarilina ist Ausstellungskuratorin mit einem besonderen Interesse an der Vermittlung von Repressionserfahrungen anhand von individuellen Lebensgeschichten. Für ihr gegenwärtiges Projekt arbeitet sie mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten zusammen.