Affäre Werner:
Touristen aus dem Westen in der UdSSR in den frühen 1960er Jahren
Auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise, die 1961 durch den Mauerbau ausgelöst worden war, beschloss ein Ehepaar aus Karlsruhe, einen Urlaub in der UdSSR zu verbringen. Nachdem mit Hilfe des Kölner Reisebüros „Osttourist“ alle Formalitäten erledigt worden waren, fuhren Adolf und Hermine Werner mit ihrem VW Käfer über München, Wien, Budapest an die Schwarzmeerküste Rumäniens, wo sie am 18. August im Hafen von Constanţa an Bord des sowjetischen Dampfers „Latvija“ gingen. Schon am nächsten Tag spazierten Adolf und Hermine in Odesa die Uferpromenade entlang. Die nächsten zwei Wochen wollte das Paar in der Sowjetukraine verbringen: die erste Woche auf der Krim in Jalta und die zweite mit ihrem Auto auf der vorab genehmigten Route Simferopol’ – Zaporižžja – Charkiv – Kyïv – Žytomyr. Anfang September sollten die Werners dann das sowjetische Territorium über den Grenzübergang bei der Stadt Černivci verlassen (Abb. 1).
Trotz des starken Anstiegs der Zahl ausländischer Touristen, die die Sowjetunion, darunter auch die Sowjetukraine, besuchten, blieb der Autotourismus in den frühen 1960er Jahren noch eine sehr seltene Art zu reisen. Der Grund dafür war, dass die sowjetische Regierung das Reisen von Ausländern auf Autobahnen ohne Begleitung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der sowjetischen Reiseagentur »Inturist« erst zu Beginn des Jahres 1960, also kurz vor der Ankunft der Werners in der UdSSR, genehmigt hatte. Nach dem entsprechenden Beschluss des Ministerrats der UdSSR (Nr. 3512 rs vom 16. Dezember 1959) und auf Grundlage der Anordnung des KGB der UdSSR vom 13. Januar 1960 traf die KGB-Verwaltung der Ukrainischen Sowjetrepublik in Erwartung einer großen Zahl ausländischer Autotouristen eine Reihe von Maßnahmen und führte Schulungen mit dem Ziel durch, die Kontrolle und lückenlose Überwachung auf den Straßen der Republik sicherzustellen. So fand im Februar 1960 in L’viv (Lemberg) eine Tagung über die Besonderheiten der Organisation der Spionageabwehrarbeit unter westlichen Autotouristen statt, auf der die Möglichkeiten der „Unterdrückung ihrer feindseligen Aktivitäten“ besprochen wurden (Die nachstehenden Zitate in diesem Absatz sind dem Tagungsbericht entnommen). Die KGB-Angehörigen vor Ort erhielten die Aufgabe, die mit dem Autotourismus verbundenen Sicherheitsrisiken – z.B. ein mögliches Ausspionieren von „wichtigen militärischen und industriellen Einrichtungen“ entlang genehmigter Routen oder das Betreten gesperrter Gebiete – zu analysieren. Darüber hinaus sollten KGB-Gebietsverwaltungen „systematisch Personen identifizieren, die in Ortschaften nahe der Autobahnen leben und die Absichten zeigen, Kontakte zu Ausländern […] aufzubauen.“ Gegen solche potenziellen Kontaktaufnahmen sollten speziell geschulte Verkehrspolizisten helfen, aber vor allem Agenten und Vertrauensmänner, die nun besonders aktiv entlang der freigegebenen Verkehrswege anzuwerben seien.
Im Mai 1961 führte das KGB der Ukraine auf der für Ausländer neu geöffneten Autobahn Kyïv – Černivci sogar spezielle Übung durch. Damit sollte die Bereitschaft der örtlichen KGB-Verwaltungen geprüft werden, eine kontinuierliche Überwachung ausländischer Autotouristen zu organisieren. Drei Mitarbeiter der Kyïver KGB-Zentrale fuhren im Auto Richtung Grenze und gaben sich als getarnte ,westdeutsche Geheimdienstmitarbeiter‘ aus, während die lokale Spionageabwehr diese ,Touristen‘ schnell zu identifizieren und zu überwachen hatte.
Das Verhalten von Adolf und Hermine Werner erweckte bei den sowjetischen Behörden bereits in den ersten Tagen ihres Aufenthalts auf der Krim einen Spionageverdacht. Adolf wurde wiederholt beim Fotografieren an verbotenen Orten (z.B. die Küstenlinien in Odesa und Sevastopol’) gesehen, und während einer Autofahrt auf der Krim wurde das Paar dabei erwischt, als sie von der erlaubten Route abwichen. So standen die Eheleute Werner von den ersten Urlaubstagen an unter ständiger Überwachung durch das KGB, dessen Mitarbeiter ihre neu erworbenen Fertigkeiten nun auch in die Praxis umsetzen konnten. Der Spionageverdacht wurde bald bestätigt, nachdem die Agenten in den Besitz von Reisenotizen gelangten, die auf dem Gelände eines Campingplatzes im Gebiet Zaporižžja zurückgelassen worden waren. Die Werners zeigten darüber hinaus ein großes Interesse für militärische Konvois und wurden immer wieder beim Fotografieren militärischer Einrichtungen beobachtet. Schließlich inszenierte das KGB auf der Route Militärübungen, sodass das Ehepaar am 2. September, während es die Bewegung sowjetischer Panzer beobachtete, von Mitarbeitern des Kyïver Militärbezirks festgenommen wurde. Bei der Durchsuchung wurden bei ihnen Fotofilme und Reiseberichte beschlagnahmt, die mit unsichtbarer Tinte geschrieben worden waren (Abb. 2). Während der Ermittlungen gaben die Werners zu, für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Auf seiner Sitzung am 28.–29. November 1961 sprach das Kyïver Militärgericht beide der Spionage schuldig und verurteilte Adolf Werner zu 15 und Hermine Werner zu sieben Jahren Haft. Dieses Urteil war das zweite innerhalb kurzer Zeit, das gegen westdeutsche Autotouristen gefällt wurde. Wenige Tage zuvor hatte das Oberste Gericht der UdSSR in Moskau zwei Studenten aus Heidelberg, Peter Sonntag und Walter Naumann, wegen ähnlicher Beschuldigungen zu jeweils zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Die behördlichen Korrespondenzen im Fall des Ehepaars Werner und in einigen anderen Fällen verdeutlichen, dass die sowjetische Führung trotz offensichtlich nicht unbegründeter Spionagevorwürfe keine Einschränkungen für den westlichen Tourismus in Betracht zog. Im Gegenteil, die aktive Entwicklung der touristischen Infrastruktur der Ukrainischen SSR in den 1960er und 1970er Jahren spricht dafür, dass der Tourismus aus dem westlichen Ausland von der Führung in Moskau nach wie vor als wichtige Wirtschafts- und Imageressource angesehen wurde. Die aktive flächendeckende Spionageabwehrtätigkeit des KGB unter (Auto)Touristen aus westlichen Ländern sollte vielmehr die Sinnlosigkeit der Spionage unter dem Deckmantel des Tourismus demonstrieren und westliche Geheimdienste dazu bringen, solche Aktivitäten einzustellen.
Der Kalte Krieg war schon immer ein entscheidender Faktor für die Entwicklung des ausländischen Tourismus in der Sowjetunion. Im „Fall Werner“ waren die Auswirkungen der West-Ost-Konfrontation, die sich in der Berlin-Krise zuspitzte, umso mehr zu spüren. Die Verurteilung westdeutscher Staatsbürger wegen Spionagevorwürfen bot den sowjetischen Behörden eine willkommene Gelegenheit, öffentlich ein unansehnliches Bild der Bundesrepublik Deutschland zu zeichnen. Und die Biografie, die Adolf Werner vorzuweisen hatte, war bestens dafür geeignet, Stereotypen über das ,revanchistische Regime in Bonn‘ zu bekräftigen. Einst Besitzer eines kleinen Geschäfts in den Sudeten mit Verwandtschaft in den USA und NSDAP-Mitglied seit 1940, hatte Werner als Soldat der Waffen-SS an der Ostfront genau in den Gegenden gekämpft, die er im Urlaub 1961 bereisen wollte. Seine Spionageaktivitäten wurden daher sehr schnell mit seinem Kampf gegen die Sowjetunion und gegen die Menschen in der Ukraine während des Krieges in Verbindung gesetzt. Mit Blick auf diese Vergangenheit stellte der Staatsanwalt Adolf Werner nicht nur als blindes Werkzeug in den Händen seiner ,amerikanischen Herren‘, sondern ebenso als erfahrenen und gefährlichen Verbrecher dar und überzeugte das Militärgericht, gegen ihn – anders als gegen die Heidelberger Studenten – die Höchststrafe zu verhängen (Abb. 3).
Während die Verlautbarung des sowjetischen Außenministeriums im Fall Werner gegenüber den USA sehr hart ausfiel, signalisierte die Tonlage der an Bonn gerichteten Mitteilungen eine Einladung zu Verhandlungen (Quelle: „Verurteilung der Studenten Peter Sonntag und Walter Naumann und des Ehepaares Werner durch sowjetische Militärgerichte“). Diese Möglichkeit ergriff die Bundesregierung schnell, sodass das Ehepaar Werner bereits im Mai 1962 im Rahmen eines Austauschs von sowjetischen und bundesdeutschen Spionen in seine Heimat zurückkehren konnte.
Übersetzung des vorletzten Absatzes (aus dem Ukrainischen) des Artikels:
S. Narbut: „Gespenster aus dem SS-Sumpf“ aus der Zeitung „Večirnij Kyïv“ vom 27. November 1961, Staatliches Behördenarchiv des Sicherheitsdienstes der Ukraine (ukr.: Haluzevyj Deržavnyj archiv Služby Bezpeky Ukraïny), HDA SBU 1/1/1442, Bd. 3.
„In der schmutzigen Geschichte der Werner-Spione zeigt sich einmal mehr das hässliche Gesicht der amerikanischen Kriegstreiber aus nächster Nähe. In ihrem Hass auf die Menschheit greifen sie zum letzten Mittel: Sie verbünden sich mit dem revanchistischen Geist Hitlers. Schauen Sie: Der Bonner Kanzler fühlt sich im Übersee wie zu Hause und fordert dort Atomwaffen. Derweil regieren die Johnsons [Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes, der Adolf W. angeworben hatte, trug angeblich den Namen Johnson – D. M.] den Bonner Staat, als wäre er ihr eigenes Lehen. Im schmutzigen SS-Sumpf jagen sie nach Spionagematerial, und mit den Händen des Nazi-Pöbels wollen sie die Menschheit in den Abgrund einer neuen Katastrophe stürzen…“
Über den ‚Fall Werner‘ wurde auch in der bundesdeutschen Presse informiert:
„Ehepaar Werner und zwei Studenten wegen Spionage in der Sowjetunion zu Zwangsarbeit verurteilt“,
SWR Retro - Abendschau vom 1. Dezember 1961 [Zugriff: 20.06.2024].
[Gerhard] Schröder (Bundesminister des Auswärtigen): Schreiben an den Präsidenten des Deutschen Bundestages in Beantwortung der kleine Anfrage der Fraktion der SPD betreffend:
„Verurteilung der Studenten Peter Sonntag und Walter Naumann und des Ehepaares Werner durch sowjetische Militärgerichte“,
vom 20. Dezember 1961, Deutscher Bundestag, Drucksache IV/106 [Zugriff: 20.06.2024].
Online-Ausstellung:
„Detained foreign intelligence officers and their equipment seized by the KGB”,