„Wiedersehen mit der Heimat“
Reiseerfahrungen von Erik Gunnar Verg
1962 trat Erik Gunnar Verg seine Reise in die baltischen Sowjetstaaten Estland, Lettland und Litauen an. Mit einem Touristenvisum ausgestattet, hatte ihm das Reisebüro Fröhlich aus Hannover in Zusammenarbeit mit Intourist, die Reise in die Sowjetunion verkauft.
Die Ambitionen des 43-Jährigen waren vordergründig beruflicher Natur. Verg reiste offiziell als Journalist im Auftrag des Hamburger Abendblattes, um eine Reportage über die Sowjetstaaten zu schreiben. Da Verg selbst aber aus dem estnischen Tallinn stammte, war seine persönliche Neugierde auf die einstige „Heimat“ der wohl ausschlaggebende Grund für die Reise. Denn Anfang der 1960er Jahre war es Privatpersonen nicht gestattet, die baltischen Sowjetstaaten zu betreten und so verknüpfte der Journalist seinen beruflichen Auftrag mit seiner privaten Motivation, die konkret darin bestand, Kontakte zu Freunden aus seiner Schulzeit aufzunehmen.
Vergs Reisebericht wurde in den Baltischen Briefen (BB) als Fortsetzung in drei Ausgaben gedruckt. Hier wird der erste Teil „Wiedersehen mit der Heimat“ (BB Nr. 10/168 vom Oktober 1962, S. 5-7) präsentiert. Weitere Schilderungen der Reise lassen sich darüber hinaus in Vergs Autobiografie (Auf Begeist’rung Schwingen. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend im Baltikum, Husum 1995) finden.
Die seit November 1948 monatlich erscheinenden BB können sowohl aus der Außenperspektive als auch aus der deklarierten Innenperspektive als „Heimatblatt“ der Deutschbalten verstanden werden. Sie werden bis heute von Mitgliedern der Familie Baron von Kleist in der Nähe von Hamburg im Eigenverlag publiziert. Der Herausgeber bezeichnet die BB als berichtendes Organ „für die Entwicklung in Estland und Lettland seit 1945 aus der Außensicht“. Neben historischen sowie aktuellen zeitpolitischen Beiträgen zu den genannten Ländern gewährt das Blatt Einblicke in die Organisationsstrukturen der Deutschbalten: Die Deutschbaltische Landsmannschaft, der Deutschbaltische Kirchliche Dienst, der Deutschbaltische Jugend- und Studentenring, selbst die Baltische Historische Kommission sind hier vertreten. Darüber hinaus boten lange Zeit personenbezogene Rubriken, wie Nachrufe, Jubiläen, Jahrestage, Geburts- u. Todesanzeigen, die zentrale Quelle für familiengeschichtliche Nachrichten.
Warum überhaupt seitens Redaktion und Lesepublikum ein Interesse an Reiseberichten bestand, erklärt sich durch die restriktive sowjetische Abschottungspolitik: Zögerliche Schritte in Richtung Öffnung setzten ab 1956 mit dem Aufbau der ersten Filiale von Intourist in Riga ein. Über Intourist wurde dann, vier Jahre später, immerhin wenigen, ca. 2.500 Westtouristen, Zutritt hinter den „Eisernen Vorhang“ gewährt. Die Zahl der Besuchenden blieb über die Jahre gering. Erst nach 1970 verbreitete sich der Reisestrom, als erstmalig Verwandtenbesuche genehmigt und Einladungen ausgesprochen werden durften. Nach wie vor war aber auch in diesen Jahren ein Visum für die Einreise erforderlich. (Detlef Henning: Dissertation, Wiesbaden 2022, Kap. 7.4)
Verg selbst beschrieb daher sein Reisevorhaben nicht ohne Stolz als „Pioniertat“ (Autobiografie, S. 262). Ihm, der über ausgedehnte Verbindungen unter den Deutschbalten verfügte, konnte bis dato nur von einer Person mit derselben Herkunft berichten, die die estnische Sowjetrepublik betreten hatte.
Die Attraktivität einer touristischen Reise in die baltischen SU-Republiken wurde – wie bereits angesprochen – von Seiten des Reiselandes niedrig gehalten. Die Fahrt war teuer und galt zudem als gefährlich. Auch die strikte Reglementierung, die Konditionen wurden von Intourist vorgegeben, verhinderte die Realisierung mancher Reisewünsche. Erklärtes Ziel von Intourist bestand schließlich darin, Freiräume für individuelle Bedürfnisse der Reisenden gar nicht erst zu ermöglichen. Auch Verg musste daher eine Pauschalreise buchen, die zunächst in der sowjetischen Hauptstadt begann, dann nach Reval führte und schließlich in Leningrad ihren Abschluss fand. Nicht nur der Reiseweg war strikt vorgegeben, auch die Reiseführung und die Unterkunft waren nicht verhandelbar. Alleingänge waren in diesem Reiseprogramm nicht vorgesehen.
Das Besondere des Artikels liegt also in der Seltenheit, mit der Informationen und persönliche Erfahrungen aus der einstigen Heimat herausgetragen wurden. Es ist zudem die Perspektive des Wissenden, desjenigen, der zwischen einst und jetzt vergleichen und Rückschlüsse auf die Entwicklungen in Reval gewähren kann. Für das Lesepublikum der BB ist dies ein nicht zu vernachlässigender Aspekt. Verg fuhr somit als Stellvertreter für all jene, die ihre Vergangenheit nicht losgelassen hatte und auch für jene jungen Deutschbalten, deren Familienvergangenheit zunehmend zur Geschichte wurde. Für diejenigen aber, die selbst eine Reise ins Baltikum perspektivisch andachten, bot der Beitrag nützliche Reiseinformationen. Und nicht zu vergessen sei schließlich auch die Gruppe derer, deren politische Abneigung des Kommunismus und des Sowjetstaates zum Lesen motivierte; sie fanden vor dem Hintergrund des aufkommenden Kalten Krieges in den Zeilen die Bestätigung ihrer politischen Position.
Verg wusste um diese all diese Interessenslagen. Er machte denen Mut, die reisen wollten, benannte die Konditionen, die Kosten und die Formalitäten, sowie auch die Limitierungen: die Vergabe der Touristenvisa in Moskau, der Reiseweg über Leningrad, die Kosten, die pro Tag bei 144 DM lagen bis hin zur Erwartungshaltung der Behörden vor Ort.
Auch betonte Verg seine Erfahrungen mit den Menschen vor Ort, die ihn mit Neugierde und Höflichkeit begegnet seien. Er sprach die Kriegsfurcht der Esten an, die in Adenauer einen Vertreter der „Ordensritter“ wiederzuerkennen glaubten. Der Grund, warum dieses Narrativ der jahrhundertelangen deutschen Herr- bzw. estnischen Knechtschaft weiterhin bestehe, sah Verg in der Informationsunfreiheit und Indoktrinierung im Sowjetsystem. Interessanterweise verfiel der Journalist in diesem Kontext zunehmend selbst in den deutschbaltischen Sprachduktus des 19. Jahrhunderts, wenn die Rede von der erfolgreichen „Russifizierung“ ist (S. 6). Weitere Spuren der Sowjetisierung zeigten sich Verg im Stadtbild, in der Umbenennung von Straßennamen sowie in der ethnischen Verschiebung von Bevölkerungsmehrheiten in den Sowjetrepubliken. Die positive wirtschaftliche Entwicklung Sowjetestlands in der sowjetischen Gesamtschau stellt ein weiteres, kurz angerissenes Thema dar. Der Beitrag endet mit der Ankündigung des Fortsetzungsartikels in der kommenden Ausgabe der BB.
Obgleich Verg den journalistischen Anspruch einer „objektive[n] Betrachtungsweise“ für sich reklamierte (S. 5), ist der Grundtenor des Beitrages durchaus wertend. Sein Bemühen um einen ausgewogenen Blickwinkel scheint allzu konstruiert. Seine Darstellung ist impulsiv, selektiv und getränkt von Betroffenheit. Mit dem häufig verwendeten Attribut „imposant“ umschrieb der Heimatsuchende überwältigende negative Erfahrungen. Alles in Allem legte Verg mit seinem Beitrag dem Lesepublikum der BB eine Vorlage und Bestätigung bestehender Ost-Narrative vor.
Erik Gunnar Verg: Wiedersehen mit der Heimat, in: Baltische Briefe 10 (168) v. Oktober 1962, S. 5-7.
Gesamte Quelle: Erik Gunnar Verg "Wiedersehen mit der Heimat"
1962 reiste der Journalist Erik Gunnar Verg in die Baltischen Sowjetrepubliken. Neben seinem beruflichen Auftrag hatte er die private Motivation, Kontakte zu Freunden aus seiner Schulzeit aufzunehmen. Anja Wilhelmi untersucht die Hintergründe für die Veröffentlichung der Reiseerfahrungen sowie die Berichterstattung selbst.
Analyse "Wiedersehen mit der Heimat" von Anja Wilhelmi
Zitierweise: Anja Wilhelmi: „Wiedersehen mit der Heimat“. Reiseerfahrungen von Erik Gunnar Verg, in: Katja Bernhardt, David Feest (Hrsg.): Begegnungen nach Plan, Lüneburg 2024, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:101:1-20220512116.