Reiseführer als Vehikel der Geschichtspolitik
Es gibt keine neutralen oder objektiven Reisehandbücher. Da sie zwischen Reisenden und Orten, zwischen Auge und Landschaft, zwischen Blick und Wissen vermitteln, stellen sie eine zutiefst subjektive Perspektive dar. Diese ist durch gezielte Herstellung von Zusammenhängen, bewusste Auslassungen und absichtsvolle Erwartungen geprägt. So gesehen bilden Reiseführer Kulturen ab und haben auch die Tendenz, diese Kulturen durch Hervorhebungen oder Streichungen selbst zu schaffen. In ihrer Orientierungsfunktion erheben Reiseführer gleichzeitig auch einen Anspruch auf Deutungshoheit und Deutungsmacht. Sie steuern die Wahrnehmung der Leserschaft, liefern Wissenselemente, setzen bestimmte Wissensbestandteile und Wahrnehmungsaspekte als relevant, sowie stellen Wertungen und Interpretationsrichtungen auf.
Eine besondere Brisanz bekommen dabei Reiseführer, deren Deutungshoheit und Subjektivität im Dienst einer forcierten Staatspolitik steht. Um programmatische Aussagen zu vermitteln, werden ihre Verfasser:innen und Verlage instrumentalisiert und zu Sprachrohren der Regierungspropaganda erhoben. Sie werden beauftragt, die Zuverlässigkeit und Aktualität eines Reiseführers politisch zu untermauern und somit auch ein gewünschtes Selbstbild zu befördern. Die Textsorte der Reiseführer als Vehikel für politische Agitation hat in der historischen Forschung, aber auch in vielen anderen Disziplinen, noch verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erfahren. Nahezu gänzlich fehlen einschlägige Untersuchungen der Reiseführer im ostmitteleuropäischen Raum zur Zeit des Kalten Krieges, obwohl gerade dieser Teil Europas hierfür ein überaus ergiebiges Beobachtungsfeld darstellt. Zugehörigkeit zum sogenannten „Ostblock“ bei gleichzeitiger kultureller Pluralität sowie häufig veränderte Grenzen haben hier höchst komplizierte beziehungsgeschichtliche Fundamente gelegt, die in den Reiseführern häufig geschichts- und erinnerungspolitisch verdrängt oder neuinterpretiert wurden. Diese zensierte Interpretation erfüllt eine instruierende Funktion, die hilft, das vermittelte Wissen in gezielt ausgewählte historische Kontexte zu stellen. Zu fragen wäre hier, welche (geschichts-)politisch definierten Determinationen die gelenkten Reisebücher propagierten? Wie die historischen Ambivalenzen darin verhandelt und nivelliert wurden? Inwiefern vermittelten sie idealisierte Selbstbilder und abwertende Fremdbilder?
Als Beispiel für die Erörterung dieser Fragen dienen polnische Reiseführer, die auf Deutsch in den 1970er und 1980er Jahren veröffentlicht wurden und häufig ehemals deutsche Regionen beschrieben. Drei thematische Schwerpunkte sind hierbei besonders erkennbar.
1. Antideutscher Widerstand
„Wiedergewonnene oder wiedererlangte Gebiete“ (polnisch: ziemie odzyskane) war ein offizieller Begriff, der von der kommunistischen Propaganda für die die ehemaligen deutschen Regionen verwendet wurde. Der Grund für die Bezeichnung „wiedergewonnen“ war das „Piasten-Konzept“, wonach diese Gebiete während der mittelalterlichen Piasten-Dynastie Teil eines polnischen Staates oder dessen Lehen gewesen wären. Im Zuge der deutschen Ostsiedlung und der politischen Expansion (Drang nach Osten) wurden sie jedoch germanisiert. Nach 1945 unternahm die kommunistische Regierungspropaganda große Anstrengungen, um die Auffassung des „Piasten-Konzepts“ zu etablieren und das ehemalige Schlesien oder Ostpreußen als historische Zentren des polnischen Kampfes gegen die deutsche Kolonisation darzustellen. Diese Widerstandsideologie wurde von der Tourismuspropaganda aktiv unterstützt und mitgetragen. Ein Blick in ein deutschsprachiges Reisebuch hinterlässt keinen Zweifel darüber, dass Słupsk (Stolp), Katowice (Kattowitz) oder Olsztyn (Allenstein) „alte polnische Territorien“ sind, in denen die polnischen oder slawischen Autochthonen der deutschen Invasion und Zerstörungswut Jahrhundertelang erfolgreich widerstanden. Gleich auf dem Deckblatt bekommt man häufig auch die Denkmäler zu sehen, die den polnischen Widerstand gegen Deutschland thematisieren. Die alten deutschen Städte- oder Straßennamen tauchen niemals auf. Die deutsche Vergangenheit der Städte und Regionen wird komplett verschwiegen oder als die Zeit der Okkupation charakterisiert.
2. Täter-Opfer-Aufteilung
Die antideutsche Widerstandsideologie knüpfte geschickt an das heroisch-nationale Selbstverständnis an und bestätigte damit die dominierende Meinung von der Einzigartigkeit der polnischen Opferrolle, besonders in der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Diese Opfer-Apotheose und Heroisierung der antideutschen Tat ließen dabei keine anderen Kriegsopfer zu. In den polnischen Reiseführer aus den 1970/80er Jahren wird dem Massakern an den Jud:innen daher keinen eigenen Stellenwert eingeräumt. Die propagandistische Aufteilung in polnische Opfer und deutsche Täter verhalf gleichzeitig die Deutschen zu den gefährlichsten Feinden auch nach 1945 zu stilisieren und damit die Anbindung an Sowjetrussland zu legitimieren. Aus diesem Grund werben viele deutschsprachige Reiseführer für den Besuch nationaler Gedenkstätten, insbesondere von Denkmälern, Friedhöfen und Kriegsgräbern, Stätten des nationalen Befreiungskampfes, Friedhöfen von Opfern des Naziterrors sowie Museen des Kampfes und des Märtyrertums. Gerade die deutschen Reisenden, die ihre alten Heimatorte in Polen nach dem Krieg besuchten und sich selbst als Opfer von Flucht und Vertreibungen verstanden, wurden dadurch auf jedem Schritt und Tritt mit dem polnischen Opferverständnis konfrontiert und immer wieder auf die deutsche Täterschaft hingewiesen. So gesehen vermittelten die Reiseführer den deutschen Tourist:innen einen bestimmten Verhaltenskodex: Sie sollen sich schuldig bekennen und Reue zeigen.
3. Feminisierung der Zukunft
Dominanz von Frauen-Abbildungen bei den fremdsprachigen Reiseführern ist besonders auffällig. Auf vielen Deckblättern sind junge, attraktive und lächelnde Frauen zu sehen, die entweder in traditionellen Trachten angekleidet, händehaltend oder in Gesprächen versunken ein dynamisches und fröhliches Gesamtbild vermitteln. Suggeriert wird ein selbstsicherer Blick auf die Vergangenheit und Vertrauen in die Zukunft. Die Botschaft der Gleichsetzung von Frau und Zukunft ist eindeutig: Die Volksrepublik Polen mit ihren sozialistischen Veränderungen und Neuorientierungen garantiert den Frauen beste Entwicklungsmöglichkeiten. Dank staatlicher Absicherung wird ihnen ökonomische und reproduktive Autonomie ermöglicht. Problemlos und lächelnd können sie den täglichen Spagat zwischen voller Berufstätigkeit, Haushalt, Kinderbetreuung und Familie bewältigen. Trotz der Last der mehrfachen Herausforderungen verlieren sie nichts an ihrer Weiblichkeit und Attraktivität. Kurzum: Polen sei ein Land der zufriedenen, jungen und attraktiven Frauen. Dass dadurch Frauen zum Sexobjekt degradiert und auf ihre körperlichen Reize reduziert wurden, bleibt dabei genauso ignoriert, wie die Tatsache, dass die Reiseführer ein stereotypes Frauenbild transportierten, das sie zum Objekt der männlichen (Reise-) Inspiration und Begierde stilisierte.
Krzysztof Wichrowski: Polen. Ein Reiseführer für junge Leute und alle, die sich jung fühlen, Warszawa: Verl. Interpress, 1980.
Roman Burzyński: Polen lädt ein: [Prospekt], Warszawa: Polnisches Zentrum für Touristenauskunft, [um 1970].
Jacek Maziarski: Polen lädt ein, Warszawa: Polnisches Zentrum für Touristenauskunft, [1980].
Ostseeküste: Polen, Warszawa: Verl. Sport i Turystyka, 1967.
Janina Rutkowska: Reiseführer Warschau und Umgebung, Warszawa: Verl. Sport i Turystyka, 31982.