Propaganda durch Information?
Begegnungen mit und ohne Plan in Berichten sowjetestnischer Reiseleiter:innen
Die Öffnung der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ESSR) gegenüber dem Massentourismus ab Ende der 1960er Jahre machte besonders Tallinn zu einem Zielort von Gruppenreisen. Die stetig steigende Zahl meist finnischer, häufig trinkfreudiger Gäste brachte dringend benötigte Devisen ins Land. Doch die neue Form des Austauschs konnte noch weitergehen. Sie öffnete auch den Weg für persönliche Begegnungen, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr möglich gewesen waren. Diese Möglichkeit nutzten besonders Menschen, die aus Estland stammten. Aber auch politische Überzeugungen, Weltoffenheit und Neugier konnten Reisende motivieren, aktiv Kontakt zur sowjetestnischen Bevölkerung zu suchen. Für die Sowjetmacht war dieses Interesse ein zweischneidiges Schwert. Die Möglichkeit, Menschen im direkten Austausch für sich gewinnen zu können, bot in Zeiten der Systemkonkurrenz eine attraktive Möglichkeit der politischen Einflussnahme. Die Tourismusfunktionäre sprachen von „Propaganda durch Information“. Doch die Gäste leisteten auch Widerrede, und manchmal äußerten sie Ansichten, die im sowjetischen System als unsagbar galten. Dafür, dass die Begegnungen trotzdem „nach Plan“ verliefen, waren auf unterster Ebene die in der Regel estnischen Reiseleiter:innen der staatlichen Reiseagentur „Inturist“ verantwortlich. Sie übernahmen das Dolmetschen und moderierten die Begegnung zwischen den ausländischen Gästen und der sowjetischen Wirklichkeit. Sie beantworteten Fragen, parierten Kritik am sozialistischen System und verteidigten die sowjetischen Auffassungen der Geschichte.
Die wiedergegebenen Quellen stammen aus monatlichen Dossiers, mit denen die Verwaltung für Auslandstourismus beim Ministerrat der ESSR das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Estlands darüber informierte, wie es um ihren Zuständigkeitsbereich bestellt war. Diese basierten wiederum unmittelbar auf den Berichten der Reiseführer:innen. In ihnen versuchte die „Verwaltung für Auslandstourismus“ ihren Vorgesetzten zu zeigen, dass die politischen Ziele des internationalen Tourismus – mit den erwartbaren kleinen Rückschlägen und Schwierigkeiten – zuverlässig und kompetent erreicht wurden. Die Begegnungen der Gäste mit dem sozialistischen System, so lautet ihre Hauptaussage, verlief nach Plan.
Die Quellenausschnitte zeigen, dass dies nicht immer funktionierte. Während das strikt konforme Verhalten der deutschbaltischen Reisegruppe im ersten Beispiel zumindest als voller Erfolg präsentiert werden konnte, geriet der Besuch einer US-Amerikanischen Gruppe für die Veranstalter zu einem Desaster. In beiden Fällen kann gefragt werden, wie zuverlässig die Informationen waren, die das ZK erreichten. Zwar haben stichprobenartige Vergleiche mit anderen Quellen gezeigt, dass die Berichterstatter in den Dossiers, zumal diese ja intern waren, nicht schlankweg logen. Aber sie konnten auch nur das berichten, was die Gäste ihnen sagten. Außerdem hatten sie ein Interesse daran, in den ihre Vorgesetzten besonders das wissen zu lassen, was sie selbst in einem guten Licht erscheinen ließ. Aus diesem Grund weisen die Berichte fast ausnahmslose eine eigenartige Dramaturgie auf: Gerne gaben sie Gespräche wieder, in denen die sie gegenüber den Gästen mit jenen Pfunden gewuchert hatte, die auch im Westen (aus sicherer Distanz) Anerkennung fanden: die erfolgreiche Renovierung der Altstadt, niedrige Wohnungspreise, freie Schulbildung und ein kostenloses Gesundheitswesen. Aber auch der souveräne Umgang mit Konflikten, die schon aufgrund der ideologisch vorgesehenen Klassengegensätze fast unvermeidbar erschienen, hatte einen festen Platz in den Berichten. Diese Auseinandersetzungen konnten richtig zur Sache gehen: Neben Mäkeleien über die mangelhaften Konsumgüter in den Supermärkten oder das offensichtliche Müllproblem sprachen besonders finnische Tourist:innen wiederholt die Unfreiheit des estnischen Volkes und den erzwungenen Beitritt Estlands zur UdSSR an. Gerade angesichts des 30. Jahrestag dieses Ereignisses war dies ein empfindlicher Vorwurf. Auf der anderen Seite gaben solche Äußerungen den Reiseleiter:innen die Möglichkeit, ihr propagandistisches Geschick zu beweisen. Die Berichte sind voller Geschichten, in denen die Reiseleitung sich brüstete, die Mehrheit der Reisegruppe durch gut eingeübte Belehrungen auf ihre Seite gezogen zu haben. Wenn sich dann unter den Gästen noch jemand fand, der von den schweren Lebensbedingungen im Westen erzählte oder sich kritisch über den Vietnamkrieg äußerte, dann ließ sich die Episode als Sieg des Gastgebers darstellen. Ja, der Störenfried hatte der Dramaturgie des Berichts sogar einen Dienst erwiesen, indem er die Leistung der Reiseleitung am Ende umso heller erstrahlen ließ.
Was in dieser ideologisch geprägten Dramaturgie allerdings keinen Platz hatte, waren Faktoren, die das Verhalten der Besucher:innen mehrdeutig machten: höfliche Zurückhaltung zum Beispiel, eigensinnige Auseinandersetzungen mit dem sowjetischen System, oder auch strategische Erwägungen. Die Beschreibung der deutschbaltischen Reisegruppe bietet Raum für Vermutungen, wie diese Leerstellen in der Interpretation zu füllen seien. Sie eignen sich besonders als Beispiel, weil die Unsicherheit auf beiden Seiten besonders groß war: Der Sowjetmacht galten Gäste mit persönlichen Bindungen zu Bewohner:innen des Landes grundsätzlich als gefährlich, da sie sich der kontrollierten Begegnung häufig entzogen. Aber auch für die Gäste ging es um viel. Die Möglichkeit, wieder in das Land reisen zu können, das sie rund 30 Jahre zuvor im Rahmen der „Umsiedlung“ verlassen hatten, war für sie kurz zuvor noch ein ferner Traum gewesen. Umso mehr waren in deutschbaltischen Kreisen Befürchtungen weit verbreitet, wegen der Beteiligung am deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion nicht ins Land gelassen oder sogar verhaftet zu werden (siehe auch den Beitrag von Anja Wilhelmi). Die fast streberhaft anmutende Konformität der Reisegruppe war somit kaum ein Ausweis für einen Erfolg der „Propaganda durch Information“, sondern könnte sich ebenso aus dem Wunsch erklären, möglichst unter dem Radar zu bleiben, um die privat geplanten Begegnungen mit alten Bekannten nicht zu gefährden. Die Informationen, die zum ZK gelangten, waren somit gleich doppelt gefiltert: durch die Logik der Leistungsschau, der sich die Berichtenden unterwarfen ebenso, wie durch die Kommunikationsstrategien der Besucher:innen.
Konkurrierende Vorstellungen davon, wie Begegnungen aussehen sollten, gab es auch im zweiten Fallbeispiel. Das Citizen Exchange Corps, dem die Besucher angehörten, war eine 1962 noch unter anderem Namen gegründete US-Amerikanische Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die US-Sowjetischen Beziehungen durch engere persönliche Kontakte zu verbessern. Dabei gingen sie völlig anders vor als die deutschbaltische Gruppe. Wo diese der Reiseleitung stets signalisierte, dass sie ihre Definitionshoheit nicht anzutasten gedachte, entzogen sich die Amerikaner vom ersten Moment an allen Versuchen, dem Besuch einen sowjetischen Rahmen zu geben. In politischen Diskussionen leisteten sie Widerrede. Und anstatt die offizielle Leistungsschau zu würdigen, machten sie sich einzeln auf die Suche nach eigenen Erlebnissen und Kontakten jenseits der „Inturist-Welt“. Am Ende markierte eine privat organisierte Yachtfahrt in der Tallinner Bucht den vollständigen Kontrollverlust der Tourismus-Behörden. Hier gab es für den Berichterstatter nichts mehr schönzureden, ihm blieb nichts übrig, als das Scheitern der Kommunikation zu konstatieren. Für solche Fälle waren andere Einrichtungen zuständig: nicht zuletzt das KGB, das erheblichen Zweifel an der „Propaganda durch Information“ hatte und in dem wachsenden Massentourismus nach Tallinn hauptsächlich ein Einfalltor für westliche Geheimdienste sah (vergleiche auch den Beitrag von Dönninghaus/Tauber).
Übersetzung aus dem Russischen. Original: Spravki o prebyvanii inostrannych turistov v ĖSSR i o poezdke delegatsij i otdel'nych lic za rubež. [Berichte über den Aufenthalt von Touristen in der ESSR und über Reisen von Delegationen und einzelnen Personen ins Ausland], Eesti Riigiarhiivi Filiaal [Filiale des Estnischen Staatsarchivs] (ERAF), 18.2.1970–7.12.1970, Bl. 58f., 63f.
Berichte über den Aufenthalt von Touristen in der ESSR und über
Reisen von Delegationen und einzelnen Personen ins Ausland,
18.2.1970–7.12.1970
Bericht über den Aufenthalt von Touristen in der Estnischen SSR im Zeitraum vom 16.–31. August 1970
[Bl.58] Vom 16. bis 20. August befand sich eine Gruppe von Touristen aus der BRD (Intra-204-03) in Tallinn, hauptsächlich Deutschbalten. Im Gespräch mit dem Stadtführer/Übersetzer Gen. Kivi sagten diese Touristen, sie würden die Stadt nicht wiedererkennen, so sehr habe sie sich verändert und so sehr sei sie gewachsen. Ihrer Meinung nach sei Tallinn noch schöner geworden als früher. Die Touristen interessierten sich für die materiellen Bedingungen unserer Arbeiter und für das Bildungssystem. Sie fragten, ob die Lehre an unseren Schulen auf Estnisch durchgeführt werde, und ob die Kirchen geöffnet seien. Als sie über ihr Leben erzählten, sagten die Touristen, dass viele von ihnen als Lehrer, Krankenschwestern oder Sekretärinnen in unterschiedlichen Einrichtungen arbeiteten. Die Lebensbedingungen nach dem Krieg seien sehr schwer gewesen. Nun habe sich ihre Lage verbessert, aber sie müssten viel arbeiten, um durchzukommen, da die Steuern sehr hoch seien. Einzelne Touristen sagten, dass viele Deutschbalten sich hüteten, in die Estnische SSR zu fahren, da sie Angst hätten, verhaftet zu werden. Gen. Kivi erklärte den Touristen, dass nur Kriegsverbrecher Repressionen zu befürchten haben. Dabei brachte er eine Reihe von Fakten über den Besuch der ESSR durch Touristen aus der BRD vor. Mit ihrer Reise nach Estland waren die Touristen sehr zufrieden. Einige von ihnen trafen sich in Tallinn mit ihren Verwandten und Bekannten. Vor ihrer Abfahrt erklärten die Touristen dem Reiseführer, dass sie nach ihrer Rückkehr in die BRD erzählen würden, wie gut sie aufgenommen wurden, und dass sie ihren Bekannten empfehlen würden, die Estnische SSR zu besuchen.
[…]
Bericht über den Aufenthalt von ausländischen Touristen in der Estnischen SSR im Zeitraum vom 1.–15. September 1970
[Bl. 63] Vom 2. bis 6. September befand sich in Tallinn eine Gruppe von Mitgliedern des amerikanischen Citizen Exchange Corps, insgesamt 28 Menschen. Die Gruppe bestand aus Studenten und Lehrern unterschiedlicher höheren Bildungseinrichtungen der USA. Nach Tallinn kamen die amerikanischen Touristen aus Leningrad, und nach ihrem Aufenthalt in Estland fuhren sie nach Riga. Zwei Gruppen mit Mitgliedern dieses Corps haben die ESSR bereits im Jahr 1969 besucht.
Wie schon beim letzten Durchgang taten sich die amerikanischen Touristen durch ihre Disziplinlosigkeit hervor. Viele von ihnen vermieden das vorgesehene Programm und nutzten diese Zeit dafür, in die Stadt zu gehen und Zufallsbekanntschaften mit sowjetischen Menschen zu schließen. So verstreute sich beispielsweise normalerweise während der Exkursion eine Hälfte der Gruppe in der Stadt. Den Besuch der Ausstellung „Industrie in Estland – 70“ verweigerten alle Touristen. Viele Touristen besaßen Adressen in Tallinn wohnender sowjetischer Bürger, die sie offenbar von Teilnehmern des Korpus erhalten haben, die im letzten Jahr hierher gefahren sind, und sie versuchten auch, neue zu bekommen, besonders während ihres Aufenthalts im Tallinner Klub der Sprachen, wo für sie ein Treffen mit Mitgliedern der Sektion für die Englische Sprache organisiert worden war. Während der Gespräche mit Mitgliedern des Klubs, schenkten die Teilnehmer des Corps ihnen Bücher, die sie bei sich geführt hatten, die eindeutig die amerikanische Lebensweise überhöhten. Seine persönlichen Kontakte ausnutzend organisierte der Leiter der Gruppe, Pendill, ohne die Abteilung „Inturist“ zu informieren, am 5. Dezember am Abend über den Yachtclub von Pirita eine Yachtfahrt für einige Teilnehmer seiner [Bl. 64] Gruppe. Durch genau welchen Yachtclub dies organisiert wurde und wem die Yacht gehörte, ist der Abteilung nicht bekannt.
Während ihres Aufenthalts in Tallinn zeigten die Mitglieder des Corps kein großes Interesse an den Sehenswürdigkeiten der Stadt und interessierten sich im Gespräch mit dem Stadtführer/Übersetzer Gen. Koik kaum für die Lebensbedingungen unserer Arbeiter. Eine ebensolche passive Haltung zur sowjetischen Wirklichkeit zeigten die Touristen bei einem Treffen mit Studenten des Tallinner politechnischen Instituts sowie bei einem Empfang in der Akademie der Wissenschaften der ESSR. Dagegen ließen einige von ihnen antisowjetische Unwahrheiten verlauten.
So erklärte zum Beispiel der Leiter der Gruppe Pendill, der, nach eigenen Worten, mehrfach die Sowjetunion mit Mitgliedern des Corps besucht hat, im Gespräch mit dem Reiseleiter/Übersetzer Gen. Koik, dass er und angeblich auch andere Mitglieder des Corps Estland nicht als Sowjetrepublik ansehen. Ihrer Meinung nach sollte Estland ein „freies“ Land sein. Das Gruppenmitglied Hoffmann, der angeblich Studenten die Geschichte der UdSSR beibringt, äußerte sich im Gespräch mit dem Stadtführer feindlich über den staatlichen Aufbau der Sowjetunion und über die Kollektivierung der Landwirtschaft. Er sagte, er bemitleide die Esten, die „gezwungen“ seien, unter solchen Bedingungen hier zu leben. Gen. Koik gab solchen antisowjetischen Äußerungen eine gebührende Abfuhr.
Der stellvertretende Leiter der Gruppe, Carl Kossok, propagierte die Aufgaben des Citizen Exchange Corps, indem er dem Stadtführer erzählte, die Hauptaufgabe der Mitglieder des Corps bestünde in einer Annäherung an Menschen unterschiedlicher politischer Ansichten, um mit gemeinsamer Anstrengung für den Frieden auf der ganzen Welt zu kämpfen. Koik bemerkte darauf, dass nach dem Verhalten und den Äußerungen der Mitglieder der Gruppe zu urteilen nicht ersichtlich sei, ob das Corps dies wirklich erreiche.
Der Beitrag behandelt zwei Reisegruppen, die 1970 die Estnische Sowjetrepublik besuchten. Sie hätten unterschiedlicher kaum sein können: Mitglieder des Amerikanischen »Citizen Exchange Corps’« sabotierten das offizielle Besuchsprogramm und brachen politische Diskussionen vom Zaun. Dagegen reagierte eine deutschbaltische Gruppe vordergründig viel positiver auf die sowjetische Selbstdarstellung und kommunizierte einvernehmlich mit der Reiseleitung. Und doch hatten beide Gruppen ähnliche Ziele: Sie wollten persönliche Kontakte pflegen und aufbauen.
Analyse "Propaganda durch Information?" von David Feest
Zitierweise: David Feest: Propaganda durch Information? Begegnungen mit und ohne Plan in Berichten der sowjetestnischen »Verwaltung für Auslandstourismus«, in: Katja Bernhardt, David Feest (Hrsg.): Begegnungen nach Plan, Lüneburg 2024,